𝟎𝟕 | 𝐇𝐄𝐅𝐓
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• C A N A N •
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Im Klub lege ich in der Ecke meine Tasche ab, ehe Rojyar auf mich zukommt, nachdem seine Schüler in deren Umkleide verschwinden, doch als ich die Faust hebe wie bei jeder unserer Begrüßung, zeichnet er mir ein ,Hallo' in der Gebärdensprache vor.
Überrascht und erschrocken zugleich sinkt meine Faust und ich trete einen Schritt zurück. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen und aufgerissenen Augen lege ich den Kopf schief. Kurz davor die gesammelten Tränen in den Augen ihren freien Lauf zulassen, es erfüllt mein Herz.
Er weiß nicht, was er tut oder wie er mich fühlen lassen hat mit seiner Geste.
Was tut er? Er stellt eine Hand vor, sodass man den Handrücken sieht, und fängt an mit der anderen dessen Fingerspitzen drüber zu streichen — er entschuldigt sich auf der Gebärdensprache. Aber wofür? Ist es weil er denkt, es sei seine Schuld, dass ich mich erschreckt habe und kurz vor dem Weinen stehe? Ich meine, es ist zwar seine Schuld gewesen, aber im positiven Sinne. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich mal so richtig mit jemanden mit den Gesten kommuniziert habe.
Ich weiß nicht mal genau, was ich denken soll, da formt er: ,Wie geht es dir?' Aber es sind eher die Worte: ,Fühlst du dich gut?'
Wie es mir geht? Ob ich mich gut fühle? Ich- Immer noch wirr und dennoch einem breiten Lächeln hebe ich ein Daumen hoch. Genau da weiß er nicht weiter, er kratzt sich am Hinterkopf, unwissend was als nächstes folgen soll, und ich muss lachen und versuche wirklich hart, es zu unterdrücken.
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Außer Atem stemme ich mir die Hände an die Hüfte im Ring und schaue zu ihm herab.
Während einer Übung hat er kurz aufgehört und holt nun ein Heft aus seiner Tasche, welches er aufschlagt und es sanft auf dem Boden fallen lässt. Lernt er etwa? Muss er etwas auswendig können? Aber für was? Und warum jetzt? Dabei habe ich gedacht, er braucht eine Pause, aufgrund seines Atemproblems. Aber jetzt will ich auch lernen, was auch immer er lernt.
Doch dann fängt er an die Übung zum wiederholten vorzuführen, und zeichnet von Buchstabe zu Buchstabe vor, wie man es schreibt und wie sie genannt wird.
Den ersten Kick, den ich kennengelernt habe, ist der Frontkick gewesen, welcher mir Rojyar aufgeschrieben hat, aber jetzt... Jetzt bewegt er seine Hände und Finger dazu.
S-I-D-E-K-I-C-K.
Ergibt schon Sinn. Hätte wirklich jeder draufkommen können, und dann komme ich...
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Nach unserem Training frage ich ihn, ob er jetzt schon nach Hause will, doch er versteht mich nicht. Er ist noch nicht so weit, also hole ich mein Handy hervor und schreibe meine Frage auf, ehe ich es vor ihm hinhalte.
Seine Antwort ist ein einfaches Kopfschütteln.
Wieder schreibe ich eine Frage. ,Wohin dann?' Es sollte mich nicht interessieren, aber es tut es trotzdem, weil ich jetzt zum Friedhof gehen möchte, ich will nicht alleine hin, oder um ehrlich zu sein, ich kann nicht alleine hin. Und das obwohl wir beide nach Schweiß stinken, denn sowie Rojyar dusche ich mich nicht im Boxing-Klub.
,Zum Friedhof.'
,Nimm mich mit.' Auf unserem Weg zu seiner Mutter und meiner Tante schreibe ich meiner Schwester eine kurze Nachricht, dass ich mich vermutlich eine Stunde verspäten würde.
Erst als Rojyar neben mir geht, wird mir wieder klar wie groß und breit er eigentlich ist, dass es mich sogar etwas einschüchtert. Bestimmt mehr als nur ein Kopf ist er größer als ich, dabei bin ich stolze Eins-neunundsechzig. So muskulös er doch ist, könnte er bestimmt viel als Bodyguard oder Polizisten verdienen, Jobs in dem Bereich Sicherheit würden zu ihm passen. Aber ich weiß nicht, was er eigentlich tut, noch wie alt er ist. Das wahrscheinlich Einzige, das ich über ich weiß, ist sein Name. Rojyar.
In meinem Kopf klingt es komisch kompliziert, ich habe keine Ahnung, ob ich es überhaupt im Kopf richtig ausspreche. Aber ich habe nach seinem Namen gegoogelt, um rauszufinden, ob es irgendeine Bedeutung hat. Google hat gemeint, dass nur ,Roj' eine Bedeutung hat, aber ,yar' einfach nur dazusetzt.
Roj ist kurdisch und bedeutet Tag oder Sonne. Und seit dem Ergebnis frage ich mich, ob er Kurde ist. Aber es ist doch sicher, denn er besitzt einen kurdischen Namen sowie ich einen türkischen.
Dank meiner Naivität ist natürlich auch die Frage durch meinen Kopf geschlichen, ob er auch nach meinen Namen recherchiert hat wie ich nach seinem.
Ich will mehr über ihn wissen. An dem Tag, an dem wir uns zufälligerweise am selben Ort getroffen haben, hat er mir erzählt, seine Mutter hätte eine Krankheit gehabt haben, durch die sie gestorben sei, da dafür keine Heilung gefunden wurde.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein Wollen bekomme, liegt bei null Prozent. Denn sogar an unserem regnerischen Tag hat er mir das Gefühl gegeben, er wolle nicht einmal mit mir über seine Mutter sprechen wollen, als wolle er nichts von sich preisgeben wollen.
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• R O J Y A R •
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Angekommen merke ich, dass es eine falsche Entscheidung gewesen ist, Canan zu sagen, ich komme hierher. Am Stehen vor ihrem Grab kommt mir wieder die Erinnerung des Tages, als ich ihre Hand gehalten habe, ihr zugeflüstert habe, sie solle mich bloß nicht verlassen, bekam von ihr zugleich zugeflüstert, wie sehr sie mich liebe.
Durch ein Seufzen versuche ich keine Träne auftauchen zulassen, diesen Globusgefühl zu überwinden, aber mir das Atmen deswegen schlechter fällt.
Auf ihren vollen Namen sehe ich, doch sehe sie gleich vor mir stehen. In voller Form. Meine Mutter.
Aber ich glaube daran, dass das ihre Erleichterung ist. Jetzt ist sie an einem viel besseren Ort. An einem Platz, wo sie nie wieder leiden wird. An einem Platz, wo sie geschützt w̶i̶r̶d̶, ist. Von Xwedê geschützt ist.
In einer Welt, die nur für sie geschafen sein sollte, weil sie es wirklich verdient. Niemand wäre bereit ein Kind großzuziehen, welches durch einer Vergewaltigung entstanden ist.
Ich habe so viele Stimmen im Kopf, die nicht stummen wollen, ich muss mich da durch kämpfen.
Also Canan, es tut mir leid, wenn ich mich so verhalten sollte, ich bräuchte niemanden — was ich auch tue, außer Den über mir —, denn ich musste meine dunkelsten Zeiten allein durchstehen. Das Einzige, was ich nebenbei versucht habe, ist zu Xwedê zu beten. Ihn Fragen gestellt, auf Antworten gehofft.
Ich entschuldige mich in meinen Gedanken bei ihr. Wie behindert. Aber dennoch gibt sie mir das Gefühl, ich brauche mich für nichts zu entschuldigen.
Wegen des Täters wollte ich sogar beim Klub als Trainer kündigen. Es war der Tag, wo ich Canan als Schülerin bekommen habe. Durch ihr arbeite ich noch dort. Sonst wären meine jetzigen Plätze nur die Uni, das Krankenhaus, bei meiner Mutter und zu Hause.
Nach unseren Gebeten bringe ich sie nach Hause, bevor ich mich auf dem Heimweg begehe.
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mal ein etwas längeres kapitel als sonst, bin so stolz auf mich, wow...
wegen dem bild, ich habe es getauscht, also bei dem einen kapitel, wo ich benutzt hatte, steht ein anderes. (but nobody cares, so)
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