𝟎𝟗 | 𝐍𝐄𝐇
•
„Tu dizanî ez çiqas ji te hez dikim?" [Weißt du, wie sehr ich dich liebe?], flüstert er mir in dieser Nacht ins Ohr raunend.
Ich sage nichts dazu. Gebe keinen Mucks von mir und er gibt nicht nach.
Wie auch immer.
„Jîyan"
Ich erschaudere. Wie jedes Mal, wenn er meinen Namen auf seiner Zunge spielen lässt.
Jetzt hatte ich einen weiteren Grund, um auf dieser Dunya bei diesem Mann und der Familie zu bleiben.
Rojyar.
Ich hatte vor ihm nach meinem Tod gefleht, dafür gebetet, sehnte mich danach. Und jetzt ist er hier.
Ich würde ihm so gern ein besseres Leben ermöglichen, aber wie, wenn selbst ich ─ seine Mutter ─ nicht einmal dieses Haus verlassen kann. Ich darf nicht.
Zustimmend nicke ich ihm. „D─" Meine Stimme bricht. Es fühlt sich so zerquetscht, so voll in meinem Herzen an, dass es sich bis hin in meinem Hals verstaut, was zu diesem fetten, verknoteten Knobel verursacht. „Doch, doch"
Das Einzige, was ich gerade vermisse, ist mein Mutter. Ich kann sie nicht hassen. Niemals. Sie ist und bleibt meine Mutter. Meine Mama. Diya min.
Ich wünschte, ich könnte sie glücklich machen, sie irgendwie stolz auf mich werden lassen. Alles hatte ich gegeben, nur um ein „Ev keça min e." [Das ist meine Tochter.] von ihr zu Ohren zubekommen.
Sollte es auch nur ein Lächeln sein, es würde mir genügen.
Ich schwöre, mehr wollte ich nicht. Sie war die erste Frau in meinem Leben. Sollte sie nicht mein Vorbild sein? Warum wollte ich dann nicht so sein, wie sie zu mir war, wie sie sich mir gegenüber gezeigt hat, wie sie sich nur mir gegenüber verhalten hat, wie sie ihre Kinder alle unterschiedlich behandelt hat?
———
„LOS! UNTERSCHREIB ES!"
Es ist der Ehevertrag. Der Vertrag, welches dazu bestimmte, mich mit meinem Cousin ─ väterlicherseits, auch der ältere Enkel ─ als verheiratete zu sehen.
Jeder will uns als Paar. Selbst er. Aber für mich ist er nicht weiteres als nur ein Cousin, den ich mal als einen weiteren älteren Bruder kennengelernt habe an dem Abend.
Er ist ein Schläger. Boxer — Kickboxer, um genauer zu sein. Er trainiert bei einem Klub, welches gleich um die Ecke von hier ist.
Er ist der Beste. Man spricht sehr viel über seinen Erfolg, vergleicht ihn sogar mit dem berühmten professionellen Kickboxer, Dennis Alexio. Manche meinen sogar, er sei besser. Manche aber vergleichen ihn mit Alexio, weil er ihm etwas ähnelt. Nur ohne diesen Schnurrbart und dass er jünger ist und viel jünger aussieht. Man sagt sich aber auch, er würde genauso aussehen, wenn er älter wird.
Mit jungem Alter wurde er sogar zum Coach, und nicht nur für die Anfänger.
Die Erwachsenen loben ihn für seine Talente. Selbst Fremde.
Er ist der Beste der Besten.
Ich bin einmal bei einem seiner Kämpfe dabei gewesen. Na ja, er hatte uns als Familie gebeten, ihm zuzuschauen. Aber ich habe gewusst, es war wegen mir. Ich war nicht blind.
Kaum hat sein Kampf angefangen und ich habe mir die Augen mit meinen Handflächen zugedeckt. Später habe ich sie abgenommen, als die Zuschauer so laut angefangen haben zu jubeln, dass es etwas an meiner Neugier nagte ─ weshalb ich schließlich mir ein Guckloch davor bildete.
Der Kampf hatte nicht mehr als fünf Minute angefangen und schon lag sein Gegner beinahe Tod am Boden. Blutend.
Ich will diesen Vertrag nicht unterschreiben. Ich will nicht jemanden heiraten, der besessen von mir ist. Ich will nicht jemanden heiraten, den ich nicht einmal liebe. Ich will nicht jemanden heiraten, mit dem ich gezwungen werde, es ohne Liebe zu tun.
Mein Vater merkt dies, legt seine warm feste Hand auf meine, welche den Kugelschreiber hält, und drückt so fest auf die linierte Stelle des Papiers.
Mit der anderen Hand packt er von hinten nach meinen dicken, offenen schwarzen Haaren und zieht so fest danach zurück, so fest gegen seine Brust, ehe er mit solch einer lauten Stimme mir ins Ohr schreit.
Nicht ich unterschrieb danach, sondern er.
Meine Mutter, seine Eltern und er schauen uns dabei geduldig zu, während mein Vater nicht einmal das Wort kennt. Noch nie davon zu Ohren bekommen hat.
———
Mit rasendem Herzen werde ich durch einen Schreck vom Albtraum erweckt, als er mich noch näher zu sich zieht. Angst davor, dass die Nacht sich wiederholt.
Jede Nacht tauchen diese alten Erinnerungen auf, die mich so in sich auffressen.
Ich will nur, dass es stoppt. Weshalb kann ich nicht wie die Menschen da draußen in der Freiheit leben? Warum wurde mir dieses Leben, diesen Leid zugeschrieben?
Aber ich konnte mir auch nicht wirklich einen normalen Alltag vorstellen ─ nicht, wenn ich mich darin befinde. Manchmal zerfrisst mich mein Leben, alles läuft schnell ab, sodass ich nicht wirklich mitkommen kann, um mich daran später zu gewöhnen.
Früher hatte ich mich gerne zwischen den Seiten der Bücher versteckt, versuchte es. Na ja, ich tauchte immerhin unter. In deren Welt. Aber ich konnte ein Buch nicht weniger als eine Woche beenden, weil ich kaum Zeit hatte, überhaupt eins anzufangen. Ich las nur, wenn ich mal für mich alleine war ─ was so Gute eins bis zwei Stunden waren und sehr selten konnten es auch drei werden.
Vor der Geburt von Rojyar wollte ich noch einmal damit anfangen und habe seinen Vater darum gebeten mir eins mitzubringen, aber er holte mir stattdessen ein Kochbuch.
Damals fühlte ich mich bei meinen Eltern wie Cinderella und hoffte wirklich, eines Tages würde noch mein Prinz Charming auftauchen, was nicht passiert ist. Doch heute bin ich wohl eher Rapunzel, die das Haus nicht verlassen darf, ─ nur, dass ich ebenso die Hoffnung nach Flynn Rider nicht habe.
All meine Hoffnungen sind verblast.
Aber ich weiß, ich würde jedem Einzelnen vergeben, sollte ich in den Tod stürzen. Auch, wenn sie mich alle wie ein Stück von Dreck behandelt haben und nicht einmal mir für meine Fehler verziehen, sondern zugeschlagen haben, würde ich ihnen verzeihen.
Das klingt zwar bescheuert, so absurd, dass ich mich dabei so naiv fühle.
Rojyar.
Er schläft nachts kaum, sondern schreit viel lieber nach Aufmerksamkeit. Nach jemandem, der ihn in seinen Armen für eine sehr lange Zeit hält. Sowie diese Nacht einer zu diesen Nächten mitzählt.
Jede Nacht bleiben wir gemeinsam wach bis hin zum Morgengebet. Währenddessen erzähle ich ihm von meiner Schulzeit. Und nur von der Schulzeit, da sie viel harmloser war als mein Leben zu Hause, das Leben jetzt, das Leben vor Deutschland. Aber sehr wenig, denn ich habe noch immer Angst, er könnte mich mit seinen sechs Monaten schon verstehen.
„Ich werde nach ihm schauen", kündige ich an. Zu meiner Überraschung lässt er von mir. Er nimmt mir einen schweren Arm ab, die um mich noch lag und lässt mich gehen, wofür ich ihm wirklich dankbar bin.
Langsam steige ich vom Bett und schleife mich zu ihm in seinem Zimmer, das gleich nebenan ist.
Vom Bett trage ich ihn langsam auf und schlendere mit ihm in den Armen zum Sessel, ehe ich mich darauf niederlasse. Mit einer grauen Decke versuche ich uns gemeinsam zu decken, um vor allem ihn warm zu halten.
„Weißt du, ich hatte in meiner Schulzeit keine echten Freunde, die wirklich zu mir standen. Sie haben zwar immer wieder gefragt, was ich da am Auge habe, aber... ich wusste nicht, wie ich antworten soll. Es war mir unangenehm.", flüstere ich in die Leere.
Es machte mich unsicher. Es drängte mich in die dunkelste Ecke. In die dunklere Ecke. Aber das konnte unmöglich meinem Baby verraten. Nicht meinem Baby, niemals meinem Baby.
Nach einer nicht so weit entfernten Zeit werden seine Schreie lautlos, und er hört aufmerksam mit weit offenen Augen zu, während Tränen sich von meinen Augen verabschieden und mir schließlich über die Wangen rollen.
„Ez ji te hez dikim, Rojyar." [Ich liebe dich, Rojyar.], flüstere ich ihm die drei Worte, die mir meine Mutter nie gesagt hatte, ─ für sie nichts bedeuteten ─ als er in den tiefen Schlaf fällt, sowie ich mit ihm.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top