𝟎𝟒 | 𝐂̧𝐀𝐑
Es ist nicht zu überhören, wie er von draußen die Tür abschließt. Ich bin es gewöhnt, es ist ja nichts neues.
Doch dann wird sie wieder aufgeschlossen, als ich mich gerade auf den Weg zur Küche mache. Hat er was vergessen? Was hat er vergessen?
Und dann höre ich lachende Stimmen, glückliche, viel zu oft gehörte, bekannte Stimmen. Er ist nicht allein.
„Wo ist denn meine Tochter?" Dayê? Meine Mutter ist hier mit dem Rest der Familie? Selbst mein Vater? Sofort drehe ich mich wieder um, nur um wieder ihre Gesichter zu sehe, die mich früher noch anspuckten.
Zum ersten Mal habe ich sie wirklich vermisst, auch wenn sie der Grund waren, weswegen ich mit diesem Teufel vor ihnen verheiratet bin.
Und schon wurde mir wieder übel. Mit verzogenem Gesicht laufe ich mit schnellen Schritten auf die Toilette zu und übergebe mich. Ich ekel mich von mir selbst.
„Jîyan!", höre ich die Stimme m̶e̶i̶n̶e̶r̶ ̶M̶u̶t̶t̶e̶r besorgt, wesen Schritte sich mir nähern.
Das letzte Mal, als ich sie sah, war der Tag der Hochzeit. Mein Hochzeitstag. Mit einem Teufel, den sie mehr mögen als ihre eigene biologische Tochter. Ihre Tochter, die ihr Blut in sich trägt. Aber das interessiert sie nicht. Das hat es auch nie.
Sofort hebe ich ihr die Hand streckend hoch, um sie zu bitten sich mir nicht noch mehr zu nähern, und doch tut sie es. Sie sammelt meine Haare auf und hebt sie mir überm Kopf.
„Keça min, was hast du?" [Meine Tochter] Seit wann sorgt sie sich um mich? Wann war das letzte Mal, dass sie je so nach mir rief? Ich weiß es nicht mehr, es ist so lange her. So lange, dass mir diese Wörter fremd sind. Weshalb sind sie überhaupt hier? Wieso nach so langem tauchen sie wieder auf, oder hat vielleicht deren Schwiegersohn die Nachricht schon rumverbreitet?
Ich stehe vom kühlen schwarzem Marmorboden auf und wasche mein Gesicht, sowie meinen Mund mit kaltem Wasser am Waschbecken spüle.
„Jîyan!" Seine Stimme. Seine Stimme, die mich schon in meinen Albträumen verfolgen, hört sich auf einmal richtig ängstlich an. Ängstlich, wie als würde er die Angst haben, die sich sorgen macht. S̶o̶r̶g̶e̶n̶ ̶u̶m̶ ̶m̶i̶c̶h̶. Angst davor, dass ich mich verletzt habe, mir etwas zugestoßen ist.
Diese verstellte Stimme.
Vor jedem tut er ein auf diesen wunderschönen Engel, der schönste Engel, den Allāh SWT. je erschaffen hat, je kreiert wurde. Aber das ist er nicht und war es nicht. Niemals. Nein, er ist nicht der Engel, für den er sich ausgibt. Er ist der gefallene.
Der gefallene Engel.
Doch wie könnte ich ihn hassen, wenn er von unserem Schöpfer geschaffen wurde? Er ist eine weitere Kunst von Allāh SWT.
„Was hast du?" Höre ich richtig? Wann war ich noch zuletzt beim Hausarzt? Ich glaub ich muss jetzt auch einen Termin beim Ohrenar─
„Das wird leider zur Gewohnheit werden müssen", versucht er seine Schwiegermutter zu beruhigen.
„Was?"
„Sie ist schwanger.", klärt er sie auf. Sie wussten es also nicht? Wieso sind sie sonst hier? Warum tauchen sie denn sonst nach Jahren auf? Mein Kopf explodiert gleich von diesen ganzen Gedanken.
„Entschuldige. Was wollt ihr trinken?", versuche ich das Thema zu ändern und laufe in die Küche, sie aber direkt hinter mir her. Ich will nicht darüber sprechen, dass ich gerade wirklich etwas lebendiges in mir trage. Vor allem, weil es genau auch von ihm ist. Eine weitere Erschaffung meines Schöpfers.
„Lass mich dir helfen." Ich kann ihr nicht richtig ins Gesicht blicken. Ich habe sie nicht überdeckt, versuche es aber mit meinen Haaren. Die Flecken─ Alles. Ich schäme mich, traue mich nicht. Ihr Besuch... Sie kamen ohne Bescheid gesagt zu haben. Sowas kam nie vor. Nie.
„Alles gut. Ich werde meiner Frau helfen. Bitte, gesell du dich zu den anderen im Wohnzimmer. Wir kommen nach."
M̶e̶i̶n̶e̶ ̶F̶r̶a̶u̶.̶
̶M̶e̶i̶n̶e̶ ̶F̶r̶a̶u̶.̶
̶M̶e̶i̶n̶e̶ ̶F̶r̶a̶u̶.̶
̶M̶e̶i̶n̶e̶ ̶F̶r̶a̶u̶.̶
̶M̶e̶i̶n̶e̶ ̶F̶r̶a̶u̶.̶
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein!
„Ich wusste, dass sie bei dir in Sicherheit sein wird.", sagt seine Schwiegermutter noch erfreut erleichtert, bevor sie die Küche verlässt.
Geh nicht, bitte. Geh nicht, Dayê.
Ich bin mit dem Rücken zu ihm gedreht, ich will nicht in seine furchteinflößenden Augen dreinschauen. Ich weiß, was er mir anweisen wird, wie immer.
Er stellt seine beiden Hände an der Platte um mich ab, umzingelt mich, und ich bleibe wie ich bin. Traue es mir nicht zu, mich zu ihm umzudrehen.
Seinen linke Gesichtshälfte drückt er gegen meine rechte. „Du weißt, was zu tun ist, oder, Dilê?", raunt er ernst bedrohlich, und noch dieser Kosename. Sofort nicke ich. „Geh, ich erledige." Und ich tue direkt das, was er mir zum Befehl erteilt.
Schnell laufe ich die Treppen zu unserem Schlafzimmer hoch und schließe die Tür hinter mir, als ich sie betrete. Vor dem Schminktisch decke ich alle lilablauen Flecken ab und die neuen Blutergüsse, die letztens Dank ihm entstanden sind, ebenso ─ auch wenn es schmerzt, unterdrücke ich es.
Ich bin es gewohnt. Es ist ja nicht so, als würde das alles zum ersten Mal passieren. Ich bin es gewohnt, dass es für mich schon zum Alltag wurde, es ist.
„Jîyan ist schwanger.", berichtet meine Mutter den anderen, hält den Augenkontakt aber mit mir, bis ich mich neben meinem Ehemann gesetzt habe. Er nimmt meine Hand und zieht sanft an diese, um mich ihm zu näheren.
Als ich in die Runde umblicke, erkenne ich beinahe niemanden mehr. Außer das Gesicht m̶e̶i̶n̶e̶s̶ ̶V̶a̶t̶e̶r̶s̶. Wie könnte ich ihn denn auch vergessen? Selbst in meinem Träumen verfolgt er mich. Seinen Mund, der so gerne mich ein Wort nach dem Anderen beleidigten. Seine Hände, die sehnsüchtig nur darauf warteten mich zu berühren, um mich zu verletzten oder an meinen Haaren zuziehen, genauso wie seine Füße, mit denen er mich trat. Seine Augen die nur ein Ziel vor sich hatten. Jetzt hat er dieses Ziel seinem Schwiegersohn vorgestellt.
Noch bin ich dank seinem Schwiegersohn nicht im Krankenhaus gelandet, u̶n̶d̶ ̶t̶r̶o̶t̶z̶d̶e̶m̶ ̶m̶ö̶c̶h̶t̶e̶ ̶i̶c̶h̶ ̶z̶u̶r̶ü̶c̶k̶ ̶z̶u̶ ̶m̶e̶i̶n̶e̶r̶ ̶F̶a̶m̶i̶l̶i̶e.
Ich wundere mich wirklich, was ich tat, dass ich das verdient habe. Wie kann man bloß einem kleinen Kind wehtun, so verletzen, dass es sich den Tod mit dem Alter wünscht? Ich kann es bis heute nicht vergessen und könnte es auch nicht. Ich würde ihm aber vergeben, auch wenn nur dank ihm diese Albträume gestartet haben, auch wenn ich dank ihm in einem lebe und das schon von klein auf, auch wenn er derjenige war, der mich in eine tiefe Dunkelheit geschupst und fallen lassen hat, in dem ich nicht mehr raus kann, sondern immer weiter falle, und das danke ich seinem Schwiegersohn.
Ich würde ihnen allen vergeben. Wenn Allah jedem seine Sünden vergibt, nach einem reuevollen Gebet, wer bin dann ich, wenn ich es nicht tue? Er ist mein Vater. Sie ist meine Mutter. Sie sind meine Geschwister. Wir sind aus demselben Blut.
Meine zu Eis gefrorene Finger kneten sich vor Nervosität gegenseitig, bis sie sich wärmen und es sich verschwitzt anfühlt. Mein Herz schlägt schneller und schneller und schneller.
Als ich auf die Uhr an der Wand blicke, merke ich, wie spät es eigentlich ist. Nicht mehr lange und schon wird irgendwann das vierte Gebet des Tages sein und ich habe nicht einmal das dritte gebetet. Wenn ich es verpassen sollte, könnte ich heute Nacht kein Auge zu bekommen.
Wie haben es die Leute, die es nicht verpassen oder noch nachbeten können?
„Endlich, und ich dachte ich werde noch sterben, bevor man Opa nach mir ruft." Einerseits will ich nichts dagegen haben, aber andererseits möchte ich nicht, dass mein Kind ihn Opa nennt oder die Eltern ̶s̶e̶i̶n̶e̶s̶ ̶o̶d̶e̶r̶ ̶i̶h̶r̶e̶s̶ ̶V̶a̶t̶e̶r̶s Opa und Oma nach ihnen rufen. Zittrig kommt der gestockte Atem kühl aus der Nase.
Ich will nicht, dass mein Kind diese Menschen kennenlernt.
Ich und m̶e̶i̶n̶ ̶V̶a̶t̶e̶r halten seit dem diesen Augenkontakt. Seine Augen haben sich kaum verändert, haben immer noch dieselbe Aura. Diese dunkle Aura. Während ich versuche mit meinen um Hilfe zu bitten, zu flehen. Ignoriert er es? Genießt er es? Ich weiß nicht.
Jeder kommuniziert hier mit jedem, lachen gemeinsam über irgendetwas, während ich mit meinem Vater diesen Kontakt halte. Das erste Mal. Nach Jahren. Nach Jahren blicken wir uns gegenseitig in die Augen, aber dieses Mal sind seine ohne jegliche Emotion, nicht wie früher.
Ihn stört es. Es stört ihn, dass ich seine Tochter bin. Allein meine Existenz hat damals als Grund gereicht, uns in streiten zu verwickeln, und gegenseitig hassen.
Bis heute noch frage ich mich selbst, weshalb. Was habe ich getan? W̶a̶r̶u̶m̶ ̶e̶r̶m̶o̶r̶d̶e̶t̶ ̶m̶i̶c̶h̶ ̶k̶e̶i̶n̶e̶r̶,̶ ̶w̶e̶n̶n̶ ̶i̶c̶h̶ ̶d̶o̶c̶h̶ ̶s̶o̶ ̶n̶u̶t̶z̶l̶o̶s̶ ̶b̶i̶n̶?
Sofort kneife ich die Augen fest zusammen.
أَسْتَغْفِرُ اللّٰهَ
[ʾAstaġfiru -llāh, Ich bitte Allāh um Vergebung.]
Verzeihe mir für diese Gedanken. Diese Gedanken, die Dank deiner weiteren Kreierungen entstehen. So bitte, verzeihe auch ihnen. ─Amin.
„Alles in Ordnung, Juju?", höre ich Razans besorgte Stimme, die etwas tiefer klingt als damals, besorgter klingt als damals.
Früher war sie nicht so, keiner war früher so. Selbst Baran ist reifer geworden und unterhält sich mit den Erwachsenen.
„Erê, erê. A─ alles gut."
„Scheint aber nicht so.", kommt nun Baran zu Wort. Ihnen kümmert es, wie es mir geht?
„Sie ist ja nur schwanger, vielleicht sind das nur die Hormone ihrer Schwangerschaft, oder, Dilê?"
Mein Kopf ist ausgeschaltet, wie der Rest meines beinahe leblosen Körpers. Ich sehe nur noch schwarz. Bin ich tot? Ist es vielleicht soweit?
Ich versuche mit blinzelnden Augen, die Sicht vor mir schärfer zu erstellen. „Ja, kann sein. Mir wurde nur kurz schwarz vors Auge. Aber geht wieder."
Razan steht vom Platz auf. „Ich hole dir ein Glas Wasser.", sagt sie noch, bevor aus meinem Blickfeld verschwindet.
Ist das alles nur Einbildung? Ist das alles nur ein Traum? Oder geschieht es nur weil ich Schwanger bin? Nur weil ich das Kind dieses Mannes neben mir trage?
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