𝟎𝟖 | 𝐇𝐄𝐒̧𝐓
Seitdem ich meinen Sohn zur Welt brachte, bekommen wir fast täglich nur Besucher, sowie heute vielleicht auch einer der Tage sein wird. Ich hoffe es, ich bete dafür.
Seit seiner Geburt leide ich mehr. Ich spüre Schmerzen, die aber diese Male nicht von ihm sind.
Und sein Geburtstag war erst ein Monat her. Ein Monat und elf Tage, um genauer zu sein.
Manche blieben sogar bis zum nächsten Morgen, was hieß, dass sie die Nacht überbleiben. Ich war ihnen so dankbar. Vor allem meiner Mutter und Schwester, nachdem sie erfahren haben, was im Kreissaal geschah.
Denn wenn wir immer Gäste bekommen, so hatte er nicht wirklich die Möglichkeit mir etwas anzutun. Aber zurzeit ist es mir egal, was mit mir geschieht oder noch geschehen wird.
Jetzt ist mein Sohn wichtig. Um ihn habe ich nun Angst. Angst davor, was alles auf ihn zukommen wird. Angst davor, was sein Vater mit ihm vorhat oder vorhaben wird. A̶n̶g̶s̶t̶ ̶d̶a̶v̶o̶r̶,̶ ̶d̶a̶s̶s̶ ̶e̶r̶ ̶a̶u̶c̶h̶ ̶s̶o̶ ̶w̶i̶r̶d̶.̶
Ich habe nach ein paar Denkweisen über mein jetziges Leben, welches nur die Hölle sein kann, beschlossen nichts zu tun. Weder noch einmal fliehen noch schreien und mich wehren. Ich muss es akzeptieren, denn ich habe es verdient.
Das ist meine gerechte Strafe. Ich akzeptiere jede Strafe, selbst wenn ich dafür durch die Hölle muss, nur um diese Religion auszuleben.
Während Eziden in ihrer eigenen Heimat — auf ihrem Grund und Boden — angegriffen, missbraucht, gefoltert, gerötet, die Frauen vergewaltigt werden, verkauft und die Kinder von ihren eigenen Familien getrennt werden, nur weil sie nicht dieselbe Religion und dieselbe Sprache wie die IS haben, lebe ich hier als eine Konvertierte zu deren Religion.
Ich war ein weiteres Opfer...
Sie vergewaltigten die Töchter vor den Augen der Elter. Sie ließen die Kinder vor den Augen der Eltern in der Hölle brennen.
Ich war ein weiteres Opfer...
Und das auch umgekehrt.
Die IS sind keine Muslime. Während sie denken, dass wenn sie auf dieser Erde jeden auslöschen, der nicht zu ihrer Religion angehört, ist es die größte Sünde im Islam.
Sie zeichnen auf ihrer schwarzen Flagge die Shahada, aber begehen die größten Sünden vor ihrem Schöpfer. Vor ihrem Gott.
Ich habe noch nie jemanden in die Hölle gewünscht, denn das ist eine Sache zwischen ihnen und ihren Schöpfer, aber ihnen─ Ihnen wünsche ich nur die brennende, fackelnde Hölle.
„Sie hat es geschafft.", sagt er plötzlich aus dem Nichts, und lässt mich leicht aufschrecken. „Lavin hat es geschafft. Nach mehr als neun Jahren wird sie in ein paar Stunden landen."
Lavin ist seine Cousine. Mütterlicherseits. Jeder hatte die Hoffnung verloren, dass sie es überlebt hat. Dass sie überhaupt noch am Leben war. Jeder, außer mein Ehemann und ihre Familie. „Ez zanî bûm!" [Ich wusste es!], sagt er und steht vom Esstisch auf.
Er hat nicht einmal sein Essen anrühren können, als die Nachricht ihn erreicht hat.
„Yallah, here xwe hazir bike. Jeder ist am Flughafen, wir fahren auch dahin." [Los, geh dich bereit machen.], sagt er wieder monoton und gefühllos wie immer, als er zu mir herabsieht, nachdem er aufsteht. „Aber beeil dich. Ich will nicht lange warten."
„Dieses Mal brauche ich aber lange. Wegen Rojyar und ich mich noch hier aufr─" Und wieder werde ich unterbrochen.
„Ez xwe dubare nakim." [Ich wiederhole mich nicht.] Seine Worte klingen wie eine Drohung, weshalb ich sofort aufstehe und zu unserem Schlafzimmer die Treppen schnell aufsteige, um meinen friedlich schlafenden Sohn als erstes zum Wetter passend kleide.
Von Lavin habe ich vieles zu Ohren bekommen, doch nie hat mir jemand ein Bild von ihr gezeigt.
Ich weiß nicht weshalb, aber ich habe so ein schlechtes Gefühl bei dem Ganzen. Das jedoch ist mir egal. Soll kommen, was Gott für mich geplant hat. Ich vertraue ihm und ich weiß, dass Er davon Bescheid weiß.
Das Einzige, worauf ich mich jetzt freue, ist, dass ich nach langem wieder mal aus dem Haus darf. Aus dem Käfig.
Nach einem Monat und elf Tagen kann ich endlich die frische Luft von draußen einatmen.
Der Fahrweg von Haus bis zum Flughafen dauert sehr lange. Ich weiß nicht wie lange noch, aber ich weiß, dass wir schon über siebenundvierzig Minuten fahren.
Ich habe angefangen jede Sekunde aufzuzählen, seit er losgefahren ist.
Nach genau vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden hat er das Auto nach langer Suche an einem freien Parkplatz geparkt.
Er schnallt sich ab. Ich tue es ihm nach und greife daraufhin nach meinem Baby und steige mit ihm in den Armen aus.
Einen Kinderwagen habe ich nicht für ihn, aber dafür die Babytrage, die ich in schnellen Zügen an mich binde und ihn hineinsetze.
Ich bin aufgeregt. Mein Herz schlägt vor Freude für diese Frau und ihre Familie.
Jedoch stelle ich mir immer wieder die Fragen; Was ist mit ihr passiert? Was wurde mit ihr angestellt? Wie hat sie es überlebt? Wie hat sie es aus ihren dreckigen Händen rausgeschafft?
Doch die wichtigste Frage; Wie geht es ihr? Wie geht es ihr nach der ganzen Sache? Denn das hier ist bestimmt keine einfache.
„Gib mir Rojyar" Verwundert blicke ich ihn an. „Los!" Ich zögere nicht lange, entbinde mich von der Babytrage und überreiche sie ihm samt u̶n̶s̶e̶r̶e̶m̶ ̶S̶o̶h̶n̶ ungewollt.
„Keça min!", ruft die Mutter nach einer jungen kurzhaarigen Frau, die sofort mit feuchten Augen zu uns überblickt und wie eine Rakete auf uns zu rennt mit ihren Koffern.
Sofort wird sie in die Arme genommen. So, so, so fest in die Arme ihrer Mutter genommen. War es so schwer, Mama? War es so schwer, mich in den Armen zunehmen und sich zu entschuldigen? War es für sie einfacher, nur zuzusehen, wie ihre eigene Tochter aus ihrem Fleisch und Blut in der Hölle brennen zu sehen? Nach Hilfe rufen hören, die meine Augen schrien und noch schreien?
Niemals werde ich zulassen, dass Rojyar sich so fühlen wird. Aber kann ich auch verhindern, dass er jedes Problem seiner Eltern nicht zu Gesicht bekommt?
Die Hölle seiner Mutter? Seiner Mama?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top