Das Wunder des 20. Jahrhunderts

„Mrs. Evans, gut, dass sie da sind. Ihr Mann ist ein wenig unruhig gewesen, wir mussten ihn sedieren. Wir haben noch ein paar Extra- Tests durchgeführt, nun ja, die Studenten sind eben sehr wißbegierig", begrüßte der junge Arzt sie lächelnd.

Annemarie verzog den Mund. Jeff mochte es sowieso schon nicht, das Haus zu verlassen und gegen Krankenhäuser hatte er eine regelrechte Phobie! Was ja nur verständlich war. Doch das Schlimmste waren diese unersättlichen Ärzte und Studenten, die ihn als medizinisches Wunder des 20. Jahrhunderts sahen und sich mit Doktorarbeiten über ihn profilieren wollten. Sie nickte.

„Ich fahre im Krankenwagen mit. Er wird ruhiger, wenn ich dabei bin", entgegnete sie und folgte dem Arzt in ein Krankenzimmer. Natürlich lag Jeff dort ganz allein. Sie ging langsam auf das Bett zu. Sein Anblick machte ihr nichts mehr aus, sie sah ihn vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, seit sieben langen Jahren.

Sein Zustand war das Ergebnis einer Heldentat in der Normandie gewesen, als der damals erst einundzwanzigjährige Jeffrey Evans seine Kameraden aus einer schier ausweglosen Lage gerettet hatte und dabei selbst von einer Tretmine erfasst worden war. Ja, als Annemarie ihn nach dem Unglück zum ersten Mal gesehen hatte, war es schrecklich gewesen. Sie war ohnmächtig geworden und auf den kalten Krankenhausboden aufgeschlagen. Als sie mit einer Kopfwunde wieder aufgewacht war, hatte sie zuerst angenommen, sie hätte es sich eingebildet. Doch dann hatte man sie wieder zu Jeff gebracht. Sie hatte gerufen: „Das ist nicht mein Mann! Sie müssen sich irren!"

Die Ärzte hatten ihr den Leberfleck neben seinem Bauchnabel gezeigt. Er war kaum zu erkennen, doch anscheinend hatten die Flammen an dieser Stelle nicht  soviel Schaden angerichtet, wie an seinem übrigen Körper. Das, was von Jeffrey Evans' Körper übrig geblieben war. Jeff hatte keine Beine mehr. Keine Arme. Sein Torso war übersät mit Brandnarben. Doch sein Gesicht war am Schlimmsten anzusehen. Sein Unterkiefer fehlte, man hatte zwar versucht, ihn zu rekonstruieren, doch das fremde Gewebe war abgestorben. So hatte man das Loch so gut es ging zugenäht. Jeff wurde durch einen Schlauch im Magen ernährt und er hatte einen Luftröhrenschnitt, durch den man regelmäßig den Schleim aus seinen Lungen absaugen musste. Meistens trug er eine Maske über dem unteren Teil des Gesichtes, denn er war einfach nicht schön anzusehen. Seine Netzhaut war verbrannt, sodass er blind war. Doch er konnte noch ein bisschen hören, das hatte Annemarie selbst herausgefunden. Zuerst hatten die Ärzte angenommen, dass Jeff auch seine kognitiven Fähigkeiten verloren hätte, doch dann begann er, als Antwort auf Annemarie's Fragen mit dem Kopf zu wackeln. Und irgendwann auch von selbst.  Sie saß nächtelang an seinem Bett und hatte überlegt, was er ihr sagen wollte- bis ein Kamerad von ihm ins Krankenhaus kam und sein Nicken als Morsezeichen erkannte.

Nun, dass er es überhaupt so lange geschafft hatte, zu überleben, war irgendwie schon ein Wunder. Die Ärzte hatten Annemarie damals jeden Tag gesagt, dass ihr Mann den nächsten Tag nicht überstehen würde. Und so war sie nicht von seiner Seite gewichen. Hatte gebetet, ihm vorgelesen, ihm gesagt, wie sehr sie ihn lieben würde und dass sie ihm unendlich dankbar sei, dass er sie geheiratet und ihr ein schönes Zuhause gegeben hatte. Natürlich hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie es gehasst hatte, ihre todkranke Schwiegermutter zu pflegen, die immer so gemein zu ihr gewesen war. "Krautflittchen" hatte sie sie gerufen. Ruth Evans war gestorben, kurz nachdem Jeff in die Normandie eingezogen worden war. Nun, Jeff war noch nicht gestorben, ganze sieben Jahre lang nicht. Annemarie hatte ihn nach einem Jahr im Krankenhaus mit heim nehmen dürfen, sie war gut ausgebildet worden, ihn zu pflegen und die medizinischen Geräte zu bedienen. Die Farm hatten sie von seinen Eltern geerbt, doch außer dieser gab es kein weiteres Vermögen und so mussten sie von Jeff's Invalidenrente leben. Die medizinische Versorgung war teuer und sie konnten es sich nur leisten, weil Jeff regelmäßig im Krankenhaus zu Forschungszwecken vorgestellt wurde. So bekamen sie das Allerneuste vom Markt und mussten sich keine Gedanken um die Kosten der medizinischen Versorgung machen. Dass es ein Pakt mit dem Teufel war, war Annemarie klar. Sie wußte, dass Jeff sich quälte- er hatte sie oft gebeten, ihn zu töten. Sie beherrschte das Morsealphabet mittlerweile wie ihre Muttersprache.

Die Träger brachten den ruhig gestellten Jeffrey in das Haus, das weit vor den Toren Jupiters lag. Zum Glück, sonst würden die Nachbarn ständig etwas zu gaffen haben! Jeff wurde ins Bett gelegt und Anne gab den Männern noch etwas Trinkgeld. Das Geld, das sie eigentlich dem jungen Mann zahlen wollte...wie war sein Name noch gewesen? Plötzlich fiel ihr die nasse Unterhose ein und sie lief auf die Toilette. Doch nichts, kein Tropfen Blut war zu sehen. Die Flüssigkeit kam ihr jedoch merkwürdig vor. Nicht, dass sie krank wäre? Das wäre das Schlimmste, was ihr passieren konnte! Nein, sie musste für Jeff dasein. 

In guten und in schlechten Tagen, so hatte sie es ihm versprochen und würde es auch halten!

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