86. Wie ein Rettungsboot
Lily
Mit mulmigen Gefühl im Magen entschied ich mich schlussendlich doch dazu aus meinem Bett, in welchem mittlerweile Ann und Hest schliefen, zu steigen und ins Wohnzimmer zu gehen. Es wäre eine glatte Lüge wenn ich behaupten würde, ich würde nicht mehr trauern. Ebenso falsch wäre es zu sagen, dieser Tag wäre einfach gewesen. Denn das war er nicht. Nein, stattdessen hatte mich alles wieder eingeholt. Meine Kindheit, Erlebnisse und Freuden. Und das nur wegen meines Elternhauses, welches schon heute kaum noch als dieses zu erkennen gewesen war. Petunia hatte sich die Freiheit genommen und so gut wie alles wegschaffen lassen. Lediglich mein Zimmer war noch übrig gewesen. Und die Schmuckkiste meiner Mutter. Wie gern hätte ich doch andere Dinge mitgenommen. Sie wenigstens ein letztes Mal gesehen, angefasst und alles Revue passieren lassen. Doch diese Chance wurde mir genommen.
Und dann der Mädelsabend. Ich liebte meine Freundinnen und sie hatten mich wirklich auf andere Gedanken bringen können. Doch schafften sie es nicht im Schlaf. Dort vermochte es niemand zu schaffen. Allein in dieser Nacht war ich schon drei mal schweißgebadet aufgewacht. Und zwar nur, weil ich meine Eltern enttäuscht in ihrem leeren Haus gesehen hatte. Etwas so banales. Und doch trieb es mich die Nacht um halb vier zu James ins Wohnzimmer.
Sich in die Kissen unserer schmalen Couch gedrückt lag er dort und schlief wohl die ruhigste Nacht bisher. Wieder einmal überkam mich eine Welle der Schuld. Ich hatte ihn kaum beachtet. Hatte ihm keine Liebe geschenkt, ihm nicht das zurückgeben, was ich bekommen hatte. Und zudem stand ich nun hier, vor seinem schlafenden Körper und hatte Schuldgefühle, ihn aufzuwecken oder mich zu ihm zu legen. Er hatte diesen ruhigen und tiefen Schlaf verdient. Doch ich schien ihm auch diese Chance zu verwehren. Nur wusste ich wirklich nicht, wie ich mich besser fühlen konnte. Das einzige was ich wollte waren seine Arme um mir. Seine lieben Worte an meinem Ohr und seine bloße Nähe, die mir zeigte, dass ich wirklich nicht allein war. Im inneren wusste ich das alles, mein Gehirn signalisierte mir seit Tagen, dass meine Eltern nur tot waren, es alle anderen aber noch gab. Doch schien mein Herz, dieses bedrückende Gefühl um es herum, ganz anders zu sehen. Die enge, die mir jedes Mal die Atmung raubte und mich glauben ließ, selbst nicht mehr im Leben zu stehen. Eine enge, die selbst dann noch zunahm, wenn ich daran dachte wie scheußlich ich James gegenüber war. Das ich ihm nicht einmal diese eine ruhige Nacht gönnte.
„Hey...was ist?", war es auch schon seine verschlafene Stimme, die mich schließlich dazu überredete mich zu ihm zu legen. Wie gruselig es für ihn sein musste. Ich stand einfach so vor ihm, während er mitten in der Nacht aufwachte. Weil ich ihm nicht einmal diesen erholsamen Schlaf gönnte.
„Na jetzt komm schon her.", griff er nach meiner Hand, welche regelrecht tot zu sein schien. So kalt wie sie mir in James warmen Händen vorkam. Seine so lebendig und sanft. Alles, was ich wohl nicht mehr besaß. Alles, was ihm bleiben sollte und doch wegen mir bald fehlen würde.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken. Du solltest schlafen. Ich hab dich die letzten Nächte so schon wach gehalten.", meinte ich und blickte in der Dunkelheit zu ihm hinab, auf das vom milden Strahl des Mondes beschiene Gesicht meines Freundes. Meines Mannes. Es waren nicht die bekannten, ersten wunderschönen Wochen der Ehe. Es war das komplette Gegenteil. Und ich bereute es immer mehr James so sehr an mich gebunden zu haben, dass er nicht einmal jetzt flüchten konnte oder es sich traute.
„Alles gut mein Engel. Du solltest noch etwas schlafen. Also komm her, unter die Decke. Mir gehts gut. Und dich bekommen wir auch wieder auf die Beine.", vermochte ich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Auf den Lippen, die ich seit Tagen nicht das geschenkt hatte was sie verdienten. Wie viel James hatte einstecken müssen, wie sehr er hatte verzichten müssen. Es tat mir im Herzen weh wie unglaublich allein er sich fühlen musste.
Wenig überzeugt ließ ich mich von ihm unter die Decke, auf das schmale Sofa ziehen. Doch egal wie sehr mich die Schuldgefühle auch plagten, sobald ich die sichere Nähe James spürte, war das mulmige Gefühl in der Magengrube verschwunden. So weit weg, dass ich, als ich erneut zu ihm aufsah, die wenigen Zentimeter zwischen uns überwand und meine Lippen auf seine legte. Nach all dieser Zeit und Qual. Ich tat es nicht wegen mir. Nicht komplett wegen mir. Zum größten Teil, weil ich James auf diese Weise irgendwie sagen wollte, dass ich ihm dankbar war. Dass zwar nicht alles in Ordnung war, doch okay. Dass es vorwärts ging und ich nicht noch immer ganz unten in diesem stickigen Loch saß, sondern schon Schritte auf der Leiter nach oben getan hatte.
Wahrscheinlich war James auch deshalb so überrascht von den Gefühlen die ich im Kuss ausdrückte, mit Worten und Gesten jedoch nie hätte rüber bringen können.
„Danke für alles James. Schlaf gut.", murmelte ich an James weiche Lippen, während ich versuchte den Ausdruck seiner Augen in dieser Dunkelheit zu deuten. Schließlich gab ich es jedoch auf. Egal was seine Augen auch sagen mochten, ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Stattdessen drückte ich mich enger an seine Brust und versuchte Platz auf der dünnen Bepolsterung zu finden. Als Bett für zwei war dieses Sofa jedenfalls nicht geeignet.
„Du auch mein Engel. Lieb dich.", hauchte mir seine noch immer verschlafene Stimme auf den Kopf, ehe mich auch schon die Ruhe empfing, die ich so sehr sehnte. Die Ruhe, die meine Muskeln entspannen und mich einschlafen ließ. Diese eine Ruhe, bei der ich wusste, dass ich ohne schlechte Träume wieder aufwachen würde.
„Mmmm das duftet aber.", murmelte ich verschlafen an die warme Brust meines Mannes, während ich den köstlichen Duft von etwas gebratenem wahrnahm. Grummelnd machte sich James bemerkbar, welcher wohl noch nicht so wach war, dass er mitbekam, wie er mich langsam aber sicher von der schmalen Couch schob. Tja, und Schwups die Wups merkte ich auch schon wie auch ich noch leicht verschlafen, unsanft auf dem Boden unseres Wohnzimmers landete. Nach dem lauten Plumps und meinem schmerzerfülltem Gestöhne, nachdem ein stechender Schmerz durch meinen Rücken jagte, war wohl auch mein Freund aufgewacht. Verwirrt und leicht alarmiert blickte er von oben auf mich hinab. Seine Haare lagen wirr in seiner Stirn, seine Augen waren zusammengekniffen. Manchmal fragte ich mich ob er mich ohne seine Brille überhaupt erkannte. Wobei ich selbst in meinem jetzigen Zustand gestehen musste, dass ich ihn schon eine ganze Weile nicht mehr so heiß nach dem wach werden fand.
„Was machst du dort unten?", blickte mir James mit gerunzelter Stirn entgegen, während er sich durch die Haare fuhr. Es erinnerte mich fast an unsere Schulzeit. Wie er nervös durch sein Haare fuhr, mehr oder weniger in der Hoffnung, ich würde diesem Move verfallen. Und irgendwie war ich das ja auch.
Nur hatte ich damals noch meine Eltern. Bitter kam mir der Gedanke in den Sinn, ließ meine Erinnerungen wieder kreisen. Egal an was ich dachte, jedes Mal verband ich irgendetwas mit meinen Eltern. Mit meinen toten Eltern.
„Glaub mir, ich hab's mir nicht ausgesucht. Aber du hattest gerade wohl etwas zu wenig Platz, nachdem ich meinte, dass es lecker duftet.", fing ich mich wieder, versuchte die erdrückenden Gedanken beiseite zu schieben. Irgendwie musste ich weitermachen. Egal wie schmerzhaft es war. Ich schuldete es James.
„Apropos lecker. Wer steht in der Küche?", kam mir ein Geistesblitz. Man musste uns anmerken, dass wir nicht die wachesten waren. Jedenfalls dachte ich mir das, nachdem mir einfiel, dass meine Freundinnen noch hier sein mussten. Bei dem Gedanken daran das sie heute Morgen ohne mich wach geworden waren, überkam mich wieder das Schuldgefühl. Sie waren extra wegen mir hier geblieben. Und ich verzog mich einfach.
„Naja ich hoffe doch Anna steht am Herd. Sonst haben wir nachher nichts von dem gut richtenden Bacon.", kommentierte James, während er seine Beine über das Sofa zog, sich aufrechter hinsetzte und lächelnd auf mich hinab sah. Nur wusste ich nicht recht weshalb. Zwar saß ich nun etwas bequemer auf unserem Wohnzimmerboden, musste jedoch wie ein durch die Mülltonne gelaufener Waschbär aussehen. Jedenfalls fühlte ich mich so.
„Du solltest meine Kochkünste nicht unterschätzen mein lieber James Potter! Deine Frau, Lily Potter, sollte nämlich bezeugen können, dass ich die besten Bacon auf Erden mache!", mischte sich plötzlich eine andere Stimme in das schweigende Starren zwischen mir und James ein. Schon fast ertappt blickte ich auf, erkannte das erste mal seit Tagen wieder einmal, dass ich eine Potter war. Es war traurig wie sehr ich es vergessen hatte. Mein Glück und meine Freude vergessen hatte.
„Ist gut, wir kommen gleich.", übernahm mein Mann das Gespräch, ehe er mich erneut aus sorgenvollen Augen musterte. Es war mir wirklich unangenehm, dass er so schnell merkte, wenn ich Schuldgefühle hegte. Und die Erinnerung meines neuen Nachnamens machte es nicht besser. Ganz besonders nicht der Fakt, dass mir kurzzeitig der Gedanke kam, dass ich mich bei meinen Eltern am Grab nicht als Evans verabschieden konnte.
„Hey, komm hoch. Hör auf dir schon wieder Gedanken zu machen. Du bist eine Potter, die beste die es gibt. Und da ist es egal wie lange oder wie oft wir daran gedacht haben. Momentan beschäftigt uns beide etwas anderes. Die beiden besten Evans auf Erden nämlich. Also Kopf hoch und lächeln. Der Name ändert nichts an Zugehörigkeit, Verwandtschaft oder Liebe. Okay?", zog er mich liebevoll auf die Beine und blickte mir ernst in die Augen. Mit seinen braunen, warmen Augen. Mit den goldenen Sprenkeln darin, die mich jedes mal an die besondere Liebe, die er mir spendete, erinnerten. Und an seine einfühlsame Art, seine aufmerksame Art, seine aufbauende Art.
„Okay.", flüsterte ich zurück, genoss die Liebe in seinen warmen Augen. Ihm war wahrscheinlich gar nicht bewusst wie sehr er mir mit seiner Anwesenheit, seiner Nähe half. Ich wüsste ehrlich nicht, was ich ohne ihn jetzt machen würde. Er war in gewisser Weise mein Anker, der mich vor dem ertrinken rettete. So kitschig das auch klingen mochte.
„Naja dann lass uns das köstliche Frühstück von Hestia genießen.", hauchte er mir einen Kuss auf die Stirn, ehe ich nach seiner Hand griff und ihm in die Küche folgte. Wie ein Rettungsboot, das einen über Wasser hielt, einen am Leben hielt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top