102. Gegen eine harte Stahlwand atmen

Lily

„Er erinnert sich nicht.", brach es aus mir heraus. Alles was ich in der letzten Stunde zurück gehalten hatte, sprudelte wie verrückt aus mir heraus. Ich wusste nicht was los war. Ich war wie betäubt. James war aus der Tür raus, mit dem Bett hinaus geschoben und ich brach in mir zusammen. Alles fiel auf mich ein. Und dabei fühlte ich nichts. Nichts als Schmerz und Angst und pure Furcht.
„Er weiß gar nichts mehr. Als hätte ich mir das alles ausgedacht.", rannen mir die Tränen über die Wangen, als ich mit dickem Kloß im Hals zu meinen Freundinnen blickte. Auch sie schauten betrübt. Doch sie waren ebenso überfordert wie ich. Und wie der Arzt. Ich fragte mich so langsam wirklich was das für ein Heiler war. Erst blieb James länger bewusstlos und jetzt sowas. Ich fühlte mich einfach im Stich gelassen.
„Aber das kommt sicher alles wieder, Schätzchen. Er ist noch etwas verwirrt. Du kennst doch das alles aus deinen Büchern, da ist das doch auch öfter so. Und am Ende erinnern sie sich doch immer wieder.", versuchte Hestia mich kläglich aufzubauen. Doch half das ja mal überhaupt nicht. Denn die Erinnerung an solche fiktionalen Geschichten mit einem ewigen Happy End waren nicht aufbauend.
„Das sind ja auch Geschichten Hestia! Da gibt es immer ein gutes Ende.", maulte ich meine beste Freundin an, die sich gerade zu mir auf mein Krankenhausbett setzen wollte. Nicht nur der Fakt das bei James alles andere als alles okay war machte mich fertig. Nein, auch der Fakt, dass alles auf mich einzuprasseln schien ließ mich vor Schluchzern zusammen Zucken. Alles was ich die letzten Stunden verdrängt hatte machte sich bemerkbar. Jeder Muskel schmerzte und jede Bewegung eines Gelenks quälte meinen Körper.

„Lily bitte. Atme tief durch. Er ist doch gerade raus geschoben worden, um weitere untersucht zu werden. Und die Jungs sind bei ihm. Er ist ja immer noch dein James. Und in den meisten Fällen kommen die Erinnerungen zurück.", versuchte es nun Ann nach einer Weile des hilflosen Anstarrens mir gut zuzureden und setzte sich an meine rechte Seite. Sie beide waren einfach mehr als überfordert. Es schien eine Ewigkeit gewesen zu sein in der ich hier hilflos hockte und versuchte mich in den Griff zu bekommen Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht ruhig atmen. Es wurde alles viel eher schlimmer. Wie sollte ich mich denn auch beruhigen können? Mein Mann konnte sich an nichts mehr erinnern. Und ohne egoistisch zu klingen, es tat mir bald mehr weh, dass mich niemand verstand wie es gewesen war. Ich hatte ehrlich gehofft mit James das alles aufzuarbeiten. Doch wenn er nichts wusste von dem, was wir durchgemacht hatten, wie sollte es dann gehen? Wie sollte er mich verstehen? Wie sollte das alles überhaupt noch funktionieren? Solche Erfahrungen waren prägend. Unschön aber prägend. Zumal wir dort gemeinsam in diesem dunklen, kalten Keller gesessen hatten.

Und dann ging die Tür auf. Erschrocken blickte ich auf, hatte befürchtet das es James wäre der herein geschoben wurde und mich nun so sah. Doch glücklicherweise war er es nicht. Leider waren seine Eltern an seiner Statt nicht viel besser. Versucht ernst schluckte ich erneut, nahm die Schmerzen auf Grund des Kloßes in meinem Hals in Kauf und probierte ruhig zu atmen, während ich hastig über meine Wangen strich, um die unschönen Tränen beiseite zu schieben.
„Wie? Was ist los? Wo ist Jamie?", reagierte Mia hektisch, als sie mich weinen und mein Zimmer bis auf uns leer sah. Naja, das alles sendete falsche Signale. Doch war es für mich bald genauso schlimm. Für mich war in diesem Falle ein Teil James' tot. Oder jedenfalls schien es so. Auch wenn es nur ein winziger war.
„Ich denke er sei aufgewacht? Wo ist er denn dann?", sprach James' Mutter hektisch weiter und trat mit einem fraglich blickenden Fleamont weiter in das Krankenzimmer. Doch egal was ich versuchte ich bekam meinen Heulkrampf nicht in den Griff. Ich konnte ihr nichts mehr oder weniger beruhigendes sagen, konnte nichts tun ohne diese Furcht und den Schmerz zu spüren.

„Ich bin hier, Mutter.", drang dann schließlich die vertraute Stimme meines Geliebten in den Raum, als er von der Schwester zurück in den Raum geschoben wurde. Erleichtert drehte sich seine Mutter um und lächelte ihn an. Mich freute die Erleichterung in Mias Augen, als sie ihren milde lächelnden Sohn anblickte. Doch mir wurde es zu viel. Eindeutige zu viel. Und spätestens als James Blick besorgt zu mir huschte, weil ich einen weiteren Schluchzer nicht unterdrücken konnte, wusste ich, dass ich hier weg musste. Unter Schmerzen und mit pochendem Herzen lief ich zur nächst besten Tür. Mit vor Tränen verschleierten Augen trat ich in das kleine Bad, schloss hektisch die Tür, ehe ich mich gegen diese drückte und zuschloss. Und nun kam es mir so vor, als könnte ich nichts mehr zurück halten. Erschöpft sank ich an der Tür nieder, spürte jeden einzelnen Knochen meines Körpers schmerzen und klagen. Bald zu schreien schien jeder Muskel, als ich schließlich am Boden ankam und mich ein atemloser Weinkrampf nach dem nächsten einholte. Meine Brust schien wie zusammen gequetscht, erdrückt. Ich vermochte nicht richtig Luft holen zu können, nur gegen eine harte Stahlwand zu atmen und wieder enger eingeklemmt zu werden. Ich wusste nicht wie ich es beschreiben sollte. Ich wusste nicht was der Grund war. James hatte kerngesund ausgesehen, seine Mutter wie immer angestrahlt, mich wie so oft besorgt gemustert. Doch konnte ich diesem Schein keinen Glauben schenken. An sich war ein Gedächtnisverlust dieser paar Tage nicht dramatisch. Doch machte es etwas mit mir, das ich nicht zu erklären vermochte. Es war nicht mehr so, dass James kerngesund war. Er war nicht mehr so, dass James sich an alles erinnern konnte, was uns verband. Natürlich war er noch derselbe. Nur eben mit einem Puzzleteil das fehlte. Mit einer Erfahrung die er nie erlebt hätte.

Mit pumpendem Herzen und brennender Brust wurde ich mir bewusst, dass ich mich nicht ewig in einem Bad, wie ein unreifer Teenager. verkriechen konnte. Mir ging es zwar alles andere als prächtig, doch hatte ich noch immer einen Mann der größere Probleme hatte. Und so sehr sich meine Brust nun auch wieder verengte, als ich daran dachte, ich war mir im Klaren darüber, dass ich wieder vernünftig zu atmen hatte. Es würde sicherlich noch etwas brauchen, ehe ich mich hier wieder hinaus bewegen würde. Nur hatte ich mir gerade das Ziel gesetzt es zu tun. Vielleicht war auch diese Entscheidung der Grund weshalb ich dem ewigen Klopfen an der Holztür schließlich nachgab, und der nervigen Person auf der anderen Seite kurzzeitig Eintritt gewährte.

„Ach Lily-Schatz.", hockte sich Mia zu meiner Überraschung schließlich zu mir hinunter und nahm mich fest in die Arme. Ich musste wohl kaum erwähnen, das ich sicher nicht mit ihr gerechnet hatte. Das, und der Fakt, dass mich so sonst nur meine leibliche Mutter genannt hatte, ließen meine Tränen jedoch wieder schneller über meine Wangen strömen. Die Nähe zu ihr, die feste Umarmung und der Hauch des Duftes meines Freundes ließen mich wieder beginnen stärker zu weinen. Ließen mich erneut den gesamten Schmerz spüren.
An ihren Körper gepresst, fast wie die tröstende Umarmung meiner richtigen Mutter, wurde ich von ihr gehalten, bekam Trost gespendet, bekam die mütterliche Liebe, die ich momentan benötigte. Ich wusste nicht weshalb ich mich gerade jetzt so gehen lassen konnte vor meiner Schwiegermutter. Sie war immer lieb und nett gewesen und ich bewunderte sie aufrichtig. Doch war unser Verhältnis nie so gewesen, dass sie für mich eine zweite Mutter war oder diese fehlende Rolle irgendwie eingenommen hatte. Vielleicht lag es aber auch einfach in ihrem Blut. Die Mutter aller, jeder fühlte sich bei ihr wohl, merkte, dass man ernst genommen wurde mit seinen Problemen.

„Lilychen, ich versteh dich voll und ganz. Und der gesamte Raum dort hinter dieser verschlossenen Tür auch teilweise. Du hast deine erste, wirklich schreckliche Gefangenschaft überlebt. Ihr beide habt das. Ich kann nachvollziehen, dass dich das mit James nicht nur deswegen belastet, weil er gesundheitlich nicht auf dem Stand ist. Auch, wenn du es niemandem gesagt hast und die anderen da draußen diesen Teil vielleicht nicht sehen, weiß ich, dass du auch damit haderst, weil du es mit ihm gemeinsam auswerten, aufarbeiten wolltest. Immerhin seid ihr da zusammen durchgegangen, habt es zusammen wieder heil raus geschafft. Aber nur, weil James sich momentan nicht daran erinnern kann, heißt es jedoch nicht, dass er sich niemals mehr daran erinnern wird. Gefangenschaften sind nie leicht zu verkraften, Spätzchen. Deswegen ist es auch keine Schande, dass du hier sitzt und nicht recht weißt wohin mit dir.", schaute sie mich nun an, streichelte mir sanft über den Hinterkopf, meine verwuschelten und zerzausten Haare. Mütterlich blickte sie mir entgegen, mit liebevollen und verständnisvollen Augen. In mein verheultes, gerötetes und völlig fertiges Gesicht. Es war wahr, dass sie irgendwo Erfahrungen darin hatte in Gefangenschaft zu sein, so krass sich das auch anhören mochte. Und eben deswegen wusste ich nicht recht, ob es stimmte, was ich mir einbildete. Wie eine innere, böse Stimme zog es durch meinen Kopf. Es war flüchtig. Doch es war vorhanden.
„Du hast so viele Gefangenschaften erlebt. Da ist das hier doch eigentlich pillepalle.", schniefte ich und zwang mir kurzzeitig ein sarkastisches, trauriges Lächeln auf die Lippen. Sie war schon so oft so hart in die Realität gerufen worden. Hatte schon so viel erlebt. Es war bald ironisch wie sie mir versuchte zu helfen. Nur wusste ich insgeheim, dass sie es wirklich ernst meinte. Das sie jedes Wort genau so vertrat.

„Lily, ja das habe ich. Deswegen kann du mir auch glauben, dass das was ihr Augenscheinlich durchgemacht habt, nicht normal ist. Ich habe bisher als Aurorin selten solche harten, gefährlichen und vor allem langen Gefangenschaften erleben müssen. Zumal die erste immer die prägendste ist. Aber du bist stark. Unglaublich stark. Und die wirst auch das hier in Ruhe aufarbeiten können und so viel unerschrockener und willensstärker zurückkommen.", sprach sie erneut auf mich ein, hielt mein Gesicht nun in den Händen, zwang mich in ihre braunen Augen zu blicken. Auch, wenn sich mein Zustand beruhigt hatte, war ich noch immer unruhig in mir drinnen. Ich wusste noch immer nichts mit mir anzufangen. Wusste noch immer nicht, wie ich nun weiter machen sollte. Irgendwie stand die gesamte Welt auf dem Kopf.
„Hör zu Lily, ich weiß du hast Angst, ich weiß in dir drinnen geht viel vor, und ich weiß, dass du nicht weißt, wie du mit irgendjemanden sonst darüber sprechen sollst. Aber glaube mir wenn ich dir sage, dass James sich bald wieder an alles erinnern wird. Die Heiler sind dabei zu schauen was ihm fehlt, aber eigentlich ist dieser kurze Gedächtnisverlust bald normal. Das tritt häufiger bei Menschen nach Gefangenschaften auf. Einfach weil der Körper von sich aus einen Schutz aufbaut. Wichtig ist jetzt, abseits von deinem befinden, dass du für James da bist, wenn bei ihm alles wieder hoch kommt. Ich weiß, dass du da sein wirst. Nur musst du dich dafür jetzt aufraffen und nach vorn sehen. Wenn alles wieder hochkommt, wird er deine Unterstützung brauchen, ebenso wie du die seine. Und glaube mir, wenn ich sage, dass James auch jetzt, wo er nichts zu wissen scheint, für dich da ist. Du weißt das auch, das ist mir bewusst. Aber er macht sich tierische Sorgen, mein Schätzchen. Ihm geht das alles auch sehr nahe und wie du ihn ja kennst ist ihm dein Befinden gerade um einiges wichtiger. Also wasch nochmal dein Gesicht, lächle in den Spiegel und geh dann zu ihm. Ihr schafft das beide, ihr seid das stärkste Paar das ich kenne. Gemeinsam schafft ihr alles.", lächelte sie mich aufbauend an, hielt mich nun fest bei meinen Schultern und versuchte mir wohl die nötige Kraft zu schenken aufzustehen. Tief durchatmend blickte ich noch immer in ihre braunen, etwas dunklere Augen als James', und nickte schließlich zaghaft. Sie hatte ja recht. Es würde nichts bringen sich zu verkriechen. James brauchte mich nun.

„Dann ist gut. Das will ich sehen! Diese Stärke. Die anderen sind eben schon gegangen und Fleamont und ich gehen jetzt ebenfalls ja? Ich denke ihr braucht jetzt erst einmal Zeit für euch.", nickte sie mir schließlich nochmals lächelnd zu, nachdem sie mich erneut fest umarmt hatte. Auch wenn ich stumm blieb, glaubte ich zu wissen, dass sie meine Dankbarkeit in diesem Moment erkannte. Ich hätte keine Ahnung gehabt, wie ich es wirklich ohne sie in diesem Augenblick überstanden hätte. Es war ihre mütterliche Ader. Sie sorgte für diese Stärke und Kraft wieder aufzustehen, in den Spiegel zu schauen und weiter zu machen. So wie es sich für Kämpfernaturen gehörte. Brust raus, Kinn hoch und mit breiten Schultern weiter. Nichts und niemand würde James und mich jemals aufhalten können. Gemeinsam würden wir sicher alles bewältigen.

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