76. Warum?

Lily

Mal wieder saß ich auf der Fensterbank und schaute hinaus. Mal wieder heulte ich und mal wieder wünschte ich mir einfach zwei starke Arme, welche mich festhielten, welche mir zeigten, dass es nur eine Momentaufnahme war.

Doch warum wünschte ich mir eben diese Arme? Warum beruhigte mich dieser bestimmte Geruch immer? Warum fühlte ich mich immer zuhause, wenn er anwesend war? Warum?

Ich stand auf, nahm mir ein Buch und holte den letzten Brief von ihm heraus. Den Brief, den ich in den letzten Tagen und Wochen immer öfter in der Hand gehalten hatte. Er hatte ihn mir in den Sommerferien geschickt. War davon ausgegangen ich würde ihn verbrennen, dass ich ihn nicht einmal öffnen würde.
Damals hatte ich mich gefragt, warum ich es nicht getan hatte. Warum ich auf einmal so neugierig auf seinen Inhalt gewesen war.

Ich las wie jedes Mal, wenn ich ihn in der Hand hielt, die wenigen Zeilen wieder und wieder. Die Zeilen, die er geschrieben hatte. Die Zeilen, über die ich damals den Kopf geschüttelt hatte. Doch nun hatte ich ein schmunzeln im Gesicht. Nun konnte ich mir vorstellen, wie er sie schrieb. Wie er sich nervös durch seine unordentlichen Haare fuhr, wie er an seinen Fingern knabberte, um sich seinen nächsten Satz zu überlegen.

Er schrieb, er wolle sich für die letzten sechs Jahre entschuldigen und würde versuchen, nicht mehr so arrogant zu sein. Damals hatte ich gedacht, es wären leere Versprechungen, doch dies schien nicht der Fall zu sein. Er hatte sich geändert, hatte versucht sein arrogantes selbst abzulegen. Er hatte mir gezeigt, wer er wirklich war.

Jemand, der nur das beste für jeden wollte. Jemand, der auf charmante Art, allen mit seinen Witzen den Tag versüßen konnte. Jemand, der mit Abenteuerlust und ohne Scheu vor Konsequenzen die Gerechtigkeit eines Jeden gewährleisten möchte. Jemand, der klug und amüsant zu gleich war. Jemand, der Acht auf seine Freunde gab und sie um jeden Preis beschützte. Er war jemand, der anständig und liebevoll handelte. Jemand, der durch seine einfühlsame und Sanfte Art selbst mich überzeugt zu haben schien.

Doch weshalb saß ich dann hier und weinte? Und weshalb sehnte ich mich genau in diesem Moment, nach dieser bestimmten Person?
Ich sollte ihn hassen, abstoßend und grauenhaft finden. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Ich hatte innerhalb von ein paar Wochen meine eigenen Regeln gebrochen. Hatte mich ihm, so wie noch keinem zuvor, anvertraut. Und das, obwohl ich ihn doch überhaupt nicht mochte.

Das stimmt nicht, du magst ihn.

Ja, jetzt mochte ich ihn, doch damals, als ich ihm vieles erzählt hatte, mochte ich ihn nicht. Ich mochte ihn überhaupt nicht. Ich fand ihn lästig. Lästig, wie er mein Schulsprecherpartner werden musste. Lästig, wie er in kürzester Zeit erkannte, dass etwas nicht stimmte. Doch das alles war in allem anderen untergegangen.

Ich dachte, alles würde an mir hängen bleiben. Dabei war ich schon damals, im Hogwartsexpress, überrascht gewesen, als er alle Listen fehlerfrei ausgefüllt hatte. War überrascht gewesen, welch gute Ideen er eingebracht hatte. Wie gewissenhaft er alles durchgeführt hatte.

In kürzester Zeit, war nichts mehr wie vorher. Alles hatte sich verändert und das nur, weil sich eine bestimmte Person geändert hatte.

Hatte er sich denn wirklich geändert oder warst eher du es?

Ich, ich weiß es nicht.

Erst, als der Brief vor mir nass wurde, bemerkte ich, wie stumme Tränen meine Augen verließen. Wieder hatte ich angefangen zu weinen. Wieder weinte ich, weil ich keine Ahnung hatte, was geschehen war.

Erst dieser Geruch im Amortentia, der alles übertüncht hatte. Dieser Geruch nach Kiefernnadeln und Sommerwind. Doch warum genau dieser Geruch? Warum genau Kiefernnadeln und Sommerwind? Warum?

Der Trank zeigt den Geruch, welcher genau den Vorlieben jedes Einzelnen entspricht.

Doch seit wann waren Kiefernnadeln und Sommerwind meine Vorlieben? Nie, wirklich nie hat sich der Geruch meines Amortentia Tranks geändert. Warum jetzt? Ich mein, was hat das alles ausgelöst?

Du verbindest damit eine bestimmte Person. Du verbindest damit ihn.

Nein, nein. Das stimmt nicht! Er ist mir schließlich nicht so wichtig wie andere Dinge. Es kann unmöglich sein, dass er mir nach so kurzer Zeit, so wichtig geworden war. Vielleicht riecht sein Aftershave auch einfach nur zufällig danach und es hat nichts mit mir zu tun!

Wenn es so wäre, warum hast du dann deinen Freunden nicht die Wahrheit gesagt? Und seit wann gibt es Aftershave, das nach Sommerwind riecht?

Das weiß ich doch auch nicht! Außerdem würden es mir meine Freunde doch eh nicht glauben!

Glaubst du es dir denn selbst?

Ich habe keine Ahnung. Warum? Warum konnte er nicht einfach so wie früher bleiben?! Warum hätte nicht einfach Remus Schülersprecher werden können? Dann wäre das ganze doch gar nicht passiert! Dann wäre alles wie früher und ich müsste mir keine Gedanken über sowas unsinniges machen.

Sicher? Denkst du, eure Patroni wären dann nicht die Selben?

Stimmt, das war ja auch noch! Aber keine Ahnung. Rein theoretisch wäre es so gut wie unmöglich. Es gab nur einzelne Fälle, wo sich der Patronus geändert hat. Doch fand ich schon früher, als Kleinkind, Rotwild und hier besonders die Hirschkühe interessant. Es, es kann auch einfach alles ein Zufall sein.

Hör auf deine Gefühle zu verleugnen Lily Evans!

Aber das tu ich doch gar nicht! Kannst du nicht mal den Mund halten du blöde Stimme?! Ich mag ihn nicht. Er ist ein arrogantes Arschloch!

Wütend knüllte ich den Brief zusammen und schmiss ihn in eine Ecke. Warum machte ich mir darüber überhaupt Gedanken? Es gab doch gar nichts, worüber man sich Gedanken machen brauchte!

Vorhin hörte sich das mit dem arroganten Arschloch aber noch anders an.

„Man, woher soll ich das denn wissen?! Diese ganze Sache ist doch nur scheiße! Kann ich nicht wieder der normale Streber sein?", schrie ich in den leeren Raum. Wie aus einer Trance erwacht, bemerkte ich, dass ich aufgestanden war. Ich konnte wieder klar sehen und meine Tränen flossen in Bächen von meinen Wangen.

Nun sag mir, welche Schlussfolgerung du bei anderen Mädchen ziehen würdest, wenn sie sich so über einen Jungen aufregen?

Nichts. Rein gar nichts. Schließlich ist es normal sich so über jemanden aufzuregen. Hab ich doch auch jahrelang gemacht. Das ist doch logisch!

Ich meine nicht die ganzen Hasstiraden gegen ihn. Ich meine das in deinem Kopf. Ich meine das verleugnen deiner Gefühle! Was hatte Hestia gesagt?

„Aber manchmal gibt es einfach keine logischen Antworten. Vieles passiert einfach so. So wie wahrscheinlich auch deine Gefühle für James.", wiederholte ich flüsternd die letzten Sätze Hestia's. Aber das stimmt doch alles gar nicht! Ich habe keine Gefühle für ihn! Warum denkt das denn jeder?!

Vielleicht, weil alle es sehen, nur du nicht. Der Amortentia Trank, dem du immer so viel Glauben geschenkt hast. Eure Patroni, die schon vor eurer Ankunft in Hogwarts, vor eurer ersten Begegnung feststanden. Der Tag beim Quidditchfeld, als du die gesamte Zeit über James beobachtet hattest, anstatt dein mitgenommenes Buch zu lesen. Das Gefühl der Kälte, die dich jedesmal überkommt, wenn ihr euch aus einer Umarmung löst. Diese gesamte Unterhaltung in deinem Kopf! Du machst dir solche Gedanken, eben weil du Gefühle hast! Und eben weil du diese Art von Gefühlen nie kanntest.

Was meinst du denn jetzt für Gefühle?!

Lily Evans, nicht umsonst wirst du von jedem, der dich kennt, in den Himmel gelobt. Was sind die größten und hellsten Gefühle die ein Mensch für jemand anderen aufbringen kann?

Das weiß ich nicht! Und das ist mir sich egal! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn einfach!

Das glaubst du dir doch nicht einmal selbst.

„Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.", flüsterte ich immer und immer wieder vor mich hin.

Nein, das tust du nicht. Und das weißt Du auch.

Ach halt doch die Klappe!

Wieso? Weil ich die Wahrheit ausspreche?

Du bist ich und du kannst nicht sprechen! Ich weiß nicht einmal warum du existierst!
„Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn..."

Jetzt sag mir, was die größten und hellsten Gefühle sind, die ein Mensch empfinden kann!

Ich hab doch gesagt, dass ich es nicht weiß! Bei Merlin! Jetzt sei doch leise!
„Ich hasse ihn. Ich hasse ihn..."

Du weißt es. Weshalb liest du lauter Liebesromane? Weil du die Charaktere magst. Weil du die Jungen dort magst.

Ja und?! Was ist daran so schlimm?! Und was hat das hiermit bitte zu tun?!

Alles. Denn du hast so einen Jungen gefunden, wie er in deinen Büchern immer beschrieben steht.

Das stimmt doch gar nicht!

Woher willst du wissen von wem ich rede? Ich habe nicht einen Namen genannt.

„Ach nun halt die Kappe!", schrie ich wieder, heulend und unter Weinkrämpfen. Ich war am Ende. Ich konnte nicht mehr. Alles hatte sich verändert. Einfach alles.

Ich bin erst still, wenn du mir eine Antwort gibts.

Ich habe keine. Ganz einfach. Weil es nicht möglich ist. Das ist es einfach nicht. Das kann nicht sein, es ist unmöglich. Schließlich habe ich es mir geschworen. Habe es zig mal gesagt, es wurde sogar zur Floskel Hogwarts'.

Was hast du dir geschworen?

Dass ich mich niemals in James Potter verlieben würde. Niemals. Eher würde ich sterben.

Und jetzt?

Jetzt...jetzt, jetzt ist es geschehen. Ich habe die wichtigste und bedeutendste Regel gebrochen.
„Evans hasst Potter und James liebt Lily.", flüsterte ich zu mir selbst. Wenn James mich überhaupt noch mochte...

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