kapitel neunzehn, EINE RUINIERTE FAMILIE.
EINE RUINIERTE FAMILIE.
Andere Dinge können uns
verändern, aber wir beginnen
und enden mit der Familie.
ANTHONY BRANDT
19. Dezember 1977
ALS SIE AUS DER ROTEN DAMPFLOK aussteigt und Gleis 9 3/4 betritt, erwartet Eden einen Hauselfen, welcher sie und Noah nach Hause begleiten würde. Zu ihrer großen Überraschung und Freude steht an dessen Stelle ihr älterer Bruder Filip.
Strahlend fällt sie ihm um den Hals. Eden hat ihn in den vergangenen Monaten schrecklich vermisst. Als sie sich voneinander lösen, drückt Noah seine Schwester zur Seite, um Filip ebenfalls zu begrüßen.
Während sie sich mit ihrem großen Bruder unterhält, vergisst Eden vollkommen, dass sie sich noch nicht bei ihren Freunden verabschiedet hat. Hinter ihr ist ein Räuspern zu hören. „Sag uns nicht, dass du einfach abgehauen wärst," beschwert sich Alice mit hochgezogenen Augenbrauen, schmunzelnd.
Eden zuckt nur unschuldig lächelnd mit den Schultern und fängt an, ihre Freunde nacheinander zu umarmen. Sie verspricht Lily, regelmäßig zu schreiben, woraufhin Peter sofort einwirft, dass dies in dem Kopf der Rothaarigen mindestens ein Brief alle zwei Tage bedeutet. James hingegen sagt, dass sie sich nicht die Mühe machen braucht, sich zu melden, solange sie ihn in den Ferien besuchen kommt. Als Eden als letztes bei Sirius ankommt, ist sie schon vollkommen durch den Wind und drückt ihm ohne nachzudenken einen Kuss auf seine stoppelige Wange. Sie merkt sofort, wie ihr mulmig wird und kann sich gut vorstellen, wie ihr Gesicht fleckig wird. Eden dreht sich rasch um und geht mit schnellen Schritten zu ihren Brüdern, welche ungeduldig, aber feixend auf sie warten.
Sie schenkt ihren Freunden ein letztes Lächeln, greift nach Filips Arm und innerhalb kurzer Zeit fühlt sie sich, als würde jemand sie durch einen Schlauch pressen. Zusammen apparieren die Geschwister sich direkt vor eine breite, hölzerne Haustür.
Das Anwesen der Starks liegt abgelegen, inmitten von einzelnen Tannen und umzäunt von hohen Zäunen, an denen sich Efeu hochrankt. Eden hat sich in ihrem Zuhause immer sehr wohl gefühlt, doch der riesige Garten, welcher das Herrenhaus umgibt, ist seit Eden denken kann, ihr Lieblingsort. Es gibt einen kleinen Bungalow, von dem man in der Ferne einen großen See erblicken kann.
Bevor einer der Dreien klopfen kann, wird die Tür schwungvoll nach innen geöffnet und im Türrahmen steht Alma Stark. Sie ist eine schmale Frau, doch mit ihrer hohen Stirn und den ausgeprägten Wangenknochen trägt sie zu jeder Zeit einen schneidenden Gesichtsausdruck, der nur von ihren Augen abgerundet wird, welche die unendliche Liebe zu ihren Kindern offenbart.
Das einzige, was Eden von ihrem Vater geerbt hat, ist seine Größe, ansonsten ist sie das Ebenbild ihrer Mutter. Ebendiese umarmt sie fest. „Wie ich dich vermisst habe, Lya," spricht sie leise.
„Ich dich auch, Mama," gibt sie zurück. Wann immer sie Kummer hat, ist ihre Mutter an ihrer Seite und hat einen Rat für sie parat.
Die Beziehung zwischen Eden und ihrem Vater William war einmal gut gewesen, doch seit dem Wissen von ihrer Verlobung, begegnen sie sich mit einer Kälte, die es im Hause Stark nie zuvor gegeben hat. Es werden Höflichkeiten ausgetauscht, doch zu mehr ist keiner der beiden bereit. Somit ist es keine Überraschung, dass, als dieser hinter ihrer Mutter hervortrat, Eden nicht die Arme um seinen breiten Oberkörper schlingt, sondern stattdessen ein gequältes Lächeln zur Schau trägt und sich so schnell wie möglich an ihm vorbei stehlt.
Es ist noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte, doch kommt es ihr vor wie eine Ewigkeit, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Es hat sich viel in ihrem Leben verändert, doch die Eingangshalle riecht noch immer nach Eiche und Pfefferminztee. Eden ist dankbar, dass es Sachen gibt, an denen sie festhalten kann, die für immer schöne Erinnerungen heraufbeschwören werden.
„Das Essen ist schon vorbereitet, meine Lieben, also kommt mit in den Saal," ruft ihre Mutter aus, nachdem Noah und Eden ihre Koffer nach oben gebracht haben.
Der Saal ist ein riesiger Raum mit hoher Decke, welcher normalerweise für Feiern gedacht ist, doch wenn sie alle zusammenkommen, essen sie dort an einem langen, teuer bedeckten Marmortisch.
Nachdem sie sich hingesetzt haben, lässt ihre Mutter die Platten voller Essen aus der Küche hineinschweben.
„Hast du wieder für zehn Leute zu viel gekocht, Mama?" fragt Noah grinsend. Es ist immer das Gleiche—ihr Mutter würde in den Ferien beim ersten Mittagessen viel zu viel kochen, als habe sie vergessen, wie es sich anfühlt, drei Kinder im Haus zu haben.
Alma sieht ihren Sohn warnend an, doch kann man in ihren Mundwinkeln den Ansatz eines Lächelns erkennen. „Bedient euch und guten Appetit."
Die Familie spricht ihr nach und sie häufen sich die Teller voll. Für einige Minuten essen sie in gemütlichem Schweigen, doch weiß Eden bereits, dass die ersten Fragen bald kommen würden.
„Ich habe gehört, dass du dich prächtig mit den Leuten aus deinem Haus verstehst, Eden," durchbricht ihr Vater als erstes die Stille. Seine Stimme hält er im Plauderton.
„Allerdings. Ich hatte viel Glück," antwortet sie schlicht, ohne ihren Blick von ihrem Teller zu heben.
Langsam legt ihr Vater sein Besteck auf den Teller, ohne viel gegessen zu haben. „Wir müssen darüber reden, bevor es zu spät ist."
„William—" fängt ihre Mutter zaghaft an, doch wird sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen gebracht. Die Beziehung ihrer Eltern ist immer liebevoll gewesen und voller Respekt, doch es scheint, als habe sich auch dies geändert.
„Ich verstehe, dass man in deinem Alter gerne rebelliert, etwas besonderes sein will. Doch dies kannst du dir leider nicht länger erlauben, Eden. Es reicht," sagt er, noch immer gefasst und ruhig. Eden kann seinem Beispiel nicht folgen.
„Ich habe das erste Mal in meinem gesamten Leben wahre Freunde. Freunde, die ich mir selbst ausgesucht habe, nicht welche, die ihr mir vorgesetzt habt. Das werde ich nicht aufgeben, nur weil dir auf einmal deine Ehre als Reinblüter wichtig geworden ist!" gibt sie wütend zurück.
„Ich dachte es wäre offensichtlich, dass du dich nur in unseren Kreisen aufhalten kannst," sagt er dann und in seiner Stimme ist keinerlei Wärme vorzufinden. „Scheinbar habe ich mich in dir getäuscht."
Eden schüttelt daraufhin nur ungläubig den Kopf. „Seit wann bist du so? Ich weiß noch ganz genau, wie du mir gesagt hast, dass du niemals so wirst, wie die anderen Reinblüter," erinnert sie ihn. „Was ist aus diesem Versprechen geworden?"
Eden bildet sich ein, etwas wie Trauer in den Augen ihres Vater zu sehen, aber so schnell wie es gekommen war, verschwindet es auch wieder. „Die Zeiten haben sich geändert. Manchmal muss man sich anpassen. Warum fällt es dir so schwer, dies zu akzeptieren?" fragt er sie und Eden merkt, wie seine Geduld mit jedem Wort schwindet.
Die ganze Zeit über sind ihre Brüder still, während die beiden miteinander diskutierten und als Eden zu ihnen blickt, weichen sie ihrem Blick aus. „Das ist also aus meiner Familie geworden," sagt sie schwach und schiebt ihren Stuhl zurück. Es gibt vieles, was sie ihnen zu sagen hat, doch hält sie es zurück und verlässt stattdessen das Zimmer.
Im ersten Stock öffnet sie langsam die Tür zu ihrem eigenen Zimmer. Seufzend sieht sie sich um. Es ist groß und hell, mit vielen Fenstern und einem Balkon, der sich hinter beigen Samtvorhängen nicht ausmachen lässt. Eden zieht ihre dunkelroten Ballerinas aus und geht barfuß zu ihrem Bett. Sie lässt sich fallen und schließt die Augen. Als ihre Gedanken zu ihrer kaputten Familie wandern, fängt sie an durch ihre Tasche nach einem ihrer Bücher zu wühlen, als sie auf einmal einen kleinen Umschlag in den Händen hält. Es war Dorcas gewesen, die ihn ihr mit einem strahlenden Lächeln gegeben hatte, als sie sich am Gleis verabschiedet hatten.
Neugierig fängt sie vorsichtig an ihn an einer Seite zu öffnen und zieht einen Zettel heraus. Mit ordentlich geschwungener Schrift steht dort...
Marlene, Eden, Lily, Alice und Dorcas
Dezember 1977
Sie dreht den Zettel um und betrachtet staunend was sich als Foto von den fünf lachenden Mädchen herausstellt. Es war nach der Schneeballschlacht kurz vor den Ferien aufgenommen worden und obwohl sie alle durchnässt sind und frieren, sehen sie ohne Zweifel glücklich aus.
Mit zittrigen Händen streicht sie über das sich bewegende Bild, welches jemand mit Dorcas Kamera aufgenommen haben musste.
Langsam steht sie auf und sucht in ihrem Schreibtisch nach einem Fotorahmen. Kurz darauf steht das Bild auf ihrem Nachtschrank.
Ich habe das erste Mal in meinem gesamten Leben wahre Freunde, hört sie sich immer und immer wieder sagen. Eden denkt nur selten über ihr altes Leben im Nynorsk Wizarding Institut nach, denn es gibt nicht viel, dem sie hinterhertrauern kann. Obwohl vieles damals einfacher gewesen war, ohne Gedanken an eine Verlobung, ohne Diskriminierung und einen Krieg, hatte es immer in ihrem Hinterkopf geschlummert. Das Wissen, dass sie irgendwann in die Heimat ihres Vater zurückkehren würde und dort nicht alles so simpel wäre. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen.
Seufzend rutscht Eden von der Bettkante, öffnet ihre Tür und geht den dunklen Gang entlang. Der dunkle Teppich unter ihren nackten Füßen ist angenehm weich und sie trifft erst wieder auf kaltes Parkett, als sie die große Holztür aufstößt, die zu einer gewaltigen Bibliothek führt. Sosehr sie die Bibliothek in Hogwarts auch liebt, die Ruhe hier übertrifft alles. Mit langsamen Schritten geht sie die Bücherregale entlang, während sie nach dem richtigen Buch für diesen Abend sucht. Gerade als sie sich auf die Zehenspitzel stellt und Fantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind herausnimmt, hört sie hinter sich eine Stimme.
„Wusste ich doch, dass ich dich hier vorfinden würde."
Erschrocken dreht Eden sich um und mit einem dumpfen Geräusch fällt das Buch, welches sie in den Händen gehalten hatte, auf den Boden. Hinter ihr steht leicht lächelnd ihr größerer Bruder. Augenrollend bückt sie sich, um das Buch wieder aufzuheben, um sich dann mit dem Händen in die Hüfte gestemmt, wieder vor ihm aufzubauen. „War es wirklich nötig, mich so zu erschrecken, Filip?"
Sein Lächeln wird nur noch breiter. „Natürlich nicht, aber wo wäre denn dann der Spaß für mich gewesen?"
Eden antwortet nicht, sondern schickt ihm einen genervten Blick. „Was willst du?" fragt sie, während sie sich in einen der großen Sessel setzt.
Er begibt sich zu ihr und lässt sich in einen der anderen Sessel fallen. „Vieles hat sich verändert, seitdem der Dunkle Lord immer mehr an Macht und Anhänger gewinnt. Es ist nicht immer einfach für Vater deine Handlungen zu rechtfertigen, Lya." Er zögert kurz, versucht die richtigen Worte zu finden. „Außerdem wollte ich mich entschuldigen... Dafür, dass ich mich nie auf deine Seite stelle."
Eden wirft ihre langen Beine über die Lehne des Sessels und macht es sich gemütlicher, bevor sie ihm antwortet. „Es ist lange her, seitdem ihr dir das übel genommen habe." Doch das ist nicht gänzlich die Wahrheit. Filip hat sie so oft beschützt in ihrer Kindheit, aber jetzt, wo sie ihren großen Bruder am meisten braucht, schweigt er.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top