kapitel zweiundvierzig, KEIN ATEM, KEIN BLINZELN, NICHTS.













KEIN ATEM, KEIN BLINZELN, NICHTS.

Wir kommen allein auf die Welt,
wir leben allein, wir sterben allein.

ORSON WELLES






19. Februar 1979

SIRIUS BLACK WEINT NICHT. Das ist ein unausgesprochener Fakt und doch steht er nun vor seinen Freunden und schluchzt bitterlich.

James schiebt quietschend seinen Stuhl zurück, doch noch bevor er aufstehen kann, ist Eden schon bei Sirius. „Was ist passiert?" fragt sie leise, während sie ihm die Tränen von den Wangen wegstreicht.

Eden hat Angst zu fragen, ob es einen Grund gibt, Angst zu haben.

Seine Stimme ist überraschend ruhig, als er ein einziges Wort ausspricht, das alles verändern wird. „Regulus."

Mit einem Zucken lässt sie ihn los und weicht einen Schritt zurück. Langsam schüttelt sie den Kopf. Für einen Moment scheint es, als könne sie nicht mehr atmen. Die Luft ist gefangen in ihrer Kehle, sodass es schmerzt. Ihr Puls klopft in ihren Schläfen, bevor sie in großen, zitternden Atemzügen keucht, ihr Hals brennend. Ihr Kopf zittert von einer Seite zur anderen, als sie versucht, die Worte zu verstehen.

Voller Furcht und mit klopfendem Herzen, versucht Eden sich an Dinge zu erinnern, die sich niemals verändern werden. Die Sonne geht im Osten auf und im Westen wieder unter. Mein Bruder ist tot. Die Gezeiten würden die Meere für immer bestimmen. Eines Tages werde ich zu Staub zerfallen. Man kann die Sterne am Himmel nicht zählen.

Ihr wird schwarz vor Augen und mit einer zittrigen Hand hält sie sich an der Holzlehne eines Stuhls fest. Eden atmet tief ein und zählt innerlich langsam bis zehn.

Eins. Ein strahlendes Lachen, sanfte Worte.

Zwei. Menschen, die gebunden sind durch etwas dunkles, etwas verzweigtes.

Drei. Wütende, graue Augen.

Vier. Ein Monster, verkleidet als Mensch.

Fünf. Ein Blick in seine Seele. Licht und Dunkelheit bekriegen sich.

Sechs. Ein schneeweißes Kleid.

Sieben. Ein pechschwarzer Festumhang.

Acht. In Zeiten von Krieg stirbt junge Liebe schnell.

Neun. Ein gebrochenes Herz und eine Frage: War es das wert?

Zehn. Ein leitendes Licht und unendliche Dunkelheit.

     Sie atmet aus.

ERINNERUNGEN SIND FLUCH UND SEGEN ZUGLEICH. Das ist etwas, was Eden an diesem Abend lernt. Es ist eine bittere Lektion, die wohl jeder Mensch in seiner Lebzeit einmal lernen muss.

Regulus war erst achtzehn gewesen. Daran muss sie sich erinnern, wann immer ihre Gedanken zu ihm schweifen. Der Schmerz ist unerträglich. Eden fühlt sich, als würde man sie schlagen, wieder und wieder, bis nichts mehr von ihr übrig ist.

      Sie erinnert sich an ihn, als er noch jünger gewesen war, zehn Jahre alt und schmal für sein Alter. Naive, graue Augen und ein strahlendes Lächeln hatten sein Gesicht erhellt, welches schon damals durch die typischen Gesichtszüge der Blacks geprägt gewesen war. Er ist in etwas hineingewachsen, das ihm seine kindliche Unschuld für die Ewigkeit genommen hatte, doch Regulus hatte es nicht verdient gehabt, ein Teil davon zu sein, dessen ist sie sich sicher. Er hatte es nicht verdient gehabt, zu leiden und zu sterben. Er hatte so viel seines Lebens noch vor sich gehabt.

     Kinder, Enkelkinder—

Eden hat sich Tag für Tag gewünscht, nicht mit Regulus verheiratet zu sein. Sie sollte zufrieden sein, dass etwas Gutes aus seinem Tod kommt, dass man sie dieser Bürde erleichtert hat. Aber nur der Gedanke daran, lässt ihr die Galle in die Kehle steigen.

Auf den ersten Blick hätte man die Fotografie in ihren blassen Händen für ein Muggel-Foto halten können, denn der Junge in dem Bild bewegt sich nicht. Ernst und steif steht er da, in schweren, schwarzen Roben, die ihn als Zauberer ausweisen, und ohne zu blinzeln sieht er geradewegs in die Kamera.

Das Slytherin-Abzeichen auf seiner Brust hebt sich hell gegen den dunklen Stoff ab.

Erst auf den zweiten Blick sieht man die Unterschiede zu seinem Bruder—die Nase, die ein wenig schmaler ist, genau wie die Lippen; die schwarzen Haare, so akkurat geschnitten, wie sie Sirius nie tragen würde; der Blick, der so eindeutig nicht Sirius ist, aber aus Augen kommt, die zu Sirius gehören könnten, grau wie Stahl, die Augen eines Black.

     Ihre eigenes Gesicht wird von dem glänzenden Material reflektiert. Ein Schauer durchfährt Eden, als sie sich mustert. Tiefe Augenringe zieren ihre bleiche, fleckige Haut. Sie ist immer zufrieden mit sich gewesen, zufrieden aber nicht übermäßig begeistert. Einzig und allein ihr Haar ist es, dessen Schönheit sie sich bewusst ist. Seidig und silbern wie Mondlicht—einzigartig, das weiß Eden. Sie zwirbelt eine Strähne um ihren Zeigefinger. Wut blubbert in ihr auf. Es macht keinen Unterschied, wie schön und lang ihre Haare sind, oder wie grün ihre Augen. Erneut verlässt ein Schluchzer ihre Kehle und Eden zieht mit aller Kraft an der Strähne zwischen ihren Fingern. Bevor sie sich versieht, hält sie stattdessen ihren Zauberstab in den zitternden Händen.

     Ein Gedanke durchfährt sie—dunkel und unaussprechbar, egal, wie himmlisch er für einen Moment scheint. Ihr Leben ist noch nicht zu Ende, auch wenn Eden es sich manchmal wünscht.

Eden schluckt und versucht sich zu sammeln. Sie wird weiterleben müssen. Sie erlaubt sich zu trauern, doch bald wird sie weitermachen müssen wie zuvor.

     Die erste Strähne fällt zu Boden, langsam und leicht wie eine Feder. Mehr und mehr helles Haar kontrastiert mit dem dunklen Holzfußboden. Eden fühlt sich eigenartig abwesend.

     Weitermachen.

     Nicht darüber nachdenken, was sie verloren hat. Bloß nicht darüber nachdenken.

     Stattdessen weitermachen.

     Weiterleben.

     Und vor allem—das ist das wichtigste—nicht nach Antworten zu suchen. Niemals nach dem Warum? fragen.

„Er wird mich fragen, Sirius zu töten, eines Tages. Dessen bin ich mir sicher. Es wird die finale Aufgabe sein, mit der ich mich beweisen muss."

Eden muss akzeptieren, dass er ihr gegenüber nicht die komplette Wahrheit preisgeben würde. Sie darf deswegen nicht wütend werden, das weiß sie, ansonsten würde er sich weiter von ihr abwenden.

„Ich könnte es nicht tun," flüstert Regulus beschämt.

Es gibt vieles wofür er sich schämen dürfte, denkt Eden. Doch das ist nicht eines davon. „Ich bin mir sicher, dass der Dunkle Lord keine Fehler vergibt."

Regulus lächelt. „Nein, mit Sicherheit nicht. Genauso wenig wie meine Eltern, auch wenn ihre Strafe wohl weniger tödlich ausfallen würde."

„Sag so etwas nicht," antwortet sie harsch. „Ich werde nicht vor 20 meinen Ehemann verlieren und eine Witwe werden."

„Dann muss ich wohl noch einige Jahre mit meinem Verrat warten," schmunzelt er.

Brennende Wut steigt in ihr auf, als sie trotz allem an diesen Tag zurückdenkt. Ist es das gewesen, was ihn ihr genommen hat? Und wenn ja, sollte sie dann stolz auf ihn sein? Eden wird es wohl niemals herausfinden.

     Sie streicht sich durch das nun kinnlange Haar und überlegt, ob sie sich einen Pony schneiden sollte.

Eden erinnert sich daran, was Sirius gezischt hatte, wütend und traurig. „Soviel ich weiß, hat er bis zu einem gewissen Punkt bei den Todessern mitgemacht, dann bekam er Panik angesichts dessen, was von ihm verlangt wurde, und versuchte wieder rauszukommen. Aber man reicht bei dem Dunklen Lord nicht einfach seinen Rücktritt ein. Dienen, ein Leben lang, oder der Tod."

Seltsam, denkt Eden, dass man das Leben eines Menschen auf so wenige, bittere Sätze reduzieren kann.

     Die Ungewissheit ist das schlimmste als sie weint und weint und weint. Eden wird niemals wissen, warum er gestorben ist. Er wird nie wieder sehen, nie wieder hören. Er wird nie wieder lachen und nie wieder lieben und er hat sie geliebt, das weiß sie. Sie hat ihn auch geliebt, auf ihre eigene Art, doch war es nie genug.

Es wird nichts übrig bleiben. Kein Atem, kein Blinzeln, nichts.





JENSEITS VON EDEN.     Anmerkungen.

Es fiel mir sehr schwer, dieses Kapitel zu schreiben. Ich liebe Regulus Black mit meinem ganzen Herzen und er hatte etwas besseres verdient, als alleine in einer Höhle zu sterben.

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