39 Fremont Street.
┊ ┊ ┊ ★ ISABELL
┊ ┊ ☆
┊ ★
☆
Die Firma meiner zwei Cochlea Implantate meldete sich am nächsten Tag bei mir, kaum, dass meine Email mit meinen Problemen raus war. Schriftlich teilten sie mir mit, dass ich mir nur bei der University Health Center of Southern Nevada anmelden müsste, sie wüssten Bescheid. Ich würde Las Vegas nicht einmal verlassen müssen. Kontaktinformationen schickten sie mir direkt mit. Dort könnte man mich untersuchen und auch meine Technik prüfen.
MED-EL und meine zuständige Klinik in London baten jedoch darum, dass ich in London mit meinem bekannten Techniker Kontakt aufnahm, sollte sich das Problem vor Ort nicht beheben lassen.
Denn Fakt war, meine rechte Seite blieb dumpf, so als wäre man furchtbar erkältet. Gewisse Tonlagen wurden verschluckt. Das Linke ging an und aus und an und aus. Deshalb ließ ich es direkt weg und erklärte Harry beim Frühstück was los war.
Er runzelte besorgt die Stirn: „Wo musst du...?"
Ich konzentrierte mich dermaßen auf sein Mundbild, dass ich mich zurück in die Uni versetzt fühlte, als meine Dolmetscher immer mal wieder ausfielen: „Ich nehme mir einfach ein Taxi. Um halb elf habe ich den Termin."
Mein Freund presste die Zähne aufeinander, denn er konnte nicht mitkommen. Um zehn traf sich die Crew, um den Dreiteiler durchzusprechen, den One Direction aufnehmen würde.
„Ist schon okay", sprach ich müde. „Du kannst nichts dafür, dass du arbeiten musst."
„Jerry... dich fahren", las ich Harrys Lippen und ich erinnerte mich daran, was der Personenschützer am Vorabend sagte. Ich nickte und meldete mich beim ihm. Während ich auf eine Nachricht von Jerry wartete, betrachtete ich Harry. Er sah so fertig aus, wie ich mich fühlte. Doch trotzdem bewegte er sich, als würde er federleicht dieses wahnsinnige Tempo von seiner Normalität halten.
Ich schaffte das nicht mehr. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen.
Jerry meldete sich und ich begann mich fertig zu machen. Nachdem ich mir mein Jeanskleid zugeknöpft hatte, die Tasche schulterte und Harry sich von mir verabschiedete, da schwor ich mir, dass ich mit ihm gesprochen hatte, noch bevor wir Vegas verließen.
Vorher hatte ich andere Probleme. Jerry war wirklich hilfsbereit und ich versuchte vom Auto aus Las Vegas zu genießen. Aber es war einfach nur schrecklich heiß und ich versuchte nicht daran zu denken, wie trocken die Luft außerhalb des Autos war.
„Kann ich auf dem Rückweg über den Strip laufen?", horchte ich und wandte mich Jerry zu. Dieser schmunzelte und zeigte mit den Daumen nach oben.
Es überraschte mich nicht, dass ich MED-EL schließlich in einer Klinik fand und sie eine extra Abteilung hatte. Das Gebäude war gehörlosenfreundlich und ich fand mich spielend leicht zurecht. Alles war systematisch und in leichter Sprache aufgelistet. Hinter manchen Wegweisern befand sich sogar ein Bild.
Man meldete sich im Sekretariat an, kam ins Wartezimmer und ich musste prompt grinsen, als ich einen kleinen rotblonden Jungen mit griftgrünen CI's sah. Er spielte lebhaft in einer Ecke voller Spielzeug vor sich hin und die pummelige Mutter schien zufrieden und organisiert.
Ich kannte solche Termine nur zu gut. Techniker, Sprachtherapie, damit die Lautsprache verständlich klang und Krankengymnastik, um die Gleichgewichtsprobleme abzutrainieren.
Das alles konnte für ein Kind sehr anstrengend sein, aber kleine Pausen halfen dabei das Programm zwei, drei Jahre durchzuhalten. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, wie sehr ich die Sprachtherapie hasste und meine Mum versuchte mich diese eine Stunde in der Woche zu motivieren, indem wir nach den ganzen Übungen zum großen Teich liefen und mit altem Brot Enten fütterten.
Ich liebte die Zeit danach. Sie erklärte mir den Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Enten und ließ mich herumtollen. War es kalt, dann gab es danach im Auto einen warmen Kakao aus der Thermosflasche.
Aber mit einmal in der Woche Sprachtherapie war es nicht getan. Meine Mutter und ich hatten am Anfang jeden Abend zusammen geübt. Hätte sie nicht mit Esspapier getrickst, dass ich an den Gaumen befestigen musste, damit meine Zunge das L machte, wäre ich wohl nicht so kooperativ gewesen. Denn Esspapier gab es nur, wenn wir übten, und ich liebte das Zeug.
Ein Mann mit Armyhaarschnitt kam ins Wartezimmer und blickte von der Mutter mit dem Kind, zu Jerry und mir. Dann sprach er langsam und sauber: „Isabell Weston?" Es war kinderleicht von seinen Lippen zu lesen.
Prompt erhoben wir uns und erst da wurde Jerry und mir klar, was für ein Bild wir abgaben. Jerry hielt man für meinen Vater und als ich es aufklären wollte, zwinkerte er und ich ließ es.
„Ich bin Mr Torres, die Zweigestelle aus London hat mich angeschrieben", begann der Techniker. Er führte uns in sein Büro, in dem sich ein Computer und zwei Bildschirme befanden, plus zwei Schuhkastenartige Receiver, an denen verschiedene Empfangsspulen angeschlossen waren. Nachdem wir ihm gegenüber Platz genommen hatten, wollte er von mir erfahren, was genau mein Problem war.
Sachlich erklärte ich es ihm und er bat mich darum, dass ich meine beiden Sprachprozessoren abmachte, quasi den äußeren Teil der CI's, den ich abnehmen konnte. Ich reichte ihm beide und er schloss diese am Computer an.
Dort konnte er sich ansehen, ob die Technik im Inneren funktionierte, oder ob es Fehleinstellungen gab. Mein Herz sackte ein Stockwerk tiefer als Mr Torres die Stirn runzelte: „Mit den Soundprozessoren ist alles in Ordnung."
Er sprach ruhig und deutlich, sodass ich leicht, wie nebenbei, von seinen Lippen las. „Ich kontrolliere eben noch die Sendespule, die direkt am Kopf befestigt wird. Das könnte den Wackelkontakt erklären."
Ich drückte mir selbst die Daumen, aber die Sendespule war funktionstüchtig. Automatisch beschleunigte sich mein Herzschlag und auch an der Miene von Mr Torres merkte ich, dass er sich Sorgen machte.
Nun nutze er eine Sendespule, extra für Techniker und reichte sie mir. Man konnte sie durch den Magneten ganz normal am Kopf befestigen. Eine Schnur ging dann zum Computer und ich hörte ab und an Töne. Mal klar, mal dumpf, mal unglaublich leise. Einen längeren Augenblick kam überhaupt nichts.
Wir tauschten die Sendespule an jeder Seite noch ein weiteres Mal aus, es blieb absolut still und der Gesichtsausdruck von Mr Torres wurde unleserlich. Er wollte eine zweite Meinung und holte einen weiteren Techniker dazu, der sich nun ebenfalls die Ergebnisse ansah und nach fast zwanzig Minuten räusperte er sich.
„Wie lange haben Sie die beiden CI's schon?"
„Bestimmt fast 22 Jahre." Den genauen Zeitpunkt wusste ich nicht, da würde ich nachschauen müssen.
Verstehend nickte er und drehte dann den Bildschirm. Es erschienen Grafiken, die ich nicht verstand. Geduldig und immer auf ein klares Mundbild bedacht, erklärte Mr Torres: „Die Empfangsspule unter der Haut am Kopf nimmt die Signale nicht mehr fehlerfrei auf, deshalb wirkt es, als hätte das CI einen Wackelkontakt. Beim anderen ist die Elektrode zu alt und der Elektrodenkontakt fehlerhaft, dies führt dazu, dass die Signale dumpf weitergegeben werden."
Eine merkwürdige Vorahnung überkam mich.
„Nach zwanzig Jahren nutzt sich die Technik, wie bei jedem anderen Gerät, ab. Im Durchschnitt hält ein CI maximal 25 Jahre und nach dem aktuellen Stand haben Ihre CI's das Zenit erreicht."
„Also sollte ich nun über eine Reimplantation nachdenken?", viele Freunde hatten eine hinter sich und mir war nicht fremd, was da auf mich zukommen würde. Genau deshalb schob ich diesen Gedanken immer weit von mir.
Mr Torres nickte: „Das ist auf jeden Fall etwas, was Sie ins Auge fassen und mit ihrem Techniker in London näher im Detail durchgehen sollten. Vielleicht holen Sie sich dort auch noch einmal eine zweite Meinung. Aber ich denke nicht, dass mein Kollege zu einem anderen Ergebnis kommt." Er kramte in seiner Schreibtischschublade herum und reichte mir eine Mappe.
Auch die kannte ich.
Man bekam eine ähnliche, wenn man sein erstes CI machen ließ. Dort standen die Vorgänge und Abläufe solch einer Operation drin, aber auch die Möglichkeiten, die man hatte. Man wählte seine CI-Firma, seine Art der Nachsorge, ob Kur oder eine Ambulante, die einmal die Woche fast drei Monate stattfand.
Regelmäßig stellte der Techniker das CI etwas anders ein, denn er konnte nicht sofort den Turbo hochschalten. Der Kopf würde das nicht aushalten. Deshalb kam man nur Schritt für Schritt der normalen Lautstärke der Welt näher. Manchmal blieb sie jedoch leise, weil man sich nicht an die geballte Lautstärke gewöhnen konnte.
So gut wie niemand erreichte je 100%.
Aber eine Reimplantation war ein ganz anderes Kaliber.
Im Auto, als ich all die Unterlagen auf den Knien hatte, da musste ich tief durchatmen.
Scheiße.
Die Reimplantation würde mich viel Zeit kosten, bestimmt etwas mehr als ein Jahr. Eigentlich hatte ich gedacht nach der Uni endlich richtig durchstarten zu können und mich um einen festen Job zu bemühen. Doch das würde nun etwas schwierig werden, besonders weil beide CI's betroffen waren.
Jerry startete den Motor nicht sofort, stattdessen wollte er wissen, was eine Reimplantation bedeutete.
Ich sprach: „Man wird mir beide alten CI's entfernen und zwei neue einsetzten. An sich gut, doch die Sache ist die, das Implantat unter der Haut, wird man am Kopf nicht an genau derselben Stelle setzen können. So präzise ist kein Arzt. Wenn ich also dann beide neuen CI's nutze, klingt alles wieder anders und ich muss Hören neu lernen."
Und mich wieder umgewöhnen.
Als würde man ein Paar Schuhe bekommen, und zwar nur dieses eine Paar, das man dann unter allen Umständen lange einlaufen musste. Ganz egal ob die Schuhe drückten, Blasen machten, oder Druckstellen.
„Ich muss dann wieder zu Hörtest, der Logopädie und regelmäßig zum Techniker. Alles wird anders und laut klingen", eine Reimplantation bedeutete viel Stress und Geduld. Am Anfang konnte ich ganz sicher das Geräusche eines Wasserhahns nicht von dem einer Klospülung unterscheiden. Die Stimmen meiner Eltern, Großeltern, aller Menschen, die kannte, nahmen eine andere Klangfarbe an.
Davor galt es noch die Operation durchzustehen. Man würde mir zwei Stellen am Kopf öffnen und je eine links und rechts hinter dem Ohr. Ich würde Gleichgewichtsschwierigkeiten haben und fast sechs Wochen erst einmal gar nichts mehr hören, weil die Wunden heilen mussten, bevor man das Implantat überhaupt aktivieren konnte.
Sechs Wochen, wenn ich Glück hatte. Sollte sich etwas entzünden, dauerte es länger. Den Alltag in der Zeit zu bewältigen, war nicht ganz problemlos. Kleinigkeiten würden mich anstrengen und mal eben durch die Straßen zu hetzten, war nicht drin.
Jerry hörte sich alles in Ruhe an, dann tätschelte er mir die Schulter und deutete auf seine Lippen von denen ich lesen sollte: „... aufheitern, wir... Fremont Street."
Dies war der alte Teil von Vegas und die wohl bekannteste Straße der ganzen Stadt. Ich hatte sie gerne sehen wollen, aber gerade war mir danach unter eine Bettdecke zu verschwinden. Widerwillig nickte ich, ich würde es bestimmt bereuen die Chance nicht genutzt zu haben. Mein Kopf war voll mit Dingen, die ich jetzt erledigen musste, wenn ich eine Reimplantation wollte.
Die Klinik in London musste informiert werden, meine Krankenkasse angeschrieben, meine Eltern ins Bild gesetzt werden, Termine zu Voruntersuchungen und, und, und. Plötzlich wuchs meine To do – Liste bis zum Jupiter. Zu allem Überfluss mischte sich auch ein Fass voller Angst dazu.
Jerry war der Meister in Ablenkung. Er führte mich in die Fremont Street und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sichtlich geplättet machte ich mit dem Handy ein Foto nach dem nächsten.
Es reihten sich ein Casino an Casino, ab und an saßen dazwischen Restaurants und Hotels. Über unseren Köpfen war eine animierte Decke. Sie zeigte nicht nur Werbung, sondern auch Filme und rollende Würfel, die gespielt wurden.
Begeistert versuchte mir Jerry mit Händen und Füßen zu erzählen, dass zu jeder vollen Stunde die Beleuchtung der Straße ausging und die Viva Vision Light-Show gespielt wurde. Für das Salz in der Suppe sorgte die ohrenbetäubende Musik, die aus allen Richtungen kam. Mich erreichte die Musik nicht ganz so laut und verstärkt nur der Bass.
Sämtliche Leute, auch wir, blieben stehen und starrten gebannt nach oben an die Decke. „Wow", entwich es mir völlig geplättet.
„Wir... Hotel Golden Nuggets", versuchte Jerry übertrieben deutlich zu sagen. „Rutsche geht durch ein Haifischbecken. Plexiglas trennt... vom... Meer."
„Das wäre etwas für Arlo", fand ich. Aber 25 Dollar dafür zu bezahlen fand ich doch echt happig. Lange hielt meine miese Stimmung nicht an, denn Jerry lud mich auf einen Burger ein und ärgerte mich danach: „Jetzt machen wir etwas, wo... Burger... zurückkommt."
„Wie meinst du das?", skeptisch runzelte ich die Stirn und etwas später standen wir vor SlotZilla. Damit konnte man durch die Fremont Street zischten. Hoch über den Köpfen der Besucher zogen acht Stahlseile hinweg. Man konnte im Sitzen sausen, oder wie Superman das Spektakel genießen.
Jerry hielt mir zwei Tickets unter die Nase, die er bereits gekauft hatte. „Ich dachte gestern schon... du brauchst... etwas Gutes."
„Da hast du verdammt noch einmal recht!", fand ich und ging voll motiviert auf die SlotZilla zu. Der Treppenaufstieg hatte die Form eines gigantischen Einarmigen Banditen, vorab zeigten wir unsere Tickets vor. Zuerst zögerte ich und wollte die untere Zipline nutzen, aber Jerry schüttelte den Kopf. Wenn schon, dann sollten wir fliegen wie Superman.
Mit einem murmligen Gefühl im Bauch ließ ich mich festschnallen. Neben mir schien Jerry ganz heiß auf die Fahrt. Nachdem wir ausreichend gesichert waren, zogen uns die Gurte waagerecht nach oben und ich schluckte. Hoffentlich kam mir der Hamburger nicht wieder hoch.
Innerhalb von Sekunden waren die Bedenken jedoch vergessen. Wir sausten in einer hohen Geschwindigkeit über die Besucher der Fremont Street hinweg. Die vielen bunten Lichter wurden zu einem Meer und für diesen kleinen Augenblick, als mir der warme Wind um die Nase flog, vergaß ich sämtliche Sorgen, die ich hatte.
Las Vegas verschluckte auch mich in seinem Sog der Sorglosigkeit. Das bedeutete jedoch nicht, dass sämtlicher Kummer automatisch verschwand.
- - -
Hello ihr Lieben :)
Danke für eure süßen Kommis und den Votes, Antworten in Arbeit <3
So... ich hoffe, man hat in etwa verstanden, was eine Reimplantation ist und weshalb sie durchgeführt wird. Dies ist nicht einfach. Man verlässt das gewohnte Hören und muss noch einmal neu lernen. Es ist schon sehr anstrengend, wenn man das erste CI bekommen und eine Kopf-OP ist kein Pippifax. Man bleibt nicht einfach ein paar Wochen zu Hause und der Rest wird schon.
Das Ding drückt auch ziemlich auf die Psyche, weil man zu der Zeit auf der operierten Seite nichts hört und bei Isabell sind gleich beide Seiten dran. Natürlich kennt sie die "stille Welt" nur zu gut und ist da zu Hause. Aber sie hatte die Möglichkeit zu hören, wenn sie es wollte. Schließlich hat sie ja auch Freunde, wie z.B Sunny und Fizzy, mit denen sie normal spricht.
Könnt ihr euch vorstellen, für einen langen Zeitraum gar nicht zu hören? Oder hattet schon einmal Probleme mit dem Hören durch eine Ohrenentzündung? Wenn ja, habt ihr das gut weggesteckt, oder drückte euch das auch arg aufs Gemüt?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top