19 Du und ich.

┊  ┊  ┊          ★ ISABELL

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„Komm schon, nicht einschlafen", sprach ich und zerrte Harry an der Hand hinter mir her. Es war ein kalter, aber wolkenloser Tag. Strahlend blauer Himmel erstreckte sich über uns, so als wolle er uns belohnen.

Zuerst hatten wir lange ausgeschlafen, oder viel eher Harry. Ich war viel zu früh wach und entwickelte mich zu einem gruseligen Stalker. Völlig unverblümt beobachtete ich ihm beim schlafen und bewegte mich so vorsichtig in seinen Armen, als wollte ich eine Bombe entschärfen.

Ihn nicht zu wecken war jedoch nicht groß schwierig.

Tief atmete ich seinen vertrauten Geruch ein und studierte jede kleine Regung in Harrys Gesicht. Er wirkte unglaublich entspannt. Ich wusste nicht, wann wir nach dem Bad eingeschlafen waren. Dafür verlor ich zu sehr jedes Zeitgefühl. Denn Harry revanchierte sich für den völlig überhasteten Sex in Hamburg.

Noch immer prickelte meine Haut, wenn ich daran zurückdachte, wie sich seine Lippen anfühlten und welche Empfindungen er mit zärtlichen Berührungen auslösen konnte. Jede Frau dieser Welt sollte einen solchen Mann ins Bett kriegen dürfen.

Nur eben nicht Harry.

„Schalte einen Gang zurück", lachte er und stolperte hinter mir her. Um uns herum waren zahlreiche weitere Touristen und wir wurden ebenfalls welche. Unauffällig hatte Harry sich eine Mütze ins Gesicht gezogen und trug so unauffällige Kleidung, wie einst in London.

Mit der Streberbrille auf der Nase sah Harry eher wie ein Kunststudent, statt wie ein Popstar aus. Seine Tattoos waren verdeckt und sein halbes Gesicht ebenfalls. Trotzdem sah ich ihn absolut klar vor mir.

Was mich so happy machte? Wir waren tatsächlich zu zweit unterwegs. Ohne Jerry, ohne irgendeinen anderen Schatten. Nur wir beide. Ich vermutete, dass Harry überhaupt niemanden einweihte, denn er stürzte mit mir so hektisch durch die Lobby des Hotels, als wollte er vor jemanden davonlaufen. Wahrscheinlich taten wir das auch, doch es juckte mich nicht.

Kühler Wind erfasste uns und dann blieb ich im Meer an Touristen stehen. Direkt unter dem Eiffelturm. Wir hatten es tatsächlich geschafft. Ich grinste wie ein Backenhörnchen und sah auf das gewaltige Gerüst Stahl über uns. „Können wir ein Foto machen? Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte!"

„Du kriegst nie wieder Espresso zum Frühstück", sprach Harry während ich hastig mein Handy aus der Tasche kramte. „Wir haben den ganzen Tag für uns, also alles mit der Ruhe."

Trotzdem tat er mir den Gefallen und gab mir sein smartes Lächeln als ich die Handykamera aktivierte. Ich wollte mehrere Fotos schießen, für den Fall, dass einer von uns aus versehen die Augen zu hatte, doch die Sorge war unbegründet.

Harry drückte mir einen Kuss auf die Wange oder legte sich eine meiner Haarsträhnen unter die Oberlippe, es sah aus, als hätte er einen Schnurrbart. Das waren diese unbeschwerten Momente, die ich vermisst hatte.

„Isabell?"

„Hm?"

„Lass uns einfach hier bleiben", murmelte Harry und hielt mich fest umarmt. Ich musste lachen: „Genau hier?"

„Ja, an Ort und Stelle", nickte er. „Bis morgen früh und noch länger."

„Das wird aber arg kalt", fand ich, doch Harry zuckte mit den Schultern: „Ich wärme dich."

Prompt lachte ich erneut: „Jetzt werde mal nicht kitschig."

„Wieso nicht? Wir haben viel zu wenig Zeit für Kitsch", fand er und ich musterte ihn. Irgendwie hatte er da recht. Ich schlang nun meine Arme ebenfalls um Harry und fühlte mich absolut gut aufgehoben.

Seine weichen Lippen strichen über meine und dann ließ ich mich einfach unter dem Eiffelturm küssen. Andere Touristen hin oder her, aber das war mein ganz persönlicher Paris-Moment. Jede kleine Sekunde genoss ich und wir blieben tatsächlich noch eine ganze Weile wo wir waren.

„Wie sieht's aus, willst du hoch fahren?", fragte ich und Harry legte den Kopf in den Nacken: „Hm... nein, nicht unbedingt. Du?"

Ich auch nicht.

Das brachte ihn zum grinsen: „Du hast schon einen komischen Geschmack. Nach Disneyland willst du nicht, dort rauf auch nicht. Du magst kein Spa und bist wahrscheinlich auch nicht der Typ für eine Weinverkostung."

„Oh ins Disneyland würde ich schon wollen, aber mir ist nicht danach ewig anzustehen und durch den eiskalten Wind gewirbelt zu werden", gab ich zu. „Im Sommer vielleicht."

Meine Hand glitt in Harrys und er verschränkte unsere Finger miteinander. Es war, als würde er meine Gedanken lesen, denn er sprach: „Punkt eins auf unseren Ballonkarten haben wir erledigt. Aber jetzt will ich versuchen mich an unserem Vertrag zu halten."

Ich runzelte die Stirn: „In wie fern?"

„Wir haben in Frankfurt vergessen das Hotelbett auf Sport zu testen, doch das hält mich nicht davon ab das monatliche Date einzuhalten. Ist ziemlich eng geworden, weil der Monat heute Nacht rum ist und der Nächste schon beginnt", erklärte er. Sofort erinnerte ich mich, unser letztes Date hatten wir vor fast acht Wochen, am Anfang des letzten Monats.

Wir schoben uns an den anderen Touristen vorbei und Harry sprach weiter: „Also mein Mädchen, ich habe zwei Dinge für uns geplant. Ansonsten steht der Tag frei vor uns und wir können machen, was wir wollen."

„Mein Mädchen?", schmunzelte ich und Harry verzog angestrengt das Gesicht: „Ich habe lange über einen Kosenamen für dich nachgedacht, aber ich fand die Typischen irgendwie nicht passend. Du weißt schon, du bist kein Baby oder Hase."

„Und Süße und Hübsche schmeckte dir nicht?", zog ich ihn auf. Harry sah mich ernst an: „Natürlich bist du hübsch, aber ich... finde den Kosenamen so oberflächlich. Außerdem... mag ich den Gedanken, dass du mein Mädchen bist."

Augenblicklich lief ich knallrot an und antwortete nicht darauf. Stattdessen freute ich mich über den Kosenamen. Gleichzeitig fiel mir auf, dass ich für Harry keinen hatte und auch noch nie einen Gedanken daran verschwendete.

Wir nutzen das öffentliche Verkehrsmittel mit einer Tageskarte und im Bus versuchte ich Harry zu entlocken, wo genau es hingehen würde. Doch er ließ sich nicht auspressen, stattdessen ärgerte er mich, indem er Vermutungen von sich gab.

„Versailles, Arc de Triomphe, oder war es doch Notre-Dame?"

„Du bist fies!", beschwerte ich mich, doch er lachte nur. Als wir endlich ausstiegen, da sah ich mich hastig um. Doch ich entdeckte erst, was er geplant hatte, als wir direkt davor standen.

„Die Katakomben", wie cool war das denn? Der Pariser, schauriger Untergrund. Meine Vorfreude platze aus allen Nähten und klugerweise hatte Harry bereits Tickets gekauft, mit denen wir nur 15 Minuten anstehen mussten und keine zwei Stunden.

Zuerst mussten wir 140 Stufen unter die Erde. Je tiefer man kam, umso merkwürdiger wurde das Gefühl in meinem Magen. Während die Umgebung auf kalte 14 Grad fiel, hielt Harrys Hand meine weiter fest umschlossen und als wir unten ankamen, da war ich froh darüber.

Das Licht der Gänge war gelblich und jagte mir den ersten Schauer über den Rücken. Doch als Harry sprach: „Bilde ich mir das ein, oder riecht es hier tatsächlich etwas merkwürdig?", da glaubte ich Staub, verwestes Fleisch und Tod zu riechen. Als wären wir in eine dunkle Zeit von Frankreich gestolpert.

„Wüsste ich nicht, dass das hier ein Museum ist, würde ich es gruselig finden", gab er zu und ich verschwieg, dass ich auch so genug Schauer verspürte. Der wirkliche Horror kam jedoch erst noch.

Ganze Wände bestanden aus Menschenknochen und Schädel. Harry tat wirklich alles, damit mir die Haare zu Berge standen, denn er erklärte mir: „Angeblich liegen hier mehr als sechs Millionen Menschen. Als hätte man die toten Körper einfach gehortet."

Prompt spürte ich einen Atem in meinem Nacken und sprang geschockt zur Seite, fast in die Überreste der toten Franzosen. Mein Herz raste, bis ich Harry ansah, der sich nur mühsam zwang nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

„Nicht cool!", fand ich, aber er sah das anders: „Oh doch, definitiv cool. Du hättest dein Gesicht sehen sollen!"

„Es hat sich angefühlt als hätte ein Geist in meinen Nacken geatmet!", schimpfte ich leicht verärgert, denn ich gruselte mich nicht gerne. Obwohl nicht von der Hand zu weisen war, dass die Katakomben eine merkwürdige Faszination ausübten, so ging das an mir vorbei. Viel eher fühlte es sich an, als sollte man an diesen Ort nicht sein.

Harry umfasste erneut meine Hand und ich musste ganze zwei Kilometer unter der Erde durchhalten. Der seltsame Geschmack blieb in meinem Mund haften, wenn ich daran dachte, dass all die Knochen echt waren und wir uns das ohne Probleme ansehen konnten. Natürlich waren die Katakomben noch sehr viel länger. Man munkelte, dass es unter ganz Paris die schmalen, düsteren Gänge gab.

„Es gibt sogar ein Kino unter dem Kino", sprach Harry. „Schade, dass dort zur Zeit keine Filme laufen."

„Was ein Auftakt zum Date", murmelte ich. Das normale Kino konnte auch jeder. Wir brauchten fast eine Stunde durch die gesamte Ausstellung des makaberen. Danach ging es wieder an die Oberfläche und ich musste tief durchatmen als wir die Dunkelheit verließen.

„Ich dachte, das könnte lustige werden", sagte Harry an der frischen Luft und runzelte die Stirn. Mich schüttelte es immer noch, dass man so etwas als Erlebnis verkaufte und fand: „Du hast eine merkwürdige Vorstellung davon, was lustig ist. Aber es war wirklich interessant. Trotzdem bin ich froh, dass wir heute nicht in diesen ominösen Kinosaal gehen."

„Okay, die nächste Station wäre dann Essen", schlug Harry als Themenwechsel vor und da ließen wir uns treiben. Wir landeten in einem kleinen Restaurant, das ausschließlich Crêpes servierte. Doch statt dort zu essen, nahmen wir sie mit uns und setzten uns auf eine Bank, ganz in der Nähe von Notre-Dame.

Glücklich biss ich in das Crêpes mit Schokolade und Bananenscheiben, während Harry Speck und Käse vorzog. Wir beobachteten die Bauarbeiten an der Notre-Dame und stellten fest, dass die Touristen jedes Mal ihr Handy zückten. Irgendwie schade, dass die meisten Dinge so überlaufen waren, wenn es um Paris ging. Ich musste da nur an die Mona Lisa im Louvre denken.

Ab und an klingelte Harrys Handy. Zweimal schaute er drauf, doch er nahm nie einen Anruf entgegen oder schrieb eine Kurznachricht. Beim dritten Mal seufzte ich tief: „Hör mal, du kannst ruhig dran gehen. Man will bestimmt wissen, wo du bist."

„Ach, Rita wird mich nur anbrüllen und verlangen, dass wir sofort zurückkommen", antwortete er und ich dachte an die rothaarige Tour-Managerin, die wie eine Naturgewalt ausbrechen konnte. Zufrieden lächelte Harry: „Aber heute tanze ich nach niemandes Pfeife und will einfach nur mit dir Paris genießen."

„Dafür wirst du angebrüllt, wenn wir zurück sind", erinnerte ich ihn, doch er zuckte nur mit den Schultern: „Sei es drum. Das werde ich zweifelsohne überleben. Wieso zum Teufel sind so viele Sehenswürdigkeiten so extrem von Touristen überlaufen!"

Nun musste ich lachen und sah noch einmal auf Notre-Dame. „Sollen wir auch ein Bild davor machen?"

„Auf jeden Fall!"

Kurz darauf probierten wir es Notre-Dame vorteilhaft in den Hintergrund zu kriegen. Wir scheiterten grandios. Das störte uns allerdings nicht groß, stattdessen futterten wir uns durch französisches Gebäck, das wir uns beim Bäcker kauften und besuchten einen kleinen Markt.

Dort gab es mehrere Straßenkünstler, die in ihrem eigenen Stil Porträts zeichneten. Neugierig beobachteten wir sie. Zwischen Postkarten, Obst und Gemüse, blieb Harrys Blick an einem Stand hängen, wo in dicken Mappen Malerei verkauft wurde. Er schnüffelte sich geduldig durch die Kunst und kam mit dem jungen Mann ins Gespräch.

Wenig später zog er mich in eine Galerie, die ich nicht einmal bemerkt hätte, wenn er sie nicht angepeilt hätte. Eine adrette ältere Romy Schneider-Verschnitte eilte auf uns zu und ich hörte Harry erneut französisch reden. Es war merkwürdig, denn obwohl ich französisch durchaus lesen konnte, verstand ich akustisch einfach gar nichts.

Im kleinen Schwarzen, mit einer Perlenkette um den Hals und einer aufwendigen Föhnfrisur, wirkte Madame nicht, als würde sie uns für ernsthafte Kundschaft halten. Zumindest so lange, bis Harry erklärte, was er suchte.

„Clément Gauthier?", horchte Madame und Harry machte Gesten, die mich wissen ließen, er suche größere Werke von ihm. Ich kannte den Künstler nicht und als Madame sich kurz entschuldigte, da sprach er: „Der Typ am Stand hatte nur kleine Bilder, der Stil ist schön und vielleicht hat Gauthier etwas Größeres, was in meiner Bude nicht erdrückt wird."

Ah, ich verstand.

Einige Minuten später führte uns die Romy Schneider-Kopie in einen extra Raum, der sehr schlicht, aber gleichzeitig vornehm an Akzenten war. Auf einem Tisch hatte sie zwei schwere Mappen platziert. Sie zog sich weiße Handschuhe an und dann kam ich zum ersten Mal in den Genuss einer exklusiven Kunstausstellen.

Neugierig bestaunte ich landschaftliche Kunstwerke, gemalt in Aquarell. Die Größe der Werke war beachtlich und würden ganz sicher in Harrys Haus passen, wenn er die eine oder andere Sache änderte. Aber ich wusste ja nicht, wo er sie aufhängen wollte.

Felder aus Mohnblumen, stille Seen, verlassene französische Cottages, ein bisschen Kitsch, der Geschmack war schon interessant. Ich hätte Harry eher abstrakte Kunst zugetraut.

„Sieht ein bisschen nach Albrecht Dürer aus", sprach ich und deutete auf einen Fluss. „Wären die Farben kräftiger, hättest du allerdings einen fast täuschend echten Eugène Delacroix."

Madame sah mich erstaunt an und fragte etwas auf Französisch. Schmunzelnd antwortete Harry für mich und die Laune der Galeristin schien sich zu heben.

„Schlägst du mich, wenn ich dir verrate, dass ich keine Ahnung habe, wer Dürer ist?", wollte er wissen und sein Grinsen wurde breiter. Ich erwiderte es: „Nein. Nach was suchst du?"

„Nach nichts Bestimmten", gab er zu. „Ich mag einfach die Art der Malerei."

Sanft und unaufdringlich. In Aquarell war es schwierig Details umzusetzen, doch Clément Gauthier schien eine ruhige, feine Hand zu haben. Bei den Bildern aus den Bretagnen wurde Harry schwach. Er sah sich die Werke mehrmals an und an seiner Miene erkannte ich, dass er seine Favoriten gefunden hatte.

Insgesamt wollte er drei große Bilder und während er mit Madame Einzelheiten klärte, sah ich mir in der offiziellen Galerie die Bilder an. Die Preise waren nicht meine Liga und ich wollte mir nicht vorstellen, was Harry für seine drei bezahlte. Meiner Meinung nach musste gute Kunst nicht immer teuer sein, doch die Kunsthändler und Liebhaber sahen das anders.

Wenn ein Bild mit der Zeit nicht an Wert dazugewann, war es nicht gut. Die erste eiserne Regel im Geschäft.

„So, alles wird geliefert", sprach Harry und setzte sich wieder seine Mütze auf.

„Machst du das Öfters? Also Bilder kaufen?", fragte ich während wir nach draußen traten und er nickte: „Manchmal. Ein paar musste ich jedoch einlagern lassen und andere habe ich verliehen."

„Irgendetwas, was man kennen sollte?"

Er schmunzelte: „Ich besitze keinen van Gogh, falls du das meinst. Die meisten Werke habe ich gekauft, weil sie mir einfach nur gefielen. Doch manchmal passt der Stil nicht so gut ins Haus, wie man glaubte. Oder die Luftfeuchte ist nicht sehr vorteilhaft."

„Genau deshalb habe ich wohl keine Bilder, außer Poster", schlussfolgerte ich.

Plötzlich, ohne Vorwarnung ging Harry auf einmal schneller. Beinahe stolperte ich und der Griff um meine Hand wurde fester. Überrumpelt sprach ich: „W-Was ist los?" Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, da dämmerte es mir.

Jemand hatte uns entdeckt.

Scheiße.

War unser freier Tag jetzt schon vorbei?

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