5: Morgendliches Abhauen (31.01.2025)
Je nachdem, was der andere sagt, wann er aufstehen muss, behaupte ich, ich sei eine Frühaufsteherin oder Langschläferin. Ich freue mich immer, wenn der andere arbeiten gehen muss, deshalb gehe ich Montag bis Donnerstag sowie Sonntags aus. Und behaupte dann natürlich, ich wäre eine Langschläferin. Manchmal frage ich gleich an betreffendem Abend, ob und was der andere arbeitet, je nachdem, wie risikofreudig ich für das kommende Morgenprogramm bin. Natürlich gehe ich nicht an jedem der im vorletzten Satz genannten Wochentage aus, und natürlich endet auch nicht jeder Abend mit einem Morgenprogramm (wenn auch viele, um nicht zu sagen: die meisten). Man kann trotzdem meinen: So viel Zerstreuung braucht ein Mensch doch nicht! Aber dazu muss man wissen: Es ist fast meine einzige Zertreuung. Doch niemand fragt danach, ich muss es keinem erklären. Selbst wenn jemand fragte, so müsste ich das nicht.
Und niemand hat mich bisher irgendetwas gefragt, niemand weiß es. Und ich wusste gerade kurz nicht, wo ich war, als ich aufwachte. Ich liebe dieses Gefühl, diese Mischung aus Erwachen und Überraschen. Nach dem kurzen Moment wird es mir klar, die Realisation rauscht in meinen Adern nach. Zwar weiß ich nun, wo ich bin, jedoch kenne es noch nicht so richtig. Und ich bin allein. Schön still allein.
Ich mache das Fenster auf, das an sein Bett grenzt, schaue nach draußen und spüre die kühle Luft auf meinem nackten Körper. Immer wenn mir bewusst wird, wie allein ich bin, ist dieser Gedanke mir so so nah, dass ich wieder doch nicht allein bin. Ich gieße mit dem Glas Wasser, das neben seinem Bett auf dem Boden steht, seine Pflanzen – die, die am traurigsten aussehen – und suche meine Kleider zusammen. Ehe ich mich anziehe, stelle ich mich vor sein Bücherregal und lasse den Blick schweifen. Ich sehe dicke (alte) und dünne (Reclam) Klassiker. Und zwischendurch Untenrum frei von Margarete Stokowski, Radikale Zärtlichkeit von Şeyda Kurt und das Blutbuch von Kim de l'Horizon. Ich fühle mich irgendwie wie eine erwachsene Jugendliche vor einem kindischen Erwachsenenregal. Ich kann schon mit den Sachen etwas anfangen, habe aber auf eine rebellische Weise irgendwie... keinen Bock darauf. Wobei. Dann fällt es mir plötzlich auf: Ich fühle mich genau genommen: wie eine Frau vor einem Männerregal. Klar, dazwischen stehen feministische Werke, aber deren Inhalte kenne ich und habe einfach gerade keine Lust, sie noch einmal zu lesen. Ich will einfach ein lustiges oder psychologisches oder politisches Buch, vielleicht zeitgenössisch, vielleicht von einer Frau geschrieben... Ich finde keins. Bis auf die feministischen Werke natürlich, die ich ja aber bereits ausgeklammert habe. Gerade habe ich aber auch keinen Nerv für Lolita oder Biedermann und die Brandstifter. Doch dann finde und nehme ich Katz und Maus von Günter Grass, denn schon die erste Seite liebe ich vollends, als ich es probeweise aufschlage.
Ich will gerade ins Bad oder zu seinem Kleiderschrank gehen, doch während mein Blick noch neugierig wandert, sehe ich sein Parfum auf seinem Schreibtisch stehen und sprühe mir zwei Stöße an den Hals. Ich mag Parfum, ich mag Erinnerungen über den richtigen Zeitraum die irgendwann verfliegen, und ich mag es, nicht nach mir selbst zu riechen und mich zu verstecken, und sei es hinter einer männlichen Fassade. Irritierte Blicke - mag ich auch. Nun sind schon zwei von drei Schritten absolviert, und der für mich lustigste beginnt. Es ist diesmal leichter, da es die Frühaufsteher-Version ist und er nicht mehr da ist. Die Frühaufsteher-Version ist für Genießer. Die Spätaufsteher-Version ist für Adrenalinjunkies. Die Spätaufsteher-Version, bei der ich dann die Frühaufsteherin bin und den Bücherklau, die Parfümzweckentfremdung und diesen nun folgenden dritten Schritt absolviere, erfordert deutlich mehr Konzentration, Schnelligkeit und Fehlerbereitschaft. Ich suche den Boden ab. Nach Kleingeld.
Du findest es in jedem Männerzimmer. In meinen polterigen Wochen findest du es auch in meinem Zimmer. Einmal habe ich einen Betroffenen des Phänomens gefragt, was es denn nur mit dem Kleingeld bei den Männern auf sich hat. Er erklärt es mir dann Stück für Stück, und diese Ausführungen behalte ich, so bin ich halt, nicht für mich: 1. Mann hat große Hosentaschen. 2. Und kleine Portemonnaies. 3. Die Hosen werden gern mal schnell ausgezogen und/oder auf den Boden geworfen, oder aber die Herauskram-Magie tritt ein: Mann greift in die Tasche und will etwas ganz anderes herausziehen, und das Kleingeld wird mitgerissen und schlüpft hinaus. 4. Mann hebt es nicht gleich auf, weil es a) nicht wichtig genug ist, aber b) doch wichtig, aber c) auch kein störender Müll. Diese Kombination aus Wichtigkeit und Unwichtigkeit lässt also das Verweilen auf den Dielen, an den Bettkanten, unter Teppichrändern und auf dem Boden von Wäschekörben zu. An diesem ausgeschlafenen Morgen finde ich 55 Cent: einen gut sichtbaren Fünfziger und ein etwas herausfordernderes Fünfcentstück unter einem Staubknäuel. In einem Aschenbecher aus Kristallglas liegt der Rest, doch den rühre ich natürlich nicht an. Ich halte mich an meine Regeln: Nichts mitnehmen außer Dinge die unbeachtet sind, nicht hinterlassen außer ein Buch. Die Bücher sind also genau genommen doch kein Klau, sondern ein Stoffwechsel mit meinen eigenen ausgelesenen. Nun hat er auch endlich mal eine weibliche Autorin. Ich erweise ihm also sogar einen Dienst.
Ich packe meine Tasche, werfe einen letzten kontrollierenden Blick zurück, merke mir sein hübsches Zimmer mit den vereinzelten Staubknäulen und dem Feigenbaum und schließe dann die Tür. Vor den Fluren hab ich nie Angst, ob ich Mitbewohner*innen begegne oder nicht, das ist mir gleich. Ich mag die Ruhe, ich mag das Gespräch. Heute begegne ich niemandem. Ich lasse meine Füße das Treppenhaus herunter hüpfen, der Hauseingang spuckt ich aus und ich drehe mich an der Kreuzung drei mal im Kreis. Ich finde den Bus, doch er ist gerade abgefahren. Laufe ich halt zum Zeitvertreib zur nächsten Station.
Die Sonne malt die Häuser von oben nach unten golden an, ganz gleichmäßig, ganz langsam.
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