4: Neoliebe (26.01.25)
Es ist Sonntag, ich komme später und gehe eher, und bekomme dafür vollen Lohn und nochmal 55 Euro Zuschlag. Manchmal hab ich Angst, wenn ich morgens im Dunkeln auf mein Fahrrad steige und mich dann frage, ob heute wohl etwas Schlimmes oder Großes passieren und ich es wohl allein nicht händeln könnte. Ich bin die Aufpasserin auf das Unternehmen, sage ich immer, wenn ich gefragt werde. Was ich denn genau machen müsste. Schwer zu beschreiben. Aufpassen halt. Sonntage sind meist friedlich und ruhig, ich hab wenig zu tun. Fast nichts. Manchmal wünschte ich, es gäbe mehr zu tun, dann würde ich die Angst nicht so sehr spüren. Könnte das Herzklopfen dem Aktivsein zuschreiben und nicht der ungewissen Stille. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, eine Chefposition inne zu haben, an einem Tag, an dem im Normalfall kein Chef gebraucht wird. Mein Herz klopft, an die Ausnahmefälle denkend.
Solange die nicht passieren, hänge ich den Weihnachtsschmuck von den Büropflanzen ab. Schreibe Liebesbriefe an meine Kolleg*innen, die sie am Montag morgen ermutigen und aufmuntern sollen. Ich koche eine kleine Kanne Kaffee für mich allein, laufe Runden, checke leere Posteingänge auf Widerhall und warte geduldig, dass es hell wird. Wenn es dann hell wird, kommen irgendwann die ersten. Sie kommen wieder, denn sie sind immer hier, tagsüber ich weiß, wie es ist, wenn sie hier sind. Oder: Ich wusste es. Seit ich die Sonntagswächterin in der stillen Dunkelheit bin, weiß ich nicht mehr wie es ist, seitdem ängstigt es mich. Sie sind mir zu viel, mit ihren ausgeschlafenen Launen und ihrer Realitätsverbundenheit. Ich kann ihnen Mails und Briefe schreiben, ihnen beim ersten Sonnenstrahl eine große Kanne Kaffee vorkochen. Aber ich kann nicht mehr keine Angst vor ihnen haben, wenn sie dann doch kommen, irgendwann im Laufe des viel zu frühen, rohen Morgens.
Mittlerweile habe ich es so getaktet, dass ich bei ihrem Ankommen perfekt fertig bin, mit einem flüchtigen Grüßen nach Draußen in den entfremdeten Feierabend entschwinden kann.
Aller 3 Wochen klaue ich dabei eine Tasse. Ich nehme immer die Schönste. Es ist meine Art der Gerechtigkeit, weil nur die ungeliebten Tassen den Weg in das Regal dieser durchgehend unaufgeräumten Teeküche finden. Und sich alle anderen zum Trinken eh immer die Erstbeste nehmen. Dann kann es also auch die Erstschlechteste sein. Zwischen all den anderen Tassen sehen auch die schönen Tassen etwas hässlich aus. Ich rette sie. Anfangs tat ich das ganz für mich allein, dann für meinen Freund und mich. Nun haben wir zu viele Tassen. Aufhören kann ich aber nicht.
Es ist Sonntag, ich komme später und gehe eher, und rufe meinen Freund an. Er sagt er macht gerade Essen für uns. Glücklich radel ich nach Hause, das Leben kann so schön sein. Ich grüße einen Kollegen mit Leichtigkeit, ich habe die Übergabe auf einen Zettel geschrieben. Manchmal frage ich mich schon noch, wann das wohl losging, und ob es jemals wieder aufhört. Heute nicht.
Zuhause finde ich mein Liebes in den Ofen starrend. Er sitzt 3 Meter weg, aber 2 Meter nach vorne gebeugt. Ich muss ihm gut zureden, dass das Essen bereit ist, aus dem Ofen geholt zu werden. Und freue mich über das Essen. Er ist still. "Was ist los?", frage ich. Er bleibt still. "Achja, es ist ja Sonntag.", sage ich. Er nickt. Ich küsse ihn auf die Stirn. Bei uns hat er das Patent auf die Traurigkeit, ich das Patent auf den Stress. Wir essen. Ich mache so lange Witze, bis er wieder Geräusche macht. Ich mache Witze, dass sein geschmolzener weißer Käse, mit der Feuchtigkeit in der Blätterteigtasche, aussieht wie Sperma. Er schiebt sie angeekelt weg. "Get a taste of your own medicine!", rufe ich, er schiebt sie noch weiter weg. Wir lachen. Ich sage: "Wie viel muss ich dir geben, dass du sie trotzdem isst?", und wir handeln es aus. Irgendwann haben wir uns auf einen guten Preis geeinigt, und er schiebt sie sich mit spitzen Fingern in den Mund. Seine Mimik ist unbezahlbar. Dass ich es mir trotzdem leisten kann, eine seiner Lieblingseigenschaften an mir. Er hat bei uns das Patent auf die Schönheit und ich auf die (Neu)Gier.
Ich zahle für mein Theaterstück und gebe ihm die mitgebrachte Tasse als Lob, dass er die Hälfte des traurigen Sonntags ohne mich überstanden hat. Er entscheidet, ob die neue alte Tasse zu den aller schönsten oder nur zu den normal schönen zählt. Die normal schönen kommen in den Ebay-Kleinanzeigen-Shop. Weil dort alle Tassen schön sind, kann man sie durch den Gruppencharme das Wort "Vintage" teurer verkaufen. Aus seinen Theaterstücken und meiner Gier und seiner Kleinanzeigen-Buchführung und meiner kriminellen Energie bezieht er sein Taschengeld. Aber eigentlich kaufe ich ihm lieber alles.
Nach dem essen igeln wir uns ein und fahren unsere Stacheln aus. Vielleicht trinken wir noch ein Glas Wein, vielleicht gehen wir nie mehr raus. Ich frage mich immer seltener, wann das wohl losging, und ob es jemals wieder aufhört. Dass es so reibungslos funktioniert: ist schon irgendwie gestört.
PS: Danach kommen wieder fröhlichere Texte, ich verspreche es!:D Sorry:-(
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