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Nach unfassbaren 15 Minuten hatten wir das im Reiseführer angeblich 8 Minuten entfernte Kaffee erreicht. Der Reiseführer hatte sich beim Berechnen der Gehzeit wohl nicht nach dem Gehtempo von Rentnern und Kindern gehalten. Eigentlich mussten wir nur eine von Wiesen umgebene Bergstraße hinabgehen, da unser Hotel etwas überhalb des Bergdorfes lag. Immer noch Teil des Dorfes, aber etwas abseits. Meine älteren Cousins und ich hatte wohl beides am Start Meine Mutter, die davor noch jeden dazu angehalten hatte, ja pünktlich zu sein, damit es nicht zu spät wurde und die Truppe angeführt hatte wie ein Stier, der gerade seinem nächsten rot gekleideten Oper hinterjagte, hatte tatsächlich von ihrer im Reiseplaner abgedruckten Karte aufgesehen und festgestellt, dass die Aussicht hier wirklich der Wahnsinn ist. Wer hätte es gedacht. Auf nem Berg gibt's ne schöne Aussicht... Das ist natürlich neu für jeden der Anwesenden. Zeit für Fotos! Da die hundert Fotos, die nun alle zehn Meter von der Landschaftsaussicht gemacht wurden, kein schnelles Tempo erlaubte, kamen wir nun eher in Rentnergeschwindigkeit voran. Illias und Ludwig und Ludwig trugen auch nicht so wirklich zu einem schenlleren Gehtempo bei. Die Kühe auf den Wiesen waren schon echt bewundernswert. Und es wäre unhöflich gewesen, keine kleine Unterhaltung auf Muisch zu führen, schließlich warne wir neu und mussten uns erst einmal vorstellen.
Kurz gesagt: Hätte wir noch eine Minute länger nahe einer Kuhwiese verbracht, wäre ich zu einem waschechten Jäger geworden. Nix Sammler und Jäger. Nur Jäger. Kuhjäger. Hungrig unnötig Zeit zu verplempern, war keine gute Idee, wenn meine Anwesenheit dabei erwünscht war. Mitten in meinen Überlegungen, wie ich diese eine Kuh mit den vier Beinen, zwei Augen und braunem Fell (vielleicht hatte ich mich noch nicht ganz auf eine bestimmte Kuh fixiert) überlisten, einfangen und zu einem frischen Mittagessen verarbeiten könnte, hatte meine Tante dazu überredet, dass wir doch später oder morgen auch noch Fotos machen könnten und jetzt weitergehen sollten. Gut für die Kuh. Ich hätte das wirklich durchgezogen. Vielleicht hätte ich den Elektrozaun von den Holzstangen entfernt, die Kuh damit umkreist, eingewickelt und fixiert – oder so ähnlich. Dass ich mich dabei selbst geröstet hätte, lasse ich außen vor, ich wollte nur verdeutlichen, dass ich das wirklich und total auf jeden Fall durchgezogen hätte. No joke. 100%-ige Realness, Freunde. So sagen das doch die ganzen realen Influencer immer, oder nicht? Lassen wir das Thema und wenden uns etwas erfreulicherem zu: Der Speisekarte.
Positiv festzuhalten ist zunächst, dass wir für 10 Personen einen Tisch bekamen. Ab fünf Personen wurde es zunehmend schwieriger, einen Tisch zu bekommen. Bei 10 Personen – ein Wunder. Allerdings gab es wohl nur zwei Speisekarten, weshalb wir Kinder uns förmlich darum schlugen, nachdem unsere Eltern ihre Auswahl getroffen hatten. Und sofort dafür gerügt wurden.
„Hört bitte auf, euch wie wilde Tiere zu verhalten! Wir sind hier in der Öffentlichkeit!", ermahnte uns meine Tante. „Willkommen im Spießertum. Meine Mutter freut sich schon auf dich", erwiderte ich sarkastisch und wedelte mit meiner Hand zwischen ihr und meiner Mutter hin und her. Meine Mutter ignorierte diesen Satz lediglich. Und ich ignorierte ihren Gesichtsaudruck. Dieser schrie nach Ich-enterb-dich-nach-dem-Urlaub-wenn-du-so-weitermachst. „Wir sind nur echt hungrig", versuchte Sven zu schlichten, auch wenn ich bezweifle, dass seine Tante mir meinen Satz krumm genommen hatte. Sie wirkte nicht wirklich aufgeregt, wie sie sich da in ihrer Tasche herumkramte. „Ich glaube, mit dem Spießertum ist was dran. Pass auf Dad, sie läuft bald auf die dunkle Seite über!", fügte Max hinzu, als seine Mutter Desinfektionsmittel aus ihrer Tasche ans Licht brachte. „Du bist echt die totale Spießermum geworden", meinte nun auch noch Kai grinsend. „Ich sorge mich doch nur etwas über die Hygienestandards hier. Ich meine, wir sind hier am Dorf! Da läuft doch alles nicht so genau. Ihr habt doch die Karten gesehen, die gehören sich schon mal abgewischt!", spießelte meine Tante als Verteidigung. „Ist schon okay", beruhigte ich sie. „Es ist in Ordnung, alt zu werden und einen Sauberkeitsfimmel zu entwickeln!" „Besser als ein Messi zu werden auf jeden Fall!" unterstützte Maxi meinen Support seiner Mutter gegenüber. „Also wirklich!", empörte sich meine Tante, während mein Onkel lachte, „Ihr seid so unmöglich! Ich habe nur über den Tisch wischen wollen, keine Rundumhygienisierung!"
Glück. Das war es, was mich durchströmte, als unser Essen zeitnah auf dem Tisch landete und endlich meine erste Gabel Käsespätzle in meinem Mund landete. Illias und Ludwig hatten den Weg von den Schaukeln zum Tisch schneller als Usain Bolt überwunden, als sich die ersten Gerichte auf den Weg zu uns machten. War ich vielleicht froh, dass es in dem Café nicht nur Kuchen gab, sondern warmes, anständiges Essen. Nichts gegen Kuchen, aber wenn man dem Hungertod so nah ist, wie ich zu diesem Zeitpunkt, reichte so ein Kuchen einfach nicht mehr aus, so traurig wie das klingt. Das brachte mich zum Explodieren, und da sprach ich aus Erfahrung. Fragt meine Mutter.
Nein, lieber doch nicht, sonst dürft ihr euch gleich anhören, wieso ich verzogen und undankbar bin und ich dankbar für das sein sollte, was ich habe, weil es genug Menschen gibt, die jeden Tag verhungern. Ich würde sofort Kuchen nach Afrika schicken, wenn es das ist, was dort nachhaltig hilft. Aber ich bezweifle, dass mein Stück Kuchen die Lösung für all die Probleme inclusive Verhungerns ist, die Afrika umtreibt.
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Nachdem wir uns vollgestopft hatten, freuten wir uns wahnsinnig auf den Spaziergang in die Stadt hinunter. Seht ihr, wie ich lächle? Ja, das ist mein natürlichstes Lächeln. Keine Grimasse. Nur mein mir von Gott gegebenes natürlichstes Lächeln, welches all meine Freunde ausdrückt, die in mir auf und abhüpfte, in aller Vorfreude auf die kommenden drei Kilometer.
„Was guckst du so säuerlich?", riss mich mein Vater aus meinen Gedanken und ich erschrak so sehr, dass mir mein gottgegebenes Lächeln glatt aus dem Gesicht rutschte und nun doch eher einer Grimasse glich.
„Was soll ich sagen? Es ist angenehm warm, wir sind im Familienurlaub, wir haben Spaß!", rutschte es mir sarkastisch hervor.
„Ach so schlimm ist es doch gar nicht. Und deine Mutter scheint sich auch langsam zu entspannen. Bei ihr dauert es nun einmal etwas länger, bis sie im Urlaub angekommen. Und ist ja auch etwas stressig mit den ganzen Kindern. Es soll halt alles perfekt sein", verteidigte mein Vater meine Mutter, obwohl ich sie gar nicht erwähnt hatte. Gut, vielleicht brauchte man wirklich nicht hellsichtig sein, um zu erraten, dass meine Mutter mich jede Sekunde ihres Lebens, dass sie mit mir verbrachte, triggerte. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich aus der Pubertät rauskam und mich wieder mit meiner Mum verstand. Schließlich gingen Eltern einem Kind bekanntlich nur auf die Nerven, weil das Kind gerade in der Pubertät ist. Wer's glaubt. So viel mit Pubertät war da mit knappen achtzehn auch nicht mehr. Aber darum ging es hier eigentlich nicht.
„Naja, es ist eher der Fakt, dass ich jetzt vollkommen vollgefressen in die Stadt latschen darf. Das ist anstrengend. Wofür hat man das Auto erfunden? Wofür besitzt ihr Autos?", redete ich mich in Rage. „Und wenn ihr darauf keine Lust habt, gäbe es immer noch Mr. Bus und Mr. Taxi. Das wäre wesentlich praktischer und schneller. Und nicht so anstrengend. Und Klima gibt's da auch. Sozusagen eine win-win-win-win-win-win-win-win-Situation. Du verstehst was ich mein." Mit zusammengekniffenen Augen nickte er mir zu. Lachte er mich gerade mit seinen Augen aus? „Ach, es sind doch nur drei Kilometer. Ein kleiner Verdauungsspaziergang schadet nicht", kam es aus seinem Mund. Pikiert verzog ich meine Lippen. Den Satz würde ich einfach ignorieren. „Jetzt freust du dich noch, aber wart ab. Wir sind hier zu zehnt unterwegs. Und das mit zwei kleinen Jungs, die eben noch so viel Wasser getrunken haben, dass ein Kamel für die nächsten drei Wochen genug Saft hätte. Was wiederum bedeutet, dass die beiden in spätestens einer halben Stunde aufs Klo müssen. Und dann werden die beiden so lange nerven bis sie auf Toilette gehen können. Aber hey, viel Spaß bei deinem Verdauungsspaziergang". Mit einem aufgesetzten Lächeln ging ich von meinem Dad weg. Verdauungsspaziergänge, pfft. Das war sowas von für alte Menschen. Oder Masochisten. Wer tat sich sowas direkt nach dem Essen an? Das war einfach nur eine Art der Selbstfolter. Wieso wurde ich da mit reingezogen? Konnte ich da irgendwen verklagen oder sowas? Schließlich war ich sowas wie ein Kollateralschaden. Ich war das Reh im Maisfeld. Während der Erntezeit. Und der Bauer, der mich ummäht, hat selbstverständlich keinen Pieper an seinem Mäher dran, sonst könnte ich da ja lebend rauskommen. Ich mein, das ist doch nicht gerecht. ICH war an die 18 Jahre alt und meine Eltern konnten mich noch zu einem Spaziergang zwingen, den nur sie brauchten und wollten.
Drei Kilometer konnten einem vorkommen wie 300 km. Entweder, weil man z.B. zu Fuß einen 16 Kilogramm schweren Koffer vom Bahnhof zum Hotel schleppen musste (akzeptal) oder weil man zwei ü40 Ehepaare mit Kleinkindern bei sich hatte (nicht akzeptabel). Glücklicherweise durften meine Cousins und ich uns in der kleinen Stadt nach einer kleinen Dorfentdeckungsphase, einigen „Wow, ist da schön hier!", „So schöne Gebäude hier!" und „Oh, schade, dass solche Blumen bei uns nichts werden!" vom Rest der Gruppe trennen.
Da Sven, Maxi, Kai und ich uns in einer friedlichen Demokratie befanden, durften sie mir zunächst in den Buchladen folgen und sich um die zwei Stühle dort prügeln. Meine Tradition besagte, in jedem Ort, den ich besuchte, ein Buch zu kaufen. Und bis ich exakt ein Buch ausgewählt hatte, mussten die Jungs halt warten.
„Entweder ich nehme den Band von Kathy Reichs....oder ich kaufe mir eins von den zwei Fantasybüchern hier", erklärte ich den Jungs, die mich mit müden Gesichtern beäugten.
„Wie kann es nur so schwer sein, sich für ein Buch zu entscheiden?", fragte Maxi Kai, obwohl ich direkt vor ihm stand.
„Frag mich was leichteres, ist halt Yulivee. Muss man nicht verstehen, denke ich", meinte dieser und beleidigt guckte ich die beiden an.
„Ihr versteht das einfach nicht. Das Buch von Kathy Reichs ist ein Krimi bzw. Thriller. Und die Fantasybücher sind halt Fantasybücher. Das sind zwei grundlegend unterschiedliche Dinge. Und die Fantasybücher unterscheiden sich auch total. In dem einen Buch geht es um Banshees, im anderen um Fae. Das ist eine schwere Entscheidung!", empörte ich mich über diese Buchbanausen.
„Du starrst seit über zehn Minuten zwischen diesen drei Büchern hin und her. Es wäre echt toll, wenn du dich langsam entscheiden könntest", versuchte Sven diplomatisch einzugreifen, bevor das Ganze in eine Diskussion ausarten konnte.
„Vergessen wir nicht die halbe Stunde, die du davor jedes Buch in dieser Buchhandlung angestarrt hast", warf Kai ein und zerstörte Svens Versuch, das Thema fallen zu lassen.
„Ich kann ja kaum einfach nach dem erstbesten Buch greifen und dann zahlen! So ein Buch kostet Geld, ich kauf da doch nicht einfach irgendein Buch. Am Ende geh ich dann mit einem Buch über griechische Mythen aus der Tür. Also sorry, aber nein danke!", genervt stierte ich Kai an.
„Naja, dann könntest du dich mal bisschen bilden, würde dir nicht schaden".
„Wer hat nochmal in einen Fliegenpilz gebissen und musste ins Krankenhaus, um sich den Magen auspumpen zu lassen?" Schadenfroh grinste ich Maxi an, während er schon den Mund zum Antworten öffnete.
„Ich war acht!" Das war jetzt nicht wirklich eine gute Rechtfertigung, in einen Fliegenpilz zu beißen.
„Jedes Baby weiß, dass Fliegenpilze giftig sind! Aber ist ja nicht schlimm. Jeder braucht seine eigene Zeit, um zu lernen und wachsen. Geistig sowie körperlich", stichelte ich zufrieden.
Bevor Maxi Zeit hatte, den Mund zu öffnen, ging Sven wieder dazwischen: „Jetzt wähl endlich ein Buch! Mach Ene mene miste oder so, aber lass uns endlich hier rausgehen. Es hat hundert Grad hier drin, wir alle brauchen eine Abkühlung."
Ok, mit der Abkühlung hatte er Recht. In der Buchhandlung gab es definitiv keine Klimaanlage.
„Ok, ok, ich mach Ene mene Miste!", kapitulierte ich des Friedens wegen und begann, abzuzählen. Ich endete bei Kathy Reichs Buch. Nein, nein, nein, aber ich wollte doch die anderen Bücher!
„Endlich haben wirs! Ab zur Kasse!", freute sich Kai und lief in Richtung Kasse vor.
„Ne, des geht nicht! Ich will doch das Fantasybuch!"
„Dann nimms!"
„Ok, ich nehm das über die Fae"
„Gut!"
"Ne, doch das mit der Banshee"
"Perfekt!"
"Ahhh, ne doch nicht. Das mit den Fae ist glaube ich doch besser"
"Okay!!"
Ich bewegte mich mit meinem ausgewählten Buch in Richtung Kasse, blieb dann jedoch abrupt stehen und drehte mich um.
„Ich nehm doch das über die Banshee." Entschlossen nickte ich den Jungs zu, während Kai nur mit einem Stöhnen reagierte. Ok, ok, ich machte ja schon.
Schnell eilte ich zurück zu den Büchern und tauschte das Buch. An der Kasse wartete bereits die Kassiererin auf das Buch. Ich reichte es ihr über den Tisch und kramte nach meiner Geldbörse.
„12,99 € wären es dann bitte", nannte mir die Kassiererin den Preis und ich geriet ins Überlegen. Mein Taschengeld umfasste 25 €. Das für diesen und nächsten Monat war bereits aufgebraucht, aber das für übernächsten Monat war noch da. Wenn ich davon das Buch bezahlte, waren immer noch knappe 12 € übrig. Das bedeutete also, dass ich mir die anderen beiden Bücher fast leisten konnte. Gut, eigentlich nicht, deshalb ja fast. Die Logik muss man nicht verstehen.
„Warten Sie kurz, ich hol noch schnell ein Buch!", sagte ich zur Dame hinter der Theke und rannte zurück zu den Büchern und nahm die anderen beiden doch auch. Man gönnte sich ja sonst nichts. Und ich war schließlich im Urlaub.
Als wir den Buchladen verließen, blendete uns die Sonne so sehr, dass wir vier gleichzeitig aufstöhnten und uns synchron von der Sonne wegdrehten. Nachdem wir unsere Sonnenbrillen aufgesetzt hatten, liefen wir die schmale und volle Gasse entlang, um eine Eisdiele zu finden, um uns Shakes zu holen.
Wir liefen auf jeden Fall in die richtige Richtung. Dies spürte ich, als mich so ein Arschloch aus einer Jungsgruppe anrammte und zufällig seinen Milchshake auf mir verteilte. Das Gute daran? Eine kleine Abkühlung tat in dem Moment wirklich gut, es war echt brüllend heiß. Die schlechte Nachricht? Ich wollte dem Kerl, der mir den Drink übergeschüttet hatte, gerne eine scheuern, denn der ging einfach weiter, nachdem er mir noch ein dummes Grinsen zugeworfen hatte. Der hatte ja wohl den Arsch offen! Erinnert ihr euch noch an die schlechte Metapher mit dem Mähdrescher von vorhin? Ich hatte ein neues Ziel für diesen Mähdrescher gefunden. Dieses unhöfliche Aas konnte das Ding bestimmt auch totmähen. Als ich mich zu dem Typen umdrehte, um ihm hinterherzuschreien, legte sich eine Hand auf meinen Mund und wütend brüllte ich in diese. Scheinbar erfüllte die Hand nicht ganz den Zweck, mich zum Schweigen zu bringen, denn ungefähr jeder drehte sich nach mir um. Inclusive der Jungsgruppe, aber die dachten vermutlich eher, dass ich eine aus dem Irrenhaus war. Aber zum Glück starrte mich der Typ, der mir den Shake übergekippt hatte, direkt in die Augen und ich denke, er hatte die Message, die ich ihm mit meinem Blick schickte, verstanden, denn er drehte sich direkt wieder um und lief mit seinen Jungs davon. Besser für sein Leben allemal.
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