2 (Ich-liebe-mein-Schatzilein)

Beginn des Freiheitentzugs: 1. Juli. 2020

Ende des Freiheitentzugs: 10. Juli 2020

Uhrzeit: 4:30 Uhr

Name des betroffenen homo sapiens: Yulivee Maia Kästner

Ich war so ein armes Schwein. Ich badete im Selbstmitleid, seit ich an diesem Morgen meine Augen geöffnet hatte. Nicht nur, dass 4 Uhr als Aufstehzeit eine Unverschämtheit gegenüber meines Langschläferherzes war, ich wurde auch noch von meinem Bruder geweckt, welcher -dem typischen 5-Jähriger-Klischee entsprechend- völlig überdreht in mein Zimmer gestürmt kam, um mir mitzuteilen, dass wir in einer halben Stunde fahren würden. Mir würde diese Antithetik wohl nie in den Kopf gehen: Man buchte einen Urlaub, um zu entspannen, eine schöne Zeit außerhalb des alltäglichen Arbeitsstress zu haben und zwang sich dann, zu unmenschlichen Uhrzeiten aus dem Bett zu kriechen, damit man sich stressen konnte, um ja pünktlich loszufahren, um völlig müde und kraftlos am Ziel anzukommen. Das ergab absolut keinen Sinn! Absolut keinen!

"Könntest du aufhören, so düster dreinzugucken? Ich habe null Lust, mir dein motziges Gesicht bis zu unserer Ankunft ansehen zu müssen!" Meine Mutter blickte mich düster durch den Spiegel unseres VW Passats an und ich schnitt nur stumm eine Grimasse. Eine andere Miene würde bedeuten, dass ich meine Situation akzeptiert hatte und das tat ich nun mal nicht. Aus verschiedenen Gründen, aber der, der mich mit am  meisten störte, war mein Zimmerpartner in den folgenden Tagen. Es wurde lange diskutiert, wie die Zimmer am besten aufgeteilt werden sollten. Laut meinem Vater. Nur ohne mein Mitspracherecht oder das einer meiner wortwörtlich auf meiner Augenhöhe stehenden Cousins. Max, Kai und Sven brauchten auch gar kein Mitspracherecht, da es für die beiden nur drei Optionen gab: Entweder hätten wir uns zu viert ein Zimmer geteilt oder aber zwei-zwei oder aber -und damit hatte ich bereits gerechnet, jedoch gehofft und gebettelt, dass es nicht eintreten würde- die Jungs würden zu dritt in ein Zimmer gehen und ich mit meinem kleinen Bruder. Die grundsätzliche Anwesenheit meines Bruders wäre gar nicht das Problem. Das Problem daran war, dass meine Eltern ungefähr alle fünf Minuten nach meinem Bruder sahen und sie diese Angewohnheit nie und nimmer für die Urlaubszeit ablegen würden. Und das wiederum bedeutete, dass ich keine Ruhe finden würde, da ich immer auf meine Eltern warten würde, darauf, dass sie kamen und wieder gingen und wieder kamen....Immer so weiter, bis wir wieder daheim wären. Irgendwie verständlich, dass sich meine Vorfreude auf diesen Familientrip stark in Grenzen hielt und ich mich fühlte, als wäre ich ein Gefangener auf dem Weg zum Vollzug der Freiheitsstrafe.

Aber die Spitze des Eisberges war es gewesen, als mir erklärt worden war, dass ich nicht einmal auf der Fahrt mit meinen Cousins in einem Auto fahren durfte. Und es gab keinen einzigen Grund dafür. In einem Mercedes-Benz Bus war wohl genug Platz für ein weiteres menschliches Wesen. Mir immer erzählen, dass ich ein Strich in der Landschaft sei und dann wiederum sagen, dass kein Platz für mich im Bus wäre. Ich kann rechnen, zumindest bis 10 und weiß mit 100000%-iger Wahrscheinlichkeit, dass meine Eltern Blödsinn erzählten. Es hätte so schön sein können. Ich im Auto mit meinen drei Lieblingscousins, den Kleinen konnte man zu meinem Bruder ins Auto setzen und die Autofahrt wäre entweder einstimmig laut und unterhaltsam oder aber einstimmig ruhig und mit einem Ruhepuls von 60 bis 80. Was nicht war, konnte noch werden? Nicht mit meinem kleinen Bruder und meinen Eltern, die sich in einer Lautstärke unterhielten, dass einem Hören und...Hören, nur Hören verging. Meine Augen konnte ich verschließen, meine Ohren leider nicht. Und ich hatte Kopfhörer an und nichtmal übermäßig laute Musik, die mir fast die Ohren wegballerte, konnte mich vor der Geräuschkulisse meiner kleinen, aber umso mehr unfassbar anstrengenden Familie bewahren.

Wie war es möglich, dass mein kleiner Bruder so wach war und seit nunmehr über zwei Stunden redete und einfach nicht mehr aufhören wollte? Und bei dem Verkehrsaufkommen waren noch einige Stunden offen, in denen mein Bruder mit seiner quietschenden Stimme meine Ohren zum Bluten bringen konnte. Blieb nur zu hoffen, dass er irgendwann einschlafen würde. Aber zuerst musste er Essen und auf die Toilette. Das konnte lustig werden. Nicht der Teil mit dem Essen, der Teil mit der Toilette. Meine Mutter versuchte Illias bereits seit fünf Minuten zu erklären, wieso er nicht auf die Toilette gehen konnte, obwohl wir doch seit einer halben Stunde fuhren und er seit genau dieser Zeit ebenfalls auf die Toilette musste.

"Wir stehen im Stau, nicht auf einem Rastplatz!", knurrte meine Mutter genervt. Versuch mal einer, einem dringend auf die Toilette müssendem 5-Jährigem klar zu machen, dass man bei Stau nicht kurz aus dem Auto steigen und hinter dem 15 Meter entfernten Baum auf Klo gehen kann. In dieser Hinsicht war mein Bruder ziemlich uneinsichtig.

"Aber wir stehen doch!", qäuangelte mein Bruder bockig.

"Ja, wir stehen, aber stehen heißt nicht Pause!". erwiderte meine Mutter mit zusammengebissenen Zähnen.

"Aber ich muss jetzt auf die Toilette! Jetzt! Jetzt! Jetzt!", heulte Illias, während ich nur die Augen verdrehte und aus dem Fenster sah. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Wenn er nicht mit normaler menschlicher Kommunikation weiterkam, drückte er einfach auf die Tränendrüse. Normal bekam er dann in neun von zehn Fällen was er wollte, hier mitten auf der Autobahn in einem Stau war ich mir da nicht so sicher.

"Ludwig, sag du was! Wieso muss ich immer alle Diskussionen alleine führen? Er ist auch dein Sohn!", zickte meine Mutter jetzt bemüht ruhig meinen Vater an.

Ein Grinsen kam mir über die Lippen. Ich wusste, was mein Vater gleich antworten würde. Ich bin wirklich kein Mensch, der anderen etwas schlechtes wünschte, aber diese Situation nenne ich Charma. Mein Charma.

"Ich muss ich aufs Fahren konzentrieren, das weißt du doch!", sagte mein Vater mit besänftigender Stimme und beobachtete sehr konzentriert den Verkehr durchs Fenster. "Ich habe auch gar nicht wirklich mitbekommen, worum geht, tut mir Leid, Schatz!", fügte er noch hinzu und starrte weiter den Verkehr vor uns an. Sah er da vorne ein Einhorn oder mied er den Blick seines Schatzes. Eben genannter Schatz würde meinem Vater, dem knallroten Gesicht zufolge, am liebsten eine Scheuern oder Verfluchen. Aber sowas machte man ja vor Kindern nicht.

Das machte mein Vater gerne. Wann immer es im Auto zu Argumenten kam, war mein Vater plötzlich vollkommen auf den Verkehr konzentriert und hatte leider nichts mitbekommen. Gleich wäre es soweit. Gleich würde meine Mutter vor Wut platzen.

"Ich mache mir in die Hose, wenn ich nicht sofort aufs Klo gehen kann!", heulte mein Bruder und seine Stimme wurde beim Sprechen immer quietschiger. 

"Dann mach dir in die Hose, du....du!", schrie meine Mutter wütend. Ein solch emotionaler Ausbruch zu einem so frühen Zeitpunkt. Man kann an Omen glauben oder aber nicht, aber das war definitiv ein schlechtes Omen. Ein ganz schlechtes Omen. So schlecht wie mein Pausenbrot, wenn ich es mal wieder eine Woche in meinem Rucksack vergammeln hatte lassen. Oder zwei. Sobald es erstmal schimmelte, war es egal wie lange, da hörte ich immer auf, die Tage zu zählen. Verschimmelte Brotzeitboxen musste ich so oder so selbst auswaschen.

Nach dem Ausbruch meiner Mutter war es kurz leise. Meine Mutter versuchte, sich zu beruhigen, mein Vater und ich wollten eh nichts mit der Diskussion zu tun haben und mein Bruder war geschockt, dass er angeschrien worden war. Geschah nicht häufig. Man schrie sein Babyface nicht so schnell und oft an, schließlich war er der kleine Babyboy, den sich meine Eltern so sher gewünscht hatten. Kurz gesagt, meine Eltern verzogen ihn. Kein Wunder, dass er jetzt in einer Art Schockstarre feststeckte. 

Das würde nicht lange so bleiben, stellte ich fest, als ich einen kurzen Blick zu Illias wagte. Er lief rot an. Noch röter als meine Mutter. 20 Cent, dass das gleich in einem Trotz-/Wutanfall enden würde.

Obwohl ich mich eigentlich darauf vorbereitet hatte, zuckte ich dennoch zusammen, als mein Bruder anfing, zu brüllen. Keine Ahnung, wie aus diesem kleinen Körper so eine laute Stimme herauskommen konnte. Das war unnormal, vielleicht sollte man es bei ihm mal mit einem Exorzismus versuchen, denn seine Stimmlage gepaart mit seinem Volumen quälte mich mehr als das kleine, böse Quotenmädchen irgendeinen x-beliebigen Hauptcharakter in gefühlt jedem Horrofilm.

Nach falsch aufgerundeten endlosen zehn Minuten hörte sein Trotzanfall bestehend aus (wer hättte es gedacht) ohrenbetäubenden Geschrei auf und er wurde leiser.

"Dann mach ich mir eben in die Hose!", schniefte Illias und ich dachte keine Sekunde daran, dass er das ernst meinen könnte.

Meinen Eltern ging es wohl genauso, als meine Mutter leicht lächelnd zu Illias guckte und sanft meinte: "Du hast es nicht bemerkt, aber wir fahren wieder. In maximal zehn Minuten sind wir an der Raststätte und du kannst da sofort auf die Toilette gehen. Solange kannst du es sicher noch halten, Großer. Du hast es fast geschafft!"

Es war selbst für mich als Anwesender kaum zu glauben wie schnell die Stimmung meiner Mutter von 'Ich-liebe-mein-Schatzilein' zu 'Du-wirst-eines-ungeklärten-Kindstodes-sterben' umschlagen konnte, nachdem mein Bruder ein kleines und geflüsteres "Oh" hervorgestoßen hatte.

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Die folgenden Minuten waren die wohl unangenehmsten meines Lebens. Mein Bruder hatte meine Negativ-Erwartungen übertroffen und heulte wieder, weil meine Mutter ihn nun anbrüllte, sodass die an uns vorbeifahrenden Autos zu uns rüberguckten, um zu sehen, ob bei uns alles okay war. Mein Vater war ebenfalls nicht sonderlich erfreut, allerdings hatte er bis auf einen an niemand genau gerichteten Frustschrei versucht, ruhig zu bleiben. Diesmal zählte das Argument, dass er Fahrer war und er konzentriert fahren musst wirklich, denn hätte er sich nicht mit jeder vorhandenen Gehirnzelle aufs Fahren konzentriert, wäre er wohl vor lauter Frust und Wut gegen den nächstbesten Baum geknallt.

Wer hatte gedacht, dass mein Bruder meine Mutter ernst nehmen würde und in die Hose machen würde? In eine windelfreie Hose? Niemand. Nicht einmal ich hätte das als Lösung auf das Toilettenproblem gesehen und ich hatte viele queren Gedankengänge.

Endlich verstand ich auch, wofür die leicht schalenförmigen Sitze im Auto gemacht worden waren. Nicht nur, damit man nicht in Kurven herumrutschte, sondern auch für den Fall, dass man auf die Toilette musste und keine zur Stelle war. So wurde alles aufgesammelt, insofern die Sitze aus Leder waren. Scherz beiseite. Ich war noch nie so froh über die Erfindung der Kindersitze gewesen wie in dem Moment, als ich verstanden hatte, wofür das "Oh!" meines Bruders stand. So war sein Blaseninhalt weit von mir weg und wurde vom Sitz aufgesogen, sodass ich damit auf keinen Fall in Berührung kam. Sonst wäre ich wohl durchs Fenster aus dem fahrenden Auto gesprungen. Mir egal, ob ich auf der Intensivstation gelandet wäre.

Während mein Vater nun mit durchgedrücktem Gaspedal den Rastplatz zu erreichen versuchte, rief meine Mutter bei meiner Tante an, um mitzuteilen, dass wir eine Pause machten mussten. Und ich hatte nicht zu tun, um den Geruch zu verdränge, welcher sich sehr schnell im Auto ausbreitete.

Gott sei Dank war die Raststätte schon in Sicht und ich berührte mit meinen Füßen den Boden, bevor das Auto ganz stand und lief mit meinem Rucksack und meiner Jacke in der Hand schnurstracks zum Auto meiner Cousins. Keine Chance, dass ich mich wieder in unser Auto setzen würde, bevor wieder völlige Geruchsneutralität und höchste Hygienestufe herrschte. Meiner Tante und Onkel, welche mir auf dem Weg zu ihrem Auto begegneten, nickte ich nur knapp zu. Die ganze Situation bedurfte keines verbalen Austausches. Nicht mit mir.

Während der andere Kleine (der, der hoffentlich noch Windeln trug oder aber einfach die Toilette benutzte) schlief, begrüßten mich Maxi, Kai und Sven feixend.

"Du hast es aber eilig zu uns zu kommen!"

"Auf der Flucht?"

"Oder hattest du nur Sehnsucht nach uns?"

"Ich schlag euch gleich alle kaputt, wenn ihr nicht die Klappe haltet!" Passiv-aggressiv blickte ich alle drei an und drängte mich an ihnen vorbei in Auto, legte meinen Kram auf einem freien Stuhl ab und trat wieder aus dem Auto hinaus und stellte mich zu ihnen, sprach weiter:

"Ihr habt keine Ahnung wie mein Tag bisher war. Aber so viel kann ich sagen: Wenn es da keine starke Aufwärtstendenz gibt, nehm ich mir einen Strick und stürz mich eine Schlucht hinunter. Von denen gibts da ja genug!" Theatralisch gestaltete ich meine Worte mit Handbewegungen aus und verdrehte genervt die Augen

Grinsend sah mich Maxi an und ich wusste, dass nichts Schlaues aus seinem Mund kommen würde:

"Ich denke, du brauchst keinen Strick, wenn du dich eine Schlucht hinunterstürzen willst. Eine Schlucht sollte ausreichen".

Wusste ichs doch, dass da nur Mist kommen würde. Es stimmte zwar, aber...egal.

"Danke für den Tipp, dann bleibt mir der Strick für dich übrig, also sei lieber vorsichtig!", meinte ich unschuldig lächelnd. 


"Ruhig, Tiger!", lachte Kai und fügte ernster an Maxi gewandt hinzu: "Sperr dein Zimmer die nächsten Tage lieber mal ab. Und schau, ob auch alle Fenster geschlossen sind, sonst könnte es für dich nicht mal ein böses Erwachen geben".

"Oh, wie es aussieht, sollen wir schon wieder in die Autos. Das ging aber schnell", meinte Sven und deutete mit dem Kinn auf das Auto meiner Eltern, wo seine Eltern gerade am Losgehen waren und auf uns zukamen.

"Wir fahren schonmal weiter. Wir haben beschlossen, dass wir in der Raststätte essen, aber wir fahren zur Nächsten, da gibt es einen MC Donald's. Da ist es billiger. Das Essen in den Raststättenrestaurants  hat immer solche Wucherpreise. Wir können dann schonmal in Ruhe Essen bestellen". An mich gerichtet, sagte Tante Elisa:

"Du darfst bei uns mitfahren. Wir haben das gerade mit deinen Eltern besprochen. Die beiden würden am liebsten auch in unserem Wagen mitfahren und den VW einfach stehen lassen. Da das nun mal nicht geht, darfst du mit uns fahren. Du kannst deinem Bruder danken. Nur deshalb haben sie erlaubt, dass du mit uns fahren darfst".

"Mich hätten keine zehn Pferde in dieses Auto bekommen. Und wenn ich zu Fuß oder per Anhalter nachkommen hätte müssen!", kommentierte ich nur und schob mich schnell ins Auto hinein, bevor irgendwer auf die Idee kam, mir doch noch zu verbieten, bei meinen Cousins mitzufahren.

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