4- "Ich heiße Lya. Nur Lya."
"[...] Der König zeugte über seine beachtliche Lebensspanne elf eigene Kinder. Er nahm zudem acht Weitere aus den ersten Ehen seiner Frauen in seiner Familie auf. Von ihnen allen sind bis zu diesem Datum nur noch zehn Stück am Leben.
Besonders hervor zu heben sind dabei Tistalie und Mareia Tiàlan (✘ 42. und 54. Jahr Kaelchons), einzige Vollgeschwister und Kinder aus erster Ehe des Königs.
Lyanna Tiàlan, die einzige magisch begabte Tochter des Königs und angedachte Thronfolgerin (✘ 82. Jahr Kaelchons), sowie ihr Halbbruder Jamah Lenlay, der sich den Rebellen anschloss.
Heute befinden sich nur noch sieben legitime Töchter des Königs im Palast, sowie zwei Una Fil: Rake Hemdale und Theenan Sorge. Keiner von ihnen wurde jemals als neuer Kronerbe ausgerufen. [...]"
- (Lional Frank, "Die Geschichte der letzten fünf Jahrzehnte". S. 232)
✥✥✥
Es war still im verschlafenen Palast des Königs. Die Soldaten vor den einzelnen Türen starrten schweigend vor sich hin, Diener gingen ihren Arbeiten nach, die erledigt sein mussten, bevor der nächste Morgen graute.
Einzig und allein ein dumpfes schleifendes Geräusch hinter der Tür eines Turmzimmers störte die friedliche Ruhe.
Und ich war dafür verantwortlich.
Aber Gloryas bewusstloser Körper war zu schwer, um sie hinüber zu der niederen Tür zu heben.
Hätte Ravn mir nicht den Tisch abgenommen, ich hätte die Scheibe einschlagen und Glorya rausgeschmissen. Doch alle, für mich werfbaren, Gegenstände hatten nach meinem letzten Aussetzer das Zimmer verlassen und die scharfen Objekte mitgenommen. Sonst hätte Glorya jetzt keine Hand mehr.
Ob Kaelchon mit ihrem Tod rechnete? Sicherlich, wenn er beschlossen hatte sie zu meinem persönlichen Schatten zu machen. Ich hatte in den vergangenen Tagen kaum eine Sekunde ohne sie verbracht und es war ernsthaft die schlimmste Folter gewesen, die mir der König hatte auferlegen können.
Vorsichtig eine Hand unter ihren Armen wegziehend, kämpfte ich eine Faust hoch zur Tür und klopfte ungeduldig. Mein Plan war-... nennen wir es unausgereift. Aber ich war nicht mein Bruder.
Es verstrich eine Ewigkeit, ehe sich die Tür nur einen Spalt breit öffnete. Doch keiner der wachhabenden Soldaten streckten ihren Kopf hinein. Das wäre auch zu einfach.
Unter Aufbietung all meiner Kräfte wuchtete ich Gloryas Körper hoch und warf ihn an die Tür. Beides stürzte raus auf den Gang und zwischen zwei verdutzte Männer, die einen Herzschlag zu lange brauchten, um zu reagieren. Ihre Augen starrten noch das Blut in den blonden Locken an, da hatte ich mich bereits auf einen geworfen und ihm sein Kurzschwert aus dem Gürtel gerissen.
In einer vollkommen unnötigen, aber spektakulären Drehung vollführte ich meinen Lieblingstritt gegen das Knie des anderen, ehe dieser selbst zur Waffe griff. Ein widerliches Krachen, dann sackte er gegen seinen Freund und hätte mich beinahe zwischen ihnen eingequetscht.
Im letzten Moment wich ich zurück und stolperte über Gloryas linkes Bein. Die Welt kippte, ich fasste ins Leere und mein Hintern unangenehme Bekanntschaft mit dem soliden Steinboden.
Gelähmt vor Schmerz blieb ich einige Sekunden lang sitzen und stellte die Entscheidungen infrage, die mich hierhergebracht hatten.
Aber um jeden Preis der Welt wollte ich hier raus. Meine Familie brauchte mich! Und ich brauchte meine Freiheit! Noch ein weiterer Tag mit Glorya und ich würde Kaelchon anbetteln mir ein Ende zu bereiten.
Mühsam, aber immer noch schneller als die Soldaten, rappelte ich mich auf und humpelte zu der breiten Treppe gegenüber dem Gang. Ich hörte sie um Verstärkung brüllen, doch dank Glorya wusste ich, dass es eine Weile dauern würde, bis man sie dort oben bemerkte.
Mein Turm lag abgelegen, viele Stufen von den restlichen Zimmern entfernt.
Mehr stolpernd und schwankend erreichte ich das tiefere Stockwerk und fand mich in einem weiteren Gang wieder, der weder nach links noch nach rechts ein ersichtliches Ende nahm. Wenn ich wenigstens wach gewesen wäre, als Ravn mich hierhergebracht hatte.
Doch jetzt gerade war ich genauso schlau wie eine Waldelfe.
Schritte wurden laut, die eindeutig von linker Hand kamen, was mir freundlicherweise die Entscheidung abnahm. Es war ein kleiner Trupp Soldaten, der sich zu schnell bewegte, als dass sie nicht von irgendetwas alarmiert worden waren. Und sie hatten mich gesehen.
Sogar über meinen hektischen Atem hörte ich mein Herz schlagen. Was würde man mit mir machen, wenn ich gefasst würde? Viel schlimmer als Gloryas Anwesenheit konnte es kaum sein. Ich schuldete es mir selbst, dass ich es versuchte. Sonst würde ich in diesem Palast sterben. Und das war keine Möglichkeit.
Die nächste Abzweigung führte mich zu einer weiteren Treppe, die sich im Zickzack hinab bewegte. Nach gefühlten Wochen ohne Bewegung beklagten sich meine Muskeln über die plötzliche Anstrengung lautstark. Sie zogen und zerrten, waren steif und würden bald aufgeben.
Nicht so meine neuen Verfolger, die in geordneter Zweierreihe hinter mir her stürmten, als säße ihnen der König selbst im Nacken. Sie kamen mit jedem Atemzug näher.
Hektisch bog ich bei der nächsten Gelegenheit ab in einen viel zu kurzen Flur, der in einer unverschlossenen Zimmertür endete. Da mir langsam die Möglichkeiten ausgingen und immer mehr Wachmänner auf meine nächtlichen Aktivitäten aufmerksam gemacht wurden, stürzte ich hindurch und warf sie hinter mir zu. Ein Sessel, direkt daneben, wirkte in diesem Augenblick wie ein Geschenk der Göttinnen. Mein Schwert achtlos zur Seite werfend, machte ich mich daran das schwere Mobiliar vor die Tür zu schieben, gerade noch rechtzeitig, ehe ein heftiges Rumsen die Ankunft der Soldaten verkündete.
Keuchend tat ich einen Schritt zurück. Das war knapp gewesen. Aber noch lange nicht vorbei.
Das erste Holz splitterte, kaum da ich mir die Haare aus der Stirn gewischt hatte.
Was war das für eine verflucht dünne Tür? Konnten bei einer Flucht nicht einmal die Türen solide und die Verfolger alt und gebrechlich sein?
Nach einem Ausweg suchend drehte ich mich um und starrte in ein Paar aufgerissene blaue Augen, die mich von einem Himmelbett aus anstarrten. Dazu gehörte ein junges Mädchen mit langen Locken und einem weißen Schlafgewand, vielleicht fünfzehn Jahre alt.
Der aufwendigen Einrichtung und ihrer porzellanblassen Haut nach zu urteilen, hatte ich gerade erfolgreich eine der zahlreichen Prinzessinnen des Landes geweckt. Wie viele es momentan genau waren, konnte ich bei allen Todessängerinnen nicht sagen. Es war unmöglich, exakt Buch darüber zu führen, mit welcher Adeligen Kaelchon in diesem Moment verheiratet war und wessen Kinder ein mysteriöses Ende gefunden hatten.
„Eure Hoheit", entschuldigte ich mich mit einem hastigen Knicksen und tat vorsichtshalber einen Schritt von ihr fort. Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein, nichts lag mir ferner gegenüber einem Mädchen, das ihr ganzes Leben erduldet hatte, was ich keine zwei Wochen aushielt.
Einmal davon abgesehen ging von ihr so viel Gefahr aus wie von einem Boka-Kaninchen. Aber ich musste hier raus!
Ein kühler Luftzug hinter seidigen Vorhängen verriet einen kleinen versteckten Balkon. Meine Rettung! Erleichterung, die kaum gegen mein aufgeregtes Herz ankam, schob mich vorwärts auf die geöffneten Flügeltüren zu, gerade als der Sessel fortgesprengt wurde.
Mein Blick fiel auf die Brüstung. Wenn ich darunter blöd aufkommen würde, wäre es das gewesen. Ich bezweifelte, dass unter meinen Verfolgern ein Heiler in roter Tunika war. So genau hatte ich nicht hingesehen. Aber hier und jetzt aufgeben oder vor einer Prinzessin des Landes Schwäche bekennen war auch nicht.
Wenn Ravn aus dem Fenster eines Wirtshauses springen konnte, würde ich das hier auch hinbekommen.
Ein erschlagenes Seufzen und eine Reihe Flüche in Galenzungen besiegelten mein Schicksal. Mit nur wenigen Schritten, um Schwung zu holen, sprintete ich auf das niedere Geländer zu.
Einen Fuß platzierte ich davor, der andere nutzte es als Absprungrampe und noch ehe mir die Worte ‚In welchem Stockwerk sind wir eigentlich?', durch den Kopf gingen, segelte ich bereits durch die kühle Nachtluft. Vorsichtshalber schloss ich die Lider.
Der Aufprall kam, nur weitaus weicher, als ich es bei so einem langen Fall erwartet hätte.
„So kann man es natürlich auch machen", kommentierte Ravns zynische Stimme dicht neben meinem Ohr. Meine Haut glühte auf, als mir bewusst wurde, dass mich jemand aufgefangen hatte. Trotzig kniff ich die Augen noch ein wenig mehr zusammen. Vielleicht würde er ja verschwinden, wenn ich ihn nicht sah?
„Schon gut. Du darfst dich gerne später bei mir bedanken."
Wo war der Tod, wenn man ihn einmal brauchte? Es wäre doch nur ein kleiner günstiger Zufall in meinem Schicksal, wenn der Ziehsohn des Königs genau in diesem Augenblick leblos umfallen würde. Gönnen täte ich es dem verlogenen Bastard alle mal.
„Ich werde dich jetzt herunterlassen", warnte er mich, amüsiert. Ich glaubte fast, das dunkle Lachen durch seine Haut zu spüren.
Ich fand's nicht lustig. Aber mein Körper reagierte trotzdem. Jeder Nerv kribbelte, als gäbe es nichts Wichtigeres, als hier und jetzt in Ravns Armen zu hängen wie Bettwäsche auf der Leine. Aber es gab Wichtigeres! Zum Beispiel meine Achtung vor mir selbst, die rapide zu sank, je länger ich in dieser Lage verharrte.
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen und strampelte los, was ihn kaum davon abhielt mich in Armreichweite von ihm entfernt auf die Füße zu stellen. Eine seiner Hände blieb um mein Handgelenk geschlossen, um jeden weiteren Fluchtversuch zu unterbinden.
Ich wollte sie ihm brechen. Wirklich, wirklich gerne.
Um uns herum lag ein unendlich anmutender Schlossgarten, mit einem modischen Labyrinth nur wenige Schritt von uns weg. Keine Wachen und Soldaten tummelten sich hier draußen, noch nicht einmal anständige Höflinge flanierten zu so später Stunde durch die schneebedeckte Landschaft. Ich hatte sie die letzten Tage von meinem Fenster aus beobachtet, neidisch, dass sie den ersten Schnee genossen und ich nicht.
Doch jetzt war es nur Ravns Hand, die mich davon abhielt frei zu sein.
„Warum lässt du mich nicht gehen?", meine Stimme betrog mich auf ganzer Linie. Ich sprach ruhig, gefasst. Aber leider vollkommen kraftlos. Und auch wenn das auch mein Zustand zutraf, war es alles andere als mein Ziel gewesen, Ravn das wissen zu lassen. Ich wollte wie unsere Kriegsgöttin auf ihn losgehen und mit Rache die Leere füllen.
Ravns stechend grüne Augen verrieten, dass er jedoch nichts von derartigen Plänen wusste. Er sah lediglich meine frierende Erscheinung, fast über einen Kopf kleiner als er und etwas in ihm erweichte sich zu einem großen Klumpen Dreck.
„Du weißt ja gar nicht wie wenig ich das tun kann", war alles, was er dazu zu sagen hatte.
Und es benötigte auch nicht viel mehr, um den Funken Wut, der in meiner Trauer ums Ertrinken kämpfte, wieder in ein loderndes Buschfeuer zu verwandeln. Er machte sich nicht einmal die Mühe einer Ausrede! Noch vor ein paar Wochen hätte ich mein Leben für ihn gegeben! Nichts in dieser Welt hätte mich aufgehalten, wenn er in meiner Lage gewesen wäre.
Und er konnte nicht?
„Schön, dass du so ein vertrauenswürdiger Freund bist." Mit einem Ruck drehte ich meinen Arm um, sodass sich sein Griff lockerte, und riss mich los. Doch ich rannte nicht weg. Ich versuchte es ganze zwei Schritte weit. Knöcheltief im Schnee blieb ich stehen und debattierte innerlich, ob ein verletztes Herz vor den Richterinnen des Lebens als berechtigter Grund für einen weiteren Mord durchging.
Fluchend schüttelte Ravn sein Handgelenk aus. Mit ein bisschen Glück und Wohlwollen hatte ich es ihm gebrochen. Ein Knochen für einen lebenswichtigen Muskel- nicht ganz gerecht, aber wir kamen der Sache näher.
Er bemerkte mein Zögern und deutete es falsch.
„Lya, du musst mir vertrauen! Ich würde dir nie etwas tun!"
Wir kamen der Sache doch nicht näher.
Ich würde ihn umbringen. Ich konnte seine Lügen nicht mehr hören.
„Besitz wenigstens den Anstand und steh zu deinen Taten."
„Das tue ich doch!", genervt warf er die Arme in die Luft, „Ich gebe dir hier eine Chance zu-..."
Ich ließ ihn nicht aussprechen. Ich war die Diskussionen leid. Es war kaum erträglich ihn hier vor mir stehen zu sehen und zu wissen, was er getan hatte. Und alles was er jetzt noch konnte, war reden. Aber damit war Schluss.
Mit einem bestialischen Aufschrei stürzte ich mich auf ihn und dieses Mal gab es keine Glorya, die mich aufhielt.
Meine Faust traf sein Kinn, die Finger krallten sich in seine Haare und irgendetwas Hartes traf meine Schläfe. Vermutlich sein Ellenbogen. Aber das war mir auch egal, denn genauso schnell wie ich in seine Arme gefallen war, verlor ich jetzt auch darin das Bewusstsein.
Von wegen er würde mir nie etwas tun.
„Wo ist Glorya?" Das Summen der Stimme rüttelte irgendetwas in meinem Inneren wach.
„Bei den Heilern. Sie hat ihren Kopf gegen einen der Bettpfosten geschlagen", antwortete jemand anderes amüsiert. 'Sie' war ich und ich teilte seinen Humor aus tiefstem Herzen. Allerdings hatte ich Glorya lediglich zu Fall gebracht. Der Volltreffer mit dem Bettpfosten war Glück gewesen.
„Sobald sie verarztet ist, will ich sie sprechen." Der Satz klang harmlos, doch selbst ich, mit geschlossenen Augen und in einer Position, die ich nicht recht bestimmen wollte, erkannte die versteckte Drohung dahinter. Dieses Gespräch würde hässlich werden. Und mit einem Schlag wusste ich, zu wem die ruhige Stimme gehörte.
Meine Lider flatterten auf, noch ehe ich mich unter Kontrolle hatte. Wie eine Puppe an Fäden schnappte mein Kopf hoch. Es war panischer Reflex.
Links und rechts hielten mich bewaffnete Männer aufrecht, meine Füße überdehnt nach hinten, als wäre ich ein Geistwesen.
„Willkommen zurück."
Nichts, aber auch gar nichts an Kaelchons Mimik wollte diesen Worten ihre freundliche Bedeutung wiedergeben. Man stellte mich auf die Beine, ließ mich jedoch nicht los.
Ein ganzes Stück von mir entfernt, auf einem schlichten hölzernen Thron, saß ein Mann mit weißem Haupthaar und tiefliegenden blauen Augen. Dieselben blauen Augen, die die verschreckte Prinzessin oben in ihrem Schlafzimmer gehabt hatte. Doch im Gegensatz zu ihrem lebhaften Ausdruck blieb die Miene des Königs ungerührt und verschlossen. Er hatte die Arme entspannt auf seine Lehnen gelegt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als befinde er sich in einer alltäglichen Ratssitzung.
Ich unterdrückte ein Schaudern. Zu meinem Erstaunen registrierte ich, dass er keine Krone trug. Doch sein weißes, halboffenes Hemd und die polierten Stiefel sagten, dass mein Ausbruchsversuch ihn auch nicht aus dem Bett geholt hatte.
Ich konnte mir Nichts vorstellen, das seine Gelassenheit zu stören vermochte. Ganz zu schweigen davon, dass meine Eltern gegen ihn gekämpft hatten.
„Ich nehme an, du hast dich inzwischen vollkommen erholt, wenn du nachts durch meine Gänge wanderst?" Auch hinter dieser Frage steckte eine Drohung. Und selbst wenn ich sie nicht verstand, stellte sich mir jedes einzelne Härchen im Nacken auf, als starrte ich einem Brabanen ins Maul. Eine unwirkliche Angst kroch mir unter die Haut.
Sagten die Lehrbücher nicht, dass der König ein genauso einfacher Mensch war wie ich? Sie mussten sich irren! Er sah mir direkt auf die Knochen.
„Ist sie immer so schweigsam, Ravn? Du hattest sie mir ...", er zögerte kurz, um das passende Wort zu wählen, „... aufmüpfiger beschrieben."
Ravn war auch hier? Mein Blick huschte zur Seite. An der rechten Wand, die Rücken den deckenhohen Fenstern zugekehrt, warteten drei Männer. Obwohl keine Kerze im Raum entzündet worden war, konzentrierte sich doch alles Licht auf die Erscheinung des Königs. Ich musste mich anstrengen, um Ravn im Schatten zu entdecken.
Er stand als Nächstes zum Thron, die Arme hinter sich verschränkt wie ein Soldat bei der Prüfung. Seine Miene war steinern, gefroren zu einer abschreckenden Maske, die nichts mehr mit dem Jungen zu tun hatte, in den ich mich irgendwann verliebt hatte. Jeder Funken seiner Gedanken wünschte sich genau jetzt an einen anderen Ort weit fort.
Er konnte dem König keine richtige Antwort geben, die ihm nicht entweder widersprechen oder einen Fehler eingestehen würde. Und etwas sagte mir, dass überhaupt nicht reagieren noch schlimmer wäre.
Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob Kaelchon seinen Ziehsohn absichtlich in diese Lage gebracht hatte. Aber warum? Testete er ihn? Oder suchte er nur nach einem Grund für eine Bestrafung? Das ergab keinen Sinn.
Sein Anblick löste sowas wie Mitleid in mir aus.
Und mein Mund reagierte vor meinem Verstand.
„Sprachlos Eure Bekanntschaft zu machen", platzte es aus mir heraus, als wäre ich eine Sonnenfee im Blütenrausch. Meine Finger begannen unwillkürlich zu zittern. Die unendliche Dummheit dieser Antwort brauchte keine weitere Bestätigung, als das schmale unterkühlte Lächeln des alten Mannes.
„Ist das so?" Selbst seine Worte waren so kontrolliert wie ein präziser Schnitt mit einem scharfen Messer. Im ersten Augenblick verspürte man kaum Schmerz, doch das machte ihn nicht weniger tödlich. Und ich war gerade in eines hineingelaufen.
„Zumindest heult und kriecht sie nicht, wie die anderen ihrer Art", fuhr der König an die zwei Kerle im Schatten gewandt fort, „Es muss mit ihrer Affinität zu meiner Familie zu tun haben. Es macht sie menschlicher."
Diesen Schnitt hatte ich gespürt. Er trennte mein Fleisch ab der Kehle bis hinunter zur Hüfte auf und legte all mein Innerstes bar. Jeden Moment würden die Knie nachgeben und ich, entgegen meiner angedeuteten Verwandtschaft, doch noch ohnmächtig werden.
Das unmerkliche Glitzern in seinen Augen verriet, dass Kaelchon wusste, was er da tat.
„Darf ich dir deine Familie vorstellen?", er machte eine kleine Bewegung Richtung der anderen zwei Männer neben Ravn, „Rake und Theenan."
Beide deuteten nacheinander eine Verbeugung an, wobei die des Älteren spöttisch tief wurde. Er hatte wirre, dunkelbraune Haare und einen kurz getrimmten Bart. Sein Gesicht war breit und feist, obwohl seine gesamte Statur keinen Zweifel daran ließ, dass er ein trainierter Krieger war. Ein Mitglied der berüchtigten Vierten Garde und ein Una Fil, wie mein Vater. Kein direkter Sohn des Königs, sondern der Halbbruder zu irgendeiner der vielen Töchter des Monarchen.
Mein Blick blieb jedoch an Theenan hängen. Kannte ich ihn? Wohl kaum. Aber er sah aus wie-...
Ich konnte es nicht festlegen. Mein Gedächtnis spuckte unzusammenhängende Bilder von Ravn und Regen aus, von undichten Dächern und verdünntem Eintopf. Folgen von dem Ellenbogenschlag gegen meinen brummenden Schädel.
Theenan war nur die Hälfte seines Bruders, ähnlich groß wie Ravn, mit den intelligenten Augen eines Fuchses, die jetzt gerade erstarrt ins Leere gerichtet war. Eine feine silbrige Narbe zog sich von seinem rechten Ohr quer über seine Wange. Er war ein Tänzer in einer Bibliothek. Auch an seiner Hüfte glänzte sein silbernes Schwert, ein Symbol der Vierten Garde, doch ich konnte ihn mir nicht als Krieger vorstellen.
Keiner der beiden Kerle war in irgendeiner Weise für mich Familie.
„Ich danke Euch für die Bekanntmachung, doch ich müsste mich schon schwer irren, wenn ich mein eigenes Blut nicht erkennen würde. Und außer meinem befindet sich keines in diesem Saal."
Hatte ich darauf gehofft eine Regung aus dem König zu provozieren, wurde ich enttäuscht.
Das kleine, schmallippige Lächeln blieb bestehen, die entspannte Haltung wurde um einen aufgestellten Ellenbogen ergänzt. Seine Finger rieben gedankenverloren an einander.
„Blut macht nicht Familie aus. Ich seh viel von meiner Tochter in dir, Lyanna."
Ohne meine Tante gekannt zu haben, glaubte ich ihm das sofort. Deshalb war ich nach ihr benannt worden. Allerdings nicht ganz.
„Ich heiße Lya. Nur Lya."
Im Augenwinkel sah ich, wie Ravn sich angespannt noch ein wenig mehr aufrichtete. Theenan starrte noch entschlossener auf die prunkvollen Fliesen vor ihm und Rake kämpfte mit einem Kichern. Der Kerl musste echt Nerven haben. Oder vollkommen übergeschnappt sein.
„Und Lenlay mit Nachnamen, nicht wahr?", erkundigte der König sich ruhig, als hätte mein Verhalten eben nicht an lebensmüde Impertinenz gegrenzt. Es beunruhigte mich noch mehr.
„Du kannst es verleugnen, wenn es dich nachts besser schlafen lässt, aber du gehörst genauso an diesen Hof, wie jeder andere hier im Raum. Es ist deine Bestimmung, sonst hätte dir das Schicksal nie so ein absonderliches Talent gegeben."
Ich konnte ihm nicht ganz folgen. Wenn er es ein Talent nannte, sich in genau solche unangenehmen Situationen wie die hier zu manövrieren, sollte er um seiner eigenen Gene Willen froh sein, dass wir nicht wirklich blutsverwandt waren.
„Ravn tat richtig daran dich hier her zu bringen. Jetzt wo das Verfluchte Kind unbrauchbar ist, bin ich gespannt, was du für uns bereithältst. Verlorene Begabungen zurückstehlen bricht ein Naturgesetz."
Aus irgendeinem Grund war Ravn überhaupt nicht stolz über dieses Lob. Ganz im Gegenteil. Er zuckte bei Rakes Schulterklopfen wie unter Schmerzen zusammen und allein ein stummer Austausch von leidenden Blicken mit Theenan, hielt seine Lippen versiegelt.
Ich runzelte die Stirn, gab jedoch nicht meinem Mitleid nach. Ohne Ravn wären wir jetzt nicht hier. Ohne Ravn wären Lewi und die blöde Burg der Kinder immer noch mein größtes Problem und unsere Eltern säßen gemütlich daheim und würden Kerzen für die Winterfeierlichkeiten ziehen.
„Ich denke, wir alle sollten zu unseren Zimmern zurückkehren. Lyanna, man wird dir morgen früh passende Kleidung bringen. Ich erwarte dich wie jeden anderen in meinem Haushalt pünktlich zum Frühstück. Dein Zimmermädchen wird dich dorthin geleiten. Solltest du noch einmal jemanden unter meinem Dach verletzen, werde ich dich auspeitschen lassen." Und mit diesen Worten erhob sich Kaelchon in einer einzigen weichen Bewegung, die sein Alter Lügen strafte.
Noch lange nachdem auch die drei Männer den Saal verlassen hatten, stand ich angewurzelt zwischen den Soldaten.
Zugegeben, es hätte schlimmer verlaufen können. Eigentlich hätte ich erwartet, genau in diesem Moment von einer der schönen Spitztürme der Burg gehangen zu werden. Aber das würde die Aussicht ruinieren.
Stattdessen hatte mich die Schlange eingekreist, sich geweigert mir ihre Zähne zu zeigen. Wogegen kämpfte ich hier? Und wie?
Nur eines stand absolut sicher. Egal wie rebellisch ich mich in einem kleinen Winkel meines Herzens gefühlt hatte, ich hatte nichts anderes getan, was der König nicht vorausgesehen oder gewollt hatte.
Und was hatte es mit diesem Theenan auf sich? Regen und Ravn. Der Blick? Auf unserer Suche nach meinen Eltern hatte es häufig geregnet. Welcher der Tage hatte etwas mit dem Una Fil des Königs zu tun?
Mein Verstand ließ mich im Stich und das ärgerte mich.
Ich würde einen anderen Weg hier rausfinden.
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