17- "Ich hoffe eines Tages kannst du mir verzeihen."
"[...] Es ist alter Brauch, dass jeder ledige König nach dem Tod seines Vorgängers zwei Wochen Zeit hat, um eine Braut zu finden. Sollten die Götter ihm nicht gewogen sein, werden sie dies verhindern. Sein Stammbaum hat an dieser Stelle ein Ende gefunden und der Thron wird einem anderen Mann übergeben. [...]"
-(Tiglentis, "Riten, Bräuche und die Bedeutung von Schlaf", S. 112)
✥✥✥
„Setz dich." Ohne von seinem Brief aufzusehen, deutete Kaelchon auf die kleine Gruppe an Sofas vor dem kalten Kamin. Teure Möbelstücke in schlechter Verfassung. Abgewetzte Seide und Macken im dunklen Holz des Beistelltisches, erzählten ihre ganz eigene Geschichte.
Ich klammerte mich an ihnen fest, als die zufallende Tür mich in einem Raum mit dem König einschloss. Er war ein wahrer Sammler kaputter Stücke. Ein so großer Liebhaber zerbrochener Gegenstände, dass er jeden seiner Ziehsöhne in eines verwandelt hatte. Und ich war so kurz davor, mich ihren Reihen anzuschließen.
„Lyanna, steh nicht in der Tür herum, als wärst du eine meiner Bediensteten. Setz dich und schenk uns Tee ein", herrschte mich der Mann von seiner kleinen Arbeitsecke nahe der bodentiefen Fenster an. Das Licht der untergehenden Sonne fiel auf verteilte Blätter, geöffnete Bücher und Schriftrollen. Ein ganzes Königreich in Zeichen.
Ich riss mich von dem Anblick los und folgte lautlos der Aufforderung zu dem silbernen Geschirr, das mir beim Eintreten entgangen war. So lächerlich es auch war, ich konnte nicht aufhören mir Theenan in diesem Zimmer vorzustellen. Die hochgezogenen Schultern, die beinahe die Narbe in seinem Gesicht verdeckten.
Ich setzte mich so auf eines der Sofas, dass ich Kaelchon nicht aus dem Blick ließ, als ich mich mit unruhigen Händen daran machte den Tee einzuschenken. Meine Finger schmerzten, als sie mit dem erhitzten Metall in Berührung kamen, doch ich wagte nicht sie wegzuziehen. Lediglich ein leises Hissen entkam meiner steinernen Kontrolle.
Der König hob den Kopf und studiere mich einen Herzschlag lang. Die blauen Augen wie eine eisige Hand in meinem Rücken. Mit einem Seufzen legte er seine Feder weg und erhob sich vom Stuhl. Bis er mich erreichte, hatte ich bereits zwei Tassen eingeschenkt und meine Hände schnell in den Rockfalten verborgen. Er nahm mir gegenüber Platz.
„Das Verfluchte Kind hat tatsächlich versucht, dich zu befreien", eröffnete er das Gespräch, nahm jedoch keinen Schluck aus dem Tee, „Leider hatten wir kleine Probleme mit seiner Bewachung, aber jetzt ist er wieder sicher untergebracht. Und trotzdem ... Eine eher ungewöhnlich emotionale Tat, für seine Art."
Lewi. Ich vermied es dem Mann in die Augen zu sehen und griff stattdessen selbst nach einer Tasse. Lewi war ein Narr. Er hätte bei unseren Eltern bleiben sollen. Den Gedanken an seine Zukunft schloss ich in den dunkelsten Teil meines Verstandes fort. Zusammen mit meiner Schuld an Theenans Tod. Wenn ich ehrlich war, wurde es eher voll in dieser Ecke und immer schwieriger zu ignorieren.
„Familie bringt in jedem andere Seiten zum Vorschein", antwortete ich, weil ich wusste, dass mein Gegenüber eine Antwort verlangen würde.
Seine schmalen Lippen zogen sich in einem wölfischen Lächeln über seine Schneidezähne. Es war die Art Lächeln, die mich früher ausholen und zuschlagen gelassen hätte. Mörder. Monster.
„Leider nicht seine klugen Seiten. Ich denke in diesem Fall können wir uns einigen?"
Ich verbrannte mir neben den Fingern auch noch meine Zunge. Der Tee war süß, obwohl ich keinen Zucker genommen hatte. Irgendetwas hatte sich bereits in der Kanne befunden, doch ich raffte mich nicht dazu auf mir Sorgen zu machen. Was konnte er mir schon noch antun? Er hatte mich in der Hand. „Er hielt es wohl für das Richtige."
Der König neigte zustimmend den Kopf und setzte seine Tasse wieder ab. In einer geschmeidigen Bewegung streckte er sich über den Tisch und griff meine andere Hand.
Ich zuckte bei der Berührung zurück, als hätte er mich geschlagen. Meine Konzentration ließ nach und die Bilder von Theenans Tod schwemmten in meine Sicht, wie ein gebrochener Damm, in dessen Flussbett ich stand. Sie ließen mich nach Luft ringen.
Ohne darauf zu achten, zog der König meine Hand zu sich und drehte sie um, um die kleinen Brandblasen an den Fingerkuppen zu studieren. Die Kuriosität in seinen Augen kehrte mir den Magen um.
„Es gibt zu wenige auf dieser Welt, die das Richtige tun und danach auch die Konsequenzen tragen können."
Seine Finger fühlten sich rau auf meiner wunden Haut an. Mit einem Ruck entzog ich ihm meine Hand, aus Angst meinen Mageninhalt doch noch quer über die Sitzgruppe zu ergießen. Sicherlich würde das nicht mehr unter das angemessene Verhalten fallen, das er so unnachgiebig von mir forderte.
Wenigstens nahm er keinen sichtbaren Anstoß an meiner Abweisung. Entspannt lehnte er sich wieder zurück und die Aufmerksamkeit schweifend. Immer weiter entfernte er sich aus diesem Raum, bis ich mir plötzlich direkt neben ihm verlassen vorkam. Alleine genug, um ihn eingehender zu mustern.
Sein Gesicht war in vielen Sinnen merkwürdig. Es war beinahe unmöglich, sein Alter darin zu lesen. Krähenfüße rahmten die sonst so wachsamen und scharfen Augen ein. Die Ähnlichkeit zu seinen Kindern war auffällig, doch nicht halb so beklemmend, wie seine Affinität zu Lewi. Ohne Probleme sah ich meinen Bruder in den alternden Zügen des Mannes. Auch wenn es ausgeschlossen war-...
„Ich liebe dieses Land."
Seine achtlos geäußerten Worte ließen mich auf meinem Sitzplatz zusammenzucken. Er war nicht aus seiner abwesenden Haltung zurückgekehrt, doch seine Aussage war ganz klar an mich gerichtet.
„Und ich liebe seine Bevölkerung. Sie sind für mich, was du für das Verfluchte Kind bist. Familie", er machte eine wegwerfende Bewegung, als könne er einen passenderen Vergleich aus der Luft pflücken, „Sie sind etwas, für das es sich lohnt die Konsequenzen zu tragen." Sein Blick suchte außerhalb der großen Fenster nach seinen Gedanken.
Ich schluckte unwillkürlich. Erinnerungen an die Mahnung meines Vaters krochen über meine Zunge, bereit eine unpassende Antwort zu geben. Er hatte Angst. Angst seine Macht zu verlieren. Angst vor der Magie, die er so verzweifelt versuchte, in seinen eigenen Stammbaum ein zu züchten.
„Wenn Ihr sie wenigstens alle gleich lieben würdet."
Mit einem Ruck drehte sich sein Kopf und ich verschüttete Tee auf meinen Rock.
„Liebt man den Wolf und das Lamm gleichermaßen, wenn das Raubtier den Unschuldigen schlachtet?" Er wurde nicht lauter, doch seine Äußerungen gewannen an Schärfe; an Geschwindigkeit, mit der sie mich trafen.
„Du hast sie selbst erlebt, Lyanna. Sie sehen auf die Wehrlosen herab, als wären sie nichts als Tiere. Nennen ihr Dasein bedeutungslos", er bleckte die Zähne, „Lady Beanna hätte dich ohne eine weitere Überlegung geopfert, nur um an das Verfluchte Kind heranzukommen. Glaubst du, sie hätte auch so leichtfertig gehandelt, wenn sie gewusst hätte, wozu du fähig bist?"
Er hatte recht. Und ich hasste es. Ich hasste ihn. Er hatte Theenans Leben genauso weggeworfen. Hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er Ravn wiederholt auspeitschen ließ? Würde er es ebenfalls tun, wenn Ravn einfach nur ein Mensch wäre?
Ich biss mir auf die Zunge, um die Gedanken für mich zu behalten.
„Das sind starke Anschuldigungen von jemandem, der seinem eigenen Volk die Sonne nimmt."
Der König zog schaudernd die Luft durch die Zähne. In einer raubtierhaften Bewegung erhob er sich von seinem Sitzplatz und suchte sich seinen Weg zu den Glasscheiben und den schweren grauen Vorhängen.
„Wenn ich richtig informiert bin, wirst du noch früh genug feststellen, dass es leider keine harte Abgrenzung gibt, die einem solche Entscheidungen erleichtern."
Ich setzte mich ein bisschen gerader hin. Mein Nacken schmerzte von den vergangenen Nächten in der Bibliothek. Mein letzter Rückzugsort. Er holte mich dort immer wieder heraus, bevor ich auch noch anfing zu heilen. Zerbrochene Puppen. Das war es, was er wollte.
„Es gibt Entscheidungen, die selbst moralische Unsicherheit nicht mehr rechtfertigen."
Meine Worte prallten an seinem Rücken ab, doch ich sah, wie er seine Schultern anspannte.
„Du wirst deine Meinung in Zukunft für dich behalten, wenn du nicht alle Fakten kennst. Dein Bruder wird es dir sicher danken."
Ich spürte die Hitze in meinen Wangen. Mein Bruder wäre bestimmt nicht gekommen, wenn er von mir nicht erwartete, meine Sichtweise an den unangenehmsten Momenten möglich kundzutun. Aber wenn ich ihn nicht gefährden wollte-... Eiserne Fesseln legten sich auf meine Zunge und ich erhob mich mit einem Ruck von dem Sofa.
„Eines noch, Lyanna", stoppte der König mich in der Tür, „Sehe ich dich noch einmal um Ravn herum, werdet ihr beide ganz neue Wege entdecken, wie ich euch verletzen kann. Haben wir uns verstanden?"
Ich gab ihm keine Antwort.
Meine Einsamkeit blieb für die nächsten Tage weitgehend ungestört. Das Wetter verschlechterte sich, ich saß in der Bibliothek. Das Wetter besserte sich wieder, ich blieb in der Bibliothek.
Ich hatte einen ertragbaren Trott gefunden. Aber nichts an diesem Ort blieb so, wie man es sich wünschte.
„Du musst Lya sein."
Ich hatte angenommen, dass nach meiner letzten Aktion jeder meinen Namen kannte. Stattdessen wurde ich von einer rothaarigen Frau eines Besseren belehrt, die mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte.
„Ich wusste gar nicht, dass du so ein Bücherwurm bist."
Ich warf einen Blick um mich herum. Was hatte mich verraten? Das kleine silbrige Tablett mit den unangetasteten Brötchen, dass man mir in die Bibliothek gebracht hatte? Eher nicht.
Ravn aß die ebenfalls und war eher weniger lesebegeistert. Dass er damals ein Buch in die Hand genommen hatte, um mich vom Brabanengrift zu retten, rechnete ich ihm seither noch höher an.
Bei jedem anderen hätte er vermutlich auf gut Glück experimentiert.
„Du wirst mich also anschweigen?" Zögerlich ließ sie die Tür hinter sich zufallen und kam einige Schritte auf mich zu.
Sofort verfinsterte sich mein Blick. Ich wollte keine Gesellschaft. Sie störte meine ruhige Zweisamkeit mit Theenan.
„Verschwindest du, wenn ich antworte?", erwiderte ich trocken und erhob mich von dem kleinen Nest zwischen einem guten Dutzend aufgeschlagener Bücher über Pflanzenpflege.
„Vermutlich", tat sie meine schnippische Art mit einem Schulterzucken ab, doch ich spürte ihren musternden Blick auf meinem Körper.
Hatte der König sie geschickt, um nach mir zu sehen?
Behutsam bückte sie sich nach dem Tagebuch eines Palastgärtners, der Theenan als Kind kennen gelernt hatte und in krakeliger Handschrift von ihm berichtete.
„Ich bringe Neuigkeiten von Lewi."
Meine Augen folgten ihrer Bewegung, bis ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und ihr hastig das Buch aus den Händen nahm. Ich wollte nicht, dass sie dem König davon Bericht erstattete. Es war keine gute Idee ihm noch weitere meiner Schwachstellen zu präsentieren.
Neuigkeiten von Lewi waren weder gut noch schlecht. Ravn hatte mir erzählt, dass Glorya darin gescheitert war ihn zu befreien. Wenn er trotzdem entkommen wäre, würde der König mir nicht davon erzählen. Und solange er mich kontrollieren wollte, würde er ihm auch nichts tun. Neuigkeiten von Lewi waren keine Neuig-...
„Wir haben einen Gefangenenaustausch ausgehandelt. Lewi ist auf dem Weg zu euren Eltern", sagte sie selbstzufrieden, ein falsches Lächeln quer über ihr Gesicht gepflastert.
Mir glitt das Buch aus den Fingern. Für einen kurzen Atemzug vergaß ich alle wichtigen Muskelfunktionen, als mein Kopf doch nach oben schoss, während mein Unterkiefer nach unten fiel.
War das ihr Ernst? Spielte Kaelchon mit mir? Weil falls ja, wäre ich ab diesem Moment fertig.
In meiner Phiole war noch ein winziger Rest Wasser und ich würde nicht zögern ihn in ein kreischendes Baby zu verwandeln und von einem der Turmdächer zu werfen. Moral hin oder her!
„Wir? Wer bist du?"
Das Lächeln verbreitete sich noch, bis ich jeden einzelnen ihrer schneeweißen Zähne sah.
„Lyanna Tiàlan. Dein Vater hat bestimmt schon von mir erzählt."
Für einen Moment starrte ich sie nur blöd an. Natürlich hatte mein Vater von seiner kleinen Halbschwester erzählt- ich meine, ich hatte ihr meinen verdammten Namen zu verdanken und der König sprach quasi von niemand anderem mehr, seitdem ich hier war.
Sie allerdings vor mir zu sehen, war ein wenig zu viel für mein trostloses Hirn.
Meine Tante war tot. Das wusste das ganze Land. Ihr das zu sagen erschien mir jedoch ziemlich unhöflich. Vielleicht wusste sie ja nur noch nicht, dass sie nicht mehr lebte.
„Und was machst du hier?", fragte ich stattdessen langsam, während mein Verstand versuchte, zu der Situation aufzuholen.
„Ich bin die ausgetauschte Gefangene. Ich nehme den Platz deines Bruders ein", erklärte sie und ihr freudiger Gesichtsausdruck bekam einen kleinen Dämpfer.
Nicht, dass ich ihr das verdenken konnte.
„Oh." Ich nickte, als würde ich verstehen was hier gerade vor sich ging, doch anscheinend war uns beiden klar, dass ich eine schreckliche Schauspielerin war. Egal wie sehr ich die einzelnen Informationen in meinem Kopf drehte und wendete, sie wollten nicht zusammenpassen.
Meine Eltern hatten meine tote Tante ausgegraben, um sie gegen meinen Bruder einzutauschen? Einmal davon abgesehen, dass ich ein wenig beleidigt war, dass sie nicht meine eigene Freilassung gleich mit ausgehandelt hatten, hoffte ich, dass das kein Leichenaustausch gewesen war.
„Mein Vater wollte nicht zwei Gefangene gegen einen austauschen, weshalb wir in deinem Fall kreativ werden mussten", erriet sie meine Gedanken.
Wenn man ganz genau hinsah, sah man ihre Ähnlichkeit zu meinem Vater und sogar zu Lewi. Sie sah auf jeden Fall genauso gut aus wie er, auch wenn sie einige Jahre älter war als wir. Dieselben blauen Augen. Eine gerade Nase über einem feingeschwungenen Mund.
Das würde sie jedoch nicht vor Kaelchons Spielchen retten.
Mit einem Ruck wandte ich mich von ihr ab.
„Bitte sag nicht, dass du keinen idiotensicheren Ausbruchsplan hast, weil den hatten wir auch schon. Jetzt ist mein Freund tot und ich sitze in einer staubigen Bibliothek und hoffe von den Spinnen gefressen zu werden, die unter der Decke wohnen."
Der dicke Spott verhinderte effektiv, dass ich sofort in Tränen ausbrach.
„Tatsächlich hat Ravn deine Freiheit ausgehandelt."
Da war so etwas wie Anerkennung in ihrer Stimme und mein Magen fiel in die Kniekehlen. Ich rang mit mir, um nicht leise zu wimmern. Eine schreckliche Vorahnung befiel mich.
Ravn hatte in den letzten Wochen bewiesen, dass er zu unglaublich dummen Dingen im Stande war, die ihn irgendwann noch das Leben kosteten.
„Was hat er getan?" Das Zittern meiner Finger hörte man sogar in meinen Worten. Angst vor ihrer Antwort, trieb mich dazu mich ihr zuzudrehen.
Sofort wurde ihre Miene mitleidig und unbewusst hob sie eine Hand, um mir über die Wange zu streichen. Sie merkte erst, was sie dort gerade tat, als ich reflexartig zurückwich und sie ins Leere griff.
Mit einem kleinen Räuspern zog sie sich zurück und drückte den Rücken durch.
„Er gibt meinem Vater, was er sich schon immer gewünscht hat. Eine Hochzeit."
Augenblicklich wurde mein Mund trocken. Eine Hochzeit? Natürlich war mir klar, dass Ravn nur mit einer Heirat herrschen konnte, doch ich hatte nicht gewusst, dass der König allzu bald abtreten wollte.
Doch eine viel größere Sorge schob alle anderen Gedanken fort: „Wen soll Ravn heiraten?"
Unruhe befiel die Frau vor mir, als sie ungemütlich ihre Hände auswrang.
„Mich."
✥✥✥
Wenn man einige Schritte von der Auffahrt zum Schloss abwich, sich links von den Stallungen und den Überdachungen für die Kutschen hielt und gerade so wenig auf seine äußerliche Erscheinung gab, um sich zwischen zwei Rosenhecken durchzuquetschen, fand man einen kleinen steinernen Springbrunnen mitten im königlichen Garten, der vollkommen verlassen eine Tränke für die Vögel bot.
Natürlich verscheuchte meine Anwesenheit alle Tiere und ließ mich, meiner verlorenen Gabe nachtrauernd, alleine zurück. Hätte ich nicht noch genug Angst von meinem unfreiwilligen Selbstexperiment am See übriggehabt, ich hätte versucht, sie wieder zu bekommen.
Ich konnte das. Die Phiole quetschte sich immer noch unter mein Korsett. Ich wollte mich nur nicht versehentlich in ein dreijähriges Mädchen verwandeln, das mit Spatzen und Tauben sprach.
„Es gibt nicht viele, die den Klauen meines Stiefvaters entkommen. Und die meisten sahen dabei glücklicher aus."
Ich hatte Ravn nicht näherkommen hören, so fasziniert hatte ich Kreise in das flache Wasserbecken gemalt. Ich wünschte, ich hätte mein Versteck besser gewählt. Ich war nicht in der Lage ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen. Das war zu viel verlangt.
„Niemand krabbelt zwischen zwei Rosenbüschen hindurch, auf der Suche nach Gesellschaft", versuchte ich, ihn zu verscheuchen. Hörte man meine Verzweiflung? Ich hoffte nicht.
Natürlich trat Gegenteiliges ein. Schlendernden Schrittes lehnte Ravn kurz darauf neben mir gegen die weiße Säule und ließ seinen Blick über die Fenster des Palasts schweifen. Er sah aus wie ein lebendiges Gemälde, das mein Herz in handliche Streifen schnitt. Allein die Art wie sein Unterkiefer sich bewegte und die kleinen Grübchen zum Vorschein brachte.
„Du hättest dich noch nicht einmal verabschiedet?"
Nein. Genau in dieser Sekunde richteten sie mir ein Pferd und eine Satteltasche voll Proviant. Eigentlich hatte ich gehofft, unentdeckt zu fliehen. Ich wollte jede weitere Zusammenkunft mit dem König und der Erfüllung all seiner Träume umgehen, wollte keine Rechtfertigungen von Ravn hören, die mich bis ans Ende meines Lebens verfolgten.
Eine hoffnungslose Vorstellung.
„Ich bin nicht in der Stimmung", gab ich abwehrend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Eine düstere Vision von einem gekrönten Ravn, der nebst meiner Tante das Land (und mich) regierte, schlich sich an mich heran und sprang mir in den Nacken.
„Lya, wenn das wegen der Hochzeit ist..." Er zog die Nase kraus, mein einer Hand durch seine Haare fahrend. Es waren die winzigen Veränderungen in seinem Gesicht, die ich über die letzten Monate so eingehend studiert hatte, bis ich endlich dahinterkam, was wirklich in seinem Kopf vorging. Jetzt hätte ich viel dafür gegeben genauso blind wie früher zu sein.
Ich wäre Teil seiner Familie. Ich würde ihn jeden Tag mit meiner Tante sehen. Leute würden mich auf unsere gemeinsame Zeit ansprechen...
Energisch stieß ich mich vom Brunnenrand ab und kehrte ihm den Rücken zu.
„Leb wohl, Ravn", erklärte ich über die Schulter.
Schritte hinter mir warnten mich, bevor Ravns Hand mich zurückhielt. Er drehte mich zu sich um, sodass ich Angesicht zu Angesicht mit ihm kam.
Sofort hielt ich die Luft an und Hitze kroch meine Wangen hoch. Ich war ihm nicht mehr so nahe gewesen seit... seit...
Das verzweifelte Funkeln seiner Augen machte es unmöglich, den Satz zu Ende zu denken.
Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ringe er mit sich selbst, dann jedoch flatterte sein Blick zu den hohen Wänden des Palasts und er brachte hastig einige Schritte Platz zwischen uns.
Angespannt entließ ich einen langen Atemzug.
„Du weißt, dass ich das für dich getan habe?", platzte es schließlich aus ihm heraus, als er mich aus sicherer Entfernung anfunkelte. Wenigstens hob und senkte sich seine Brust genauso schnell wie meine.
Ich wollte zurückschießen, doch mein Mund betrog mich auf ganzer Linie. Ja, ich wusste, dass er das für meine Freilassung getan hatte. Das hieß leider nur lange noch nicht, dass ich darüber glücklich war.
Er deutete mein Schweigen richtig. Mit einem entnervten Stöhnen fuhr er sich durch die Haare und machte noch einen Schritt zurück.
„Warum ist niemals etwas leicht mit dir?", fügte er leiser hinzu, seine ganze Haltung eine einzige Anklage.
Darauf hatte ich eine Antwort.
„Vielleicht wäre es weniger schwierig mit mir, wenn du mich ab und zu in deine Pläne mit einbeziehen würdest!", marschierte ich auf ihn zu, entschieden, ihn zurückzudrängen.
Vielleicht wäre ich lieber hier geblieben, als einer Zukunft mit Onkel Ravn entgegen zu blicken.
Doch Ravn gab so einfach nicht nach. Trotzig wich er keinen Fingerbreit, sondern reckte provokant das Kinn. Trau dich. Greif mich an. Ich sah es in seinen Augen.
„Auf die eine oder andere Weise wäre es hiermit geendet. So konnte ich dich wenigstens in Sicherheit wissen."
Ihn umgab immer noch derselbe Geruch nach Lagerfeuer und Sattelseife. Vergessen waren meine Pläne, still und heimlich von hier zu verschwinden.
„Oh du hast also damit gerechnet meine Tante zu heiraten?", fauchte ich zurück, meine Hand flach gegen seinen Brustkorb schlagend.
Er zuckte nicht mal, sondern versuchte mich stattdessen in Grund und Boden zu starren. „Nicht mit ihr speziell, aber ja", bestätigte er mit einem entschiedenen Nicken, das mich herausforderte, ihm eine Ohrfeige zu geben. „Du wusstest, dass wir keine Zukunft zusammen haben. Mein Vater hätte niemals zugelassen, dass ich jemanden wie dich heirate, einmal davon abgesehen, dass es unfair dem Volk gegenüber wäre!"
Mein Unterkiefer klappte nach unten. Unfair dem Volk gegenüber? Sprachlos vor Zorn schnappte ich ein paar Mal nach Luft, bevor meine Hirnzellen genug Sauerstoff bekamen, um einen zusammenhängenden Satz zu formulieren.
„Wo wir doch alle wissen, dass dein Vater nichts, als das Wohl des Volkes im Sinn hat."
Ravns Blick flatterte unsicher zu den Fenstern, ehe er sich umso intensiver wieder auf mich richtete. Für einen kurzen Moment fiel er abgelenkt auf meine Lippen, hing dort, doch ich spürte, wie Ravn sich von mir weg lehnte. Wieder wurde mir heiß, doch ich kämpfte das Gefühl zurück.
„Kaelchon nicht, aber ich. Wenn ich wirklich jedem gerecht werden will, brauche ich jemanden an meiner Seite, der kein Genträger ist."
Dass er die Wahrheit sagte, machte es nicht leichter. Im Gegenteil. Es war nur sinnvoll, einen Vertreter des gemeinen Volkes an den Palast und die Krone zu binden. Und seine Hinwendung zu allen Bewohnern dieses Landes ehrte ihn.
Benommen sank ich auf die Fersen zurück, meine Aufmerksamkeit auf das ruhige Plätschern des Wassers gerichtet. Ich sollte wirklich von hier verschwinden, bevor es zu spät wäre.
„Und Lyanna ist keine Genträgerin?" Ich klang schwach und verzweifelt.
Ravn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wäre es für dich einfacher, wenn es jemand anderes, als deine Tante wäre?"
Nein. Die Sekunden des Schweigens zogen sich auseinander.
Ravn fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, ehe er sie ausstreckte und mich so nah vor ihn stellte, dass ich die Wärme seines Körpers wie Feuergnome auf der Haut spürte.
„Dich zu lieben, würde mich zu einem schlechten König machen."
Es klang wie ein Vorwurf aus seinem Mund.
Vielleicht, weil es ein Vorwurf war.
„Tja, dich zu lieben heißt zu bleiben und das würde mich in dieselbe Handpuppe des Königs verwandeln wie dich", entgegnete ich hitzig, mein Gesicht nur noch wenige Fingerbreit von seinem entfernt. Und doch ...
Sein Atem strich über meine Haut und wie von einem Faden gezogen ließ ich meinen Blick nach unten wandern. Seine Lippen sahen verboten weich aus. Angespannt zog er sie zwischen die Zähne, während seine Hand nach meinem Kinn griff, um es anzuheben, bis sich unsere Augen wieder trafen.
Ich schluckte.
Es stimmte. Ich würde ihn zu einem schlechten König machen und die Gefahr, dass Kaelchon mich gegen meine eigenen Leute und meinen Willen einsetzen würde, war viel zu groß, um mich darüber hinweg zu setzen.
Er hatte mir von Suan erzählt. Dass sie seine Tante war- nicht seine Mutter. Dass seine Mutter bei den Rebellen war und er Kaelchon nicht hatte zu ihr führen wollen. Ich würde dasselbe für jeden Menschen dieses Landes machen.
Ernüchtert machte ich einen Schritt weg, um nicht mehr so weit zu ihm hochstarren zu müssen und seine Hand fiel zurück in die Leere zwischen uns. Wir hatten in dieser Hinsicht keine Wahl.
„Ich würde eher sterben, als das Leben unschuldiger Menschen durch meine Gabe zu riskieren."
„Und ich würde eher sterben, als dich oder irgendjemand anderen, weiterhin in meine Verdammnis mithinein zu ziehen", erwiderte er unnachgiebig, das Kinn zu einer harten Linie verkantet, „Ich kann dieses Mal nicht feige sein."
Er sagte es beinahe liebevoll, sein Blick eine einzige Qual. „Du musst wissen, wie sehr es mir leidtut. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich eine Gefahr bin."
Ich ertrug es kaum, ihm ins Gesicht zu sehen. Er hatte all das hier nicht verdient.
„Und ich habe dir keinen einzigen Tag lang geglaubt. Nicht alles, was wir tun, ist dein Fehler. Du wirst ein großartiger König sein."
Etwas flackerte durch sein Gesicht. Trauer, Schmerz und ein kleiner Funken Erleichterung bildeten hinter seinen Augen einen dunklen Abgrund. Sein Mund öffnete sich ein Stück, klappte jedoch zu, als er eine Entscheidung fällte. Mit einem Ruck zog er mich an sich und hinter eine hohe Rosenhecke. Im nächsten Moment fanden seine Lippen meine, seine Hände in meinem Nacken.
Ich konnte ein erschrockenes Keuchen nicht verhindern, doch er gab nicht nach. Seine Lippen hielten ihr stummes Versprechen und mit einem rauen Ton zog er mich noch ein Stückchen näher an sich heran. Sein Kuss war leidenschaftlich, weich und verzweifelt zugleich.
Und ich erwiderte ihn mit demselben Verlangen.
Für einen kurzen Moment verschwamm alles im Hintergrund. Das leise Plätschern des Brunnens und das flüsternde Rascheln zurückkehrender Flügelpaare. Der sanfte Duft der Knospen verschmolz zu unbedeutendem Nichts. Allein Ravn zählte in diesem Augenblick. Ravn und was er tun würde, nur damit ich meine Eltern und Lewi wiedersah. Ravn, der dem König zum Trotz das Land retten könnte.
Während die Finger meiner Linken durch seine dichten schwarzen Haare fuhren, tasteten die anderen nach dem Verschluss meiner Kette. Vorsichtig, bedacht darauf weder den Kuss, noch den Moment zu zerstören, öffnete ich die Kappe der Phiole und ließ einige Tropfen auf meine Haut fallen.
Mein letzter Gedanke war der Wunsch, dass Ravn zu seinem Selbst zurückkehren könnte, bevor der Spiegel der Götter ihn mit den außergewöhnlichen Gaben beschenkt hatte.
Dann wurde es blendend hell zwischen uns. Die sonst eigentlich erträgliche Hitze in meinen Fingerspitzen, reagierte mit der alten Magie in Ravns Körper und wuchs binnen eines Herzschlages zu einem Inferno an, dem ich kaum standhielt. Eine Druckwelle riss uns auseinander und sandte Ravn taumelnd zu Boden.
Hastig ging ich neben ihm auf die Knie, doch er hatte bereits das Bewusstsein verloren. Traurigerweise sah sein Gesicht das erste Mal an diesem Tag vollkommen friedlich aus. Verschlossene Lider verbargen den Kummer und der harte Zug um seinen Mund verblasste.
In mir breitete sich eine weite Leere aus, die mich vor meinen eigenen Gefühlen schützte. Mit einem Blick zurück zum Schloss vergewisserte ich mich, dass er auch wirklich außerhalb des Sichtfeldes lag, dann gab ich ihm einen bitteren Abschiedskuss auf die Stirn.
Schuld schwemmte über mich, schlimmer als ich es jemals erlebt hatte.
Doch es war nicht nur seine Entscheidung gewesen. Und ich war nicht besser als er.
„Es tut mir so leid", flüsterte ich gegen seine Haut, atemlos wegen der Schmerzen in meinem Brustkorb, „Ich hoffe, eines Tages kannst du mir verzeihen."
Die Tränen auf meinen Wangen bemerkte ich erst, als ich die Stallungen und mein bereits gesatteltes Pferd erreichte.
✥✥✥
"Voted, wenn ihr verdammt aufmerksame Leser seid und wisst, wer Ravns Mom ist."- Lya, weiß es nicht :D
Profitipp: In Kapitel 9 in diesem Buch gibt es dazu Hinweise :D
Randtipp: Wer zum Prolog in Buch 1 zurück geht, sollte einen kleinen "oh" Moment haben :D
Love & Hugs!
PS: Nur noch ein Kapitel und wir sind fertig!
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