15- "Wir werden hier raus kommen."



„[...] Wenn sie nicht in der Lage ist ihre Aufgabe zu erfüllen, haben wir auch keine weitere Verwendung für sie."
„[...] im Falle eines Lichtmangels, wenden Sie sich an Ihren Kammerdiener/ Ihre Kammerzofe. Unter dem Schloss befinden sich Gewölbe, eigenes für die Haltung von Irrlichtern angelegt. Ihre Bediensteten sollten in kürzester Zeit ihre Räumlichkeiten zur Genüge ausleuchten [...]"

(Befehlsschreiben unter einem Pamphlet für die Hausgäste)

✥✥✥

          Schritt eins war das dämliche Kleid loszuwerden. Ich konnte nicht in einem dieser aufgebauschten Zelte rennen, geschweige denn fliehen. Sie verknoteten sich um meine Knöchel oder blieben an irgendwelchen Gegenständen hängen. Es war eine Katastrophe und es musste weg.

Da ich allerdings genauso wenig in meinen langen weißen Unterhosen durchs Land reiten wollte und das auch auffällig wäre, bat ich Theenan um ein Paar seiner Leinenhosen.
Ich krempelte sie zwar mehrfach an den Füßen um und funktionierte ein dünnes Seil als Gürtel um, doch die neu gewonnene Freiheit war mir jeden modischen Fehltritt wert.

Ein energisches Klopfen unterbrach meine eingehende Musterung im Spiegel, doch noch ehe ich fragte, wer mich direkt nach dem Frühstück störte, hatte sich Theenan bereits durch die Tür gezwängt.
Sein Blick glitt über meine Erscheinung und ein unechtes Lächeln zuckte über seinen Mund, während er vorsichtig ein in Tuch geschlagenes Bündel auf dem Bett ablegte.
„Steht dir besser als mir."

Aufregung ließ mich an seine Seite springen. Selbst gestern hatten wir noch gemeinsam an den Feinheiten unseres Plans gearbeitet. Jede freie Sekunde hatten wir uns in die Ausarbeitung der Flucht gestürzt und ich hatte ganz nebenbei sichergestellt, dass er keine Dummheiten machte. Jetzt zu sehen wie das letzte Puzzlestück an seinen Ort rückte, gab mir das Nervenkostüm einer Sonnenfee.
„Ist das mein Schwert?"

Theenan nickte ernst und tat einen Schritt zur Seite, damit ich es auspackte. Sein Ausdruck blieb frei von jeder Emotion, als meine Finger ungeduldig das Tuch wegschlugen und sich um den Griff der Waffe schlossen. Kein schönes Exemplar, aber dadurch nicht weniger tödlich.

„Ich habe sie aus der Waffenkammer unseres Trainers gestohlen. Mit dem Ding haben irgendwann mal Ravn und Rake kämpfen gelernt, als sie kleine Jungen waren. Es sollte also leicht genug sein."

Dankbar und vollkommen überwältigt von dem Gefühl, endlich ein Stück der Machtlosigkeit zu verlieren, schenkte ich ihm mein breitestes Grinsen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seitdem ich das letzte Mal ein Schwert geführt hatte und alles in mir verlangte danach, es durch die Luft zu wirbeln.
Nur, dass mein Raum dafür zu winzig war, wenn ich Theenan nicht unabsichtlich verstümmeln wollte.
„Ich ignoriere einfach mal, dass du mir ernsthaft ein Kinderschwert besorgt hast und sage artig danke." Sorgsam steckte ich es in meine Hose. Die weiten Hosenbeine ließen es vollkommen verschwinden und mein Gürtel hielt es dort, wo es sein sollte. Als Kinderschwert ging es mir glücklicherweise gerade einmal bis zum Knie.

Theenan erwiderte nichts, sondern deutete lediglich stumm auf die Tür. Seine Augen blitzten vor Anspannung und betrogen nicht die kleinste Erheiterung über meinen Witz. Die Narbe erinnerte mich an einen Riss in seiner Maske, der nichts weiter zeigte als silbriges Eis.

Mit einem unterdrückten Seufzen wandte ich mich zum Gehen. Das Begräbnis seiner Schwester und die Worte des Königs waren uns allen noch immer viel zu gut im Gedächtnis.

Bevor er mir folgte, warf er einen letzten prüfenden Blick aus dem Fenster.
„Ravn steht bereits am Haupttor und unterhält sich mit den Wachen. Wir werden uns beeilen müssen, sonst geht ihm noch der Gesprächsstoff aus", murmelte er und schloss hinter uns die Tür.

Ich war kaum in der Lage normal neben ihm her gehen. Der Stein auf meinem Herzen gewann noch einmal an Gewicht, verdrängte jedoch nicht das flatternde Gefühl. So sehr ich mir auch meine Freiheit wünschte, so wenig ertrug ich es Ravn wirklich zurückzulassen.
„Wir hätten einen anderen Weg hier raus finden sollen. Wenn der König erst erfährt, dass Ravn uns geholfen hat-..." Meine Stimme erstarb bei der Vorstellung. Ich wollte ihm das nicht antun. Ich konnte ihm das nicht antun.

Als spüre er meinen Widerstand, griff Theenan mein Handgelenk und zog mich um das nächste Eck.
„Er wird wahrscheinlich innerhalb der kommenden Woche an irgendeine Prinzessin verheiratet, damit die Krone in der Familie des Königs bleibt und er keine Macht verliert. Wenn du Ravn befreien willst, musst du seine Verbindung zu Kaelchon trennen. Aber solange wir nicht wissen wie ..." Er brachte den Satz nicht zu Ende.

Dennoch stoppte ich, kaum da er mich losließ. Ich war in zwei Teile gespalten, die in unterschiedliche Richtungen zogen und meine Beine gehörten zu der Hälfte, die nicht ertrug, von Ravns Hochzeit zu hören.

Vorsichtig spähte Theenan das Geländer herunter, besorgt, dass am Fuß der Treppe womöglich Soldaten warteten, ehe er sich letztendlich doch zu mir umdrehte.
„Lya, Ravn ist ein erwachsener Mann. Es ist seine eigene Entscheidung hierzubleiben und wir müssen das respektieren." Keine Sekunde brach er den Augenkontakt ab, während er eindringlich auf mich einredete.

Angst. Ich konnte sie überall in seinem Gesicht sehen. Angst und unermessliche Wut. Sie bestimmten alles an ihm und ließen seine Augen leer und seelenlos wirken. Es war, als hätte der Theenan im Heckenlabyrinth nie existiert. Dieser Theenan hatte uns zurückgelassen, genauso wie seine Schwester. Was ich hier rettete, war kaum mehr, als die tönerne Hülle eines Jungen.
Allein meine Hoffnung, dass er sich dort draußen wiederfinden würde, hatte mich dem Plan überhaupt zustimmen lassen. Ravn hatte Recht behalten, sollte der Una Fil wirklich an diesem Ort bleiben, würde er kaum noch einen Monat überleben.

Mit einem tiefen Atemzug wurden Theenans Züge einfühlsamer, als er erkannte, dass ich immer noch nicht vollkommen überzeugt war. „Wenn du hierbleibst, wird Kaelchon dich früher oder später für seine eigenen Gräueltaten instrumentalisieren. Wenn du schon nicht für dich selber fliehen willst, dann wenigstens für die Menschen dort draußen, die von deiner Hand leiden werden. Ich weiß, dass du nur das Richtige möchtest."

Mein Mund klappte auf, weil das sonst meine Reaktion auf solche Worte war, doch mir fiel keine Antwort ein. Er sagte die Wahrheit, sicherlich, aber das bedeutete nicht, dass ich sie auch hören wollte.
Konnte ich wirklich ein Leben opfern, um das von vielen zu retten? Warum gab es für solche Fragen keinen Unterricht in der Burg? Ich hätte ihn jetzt definitiv gebraucht.

„Gehen wir weiter?", schnitt Theenan meine stockenden Gedanken ab und nickte die Treppe runter. Es tat ihm leid. Gerade ihm. Er, der seine Schwester verloren hatte und schlimmer litt als jeder andere an diesem Ort. Er hatte Mitleid mit mir.

Wie eine Handpuppe hastete ich hinter ihm die Stufen hinunter, immer noch über die schrecklichen Möglichkeiten sinnierend, die sich auftun könnten, wenn ich hierbleiben würde.
Ravn hatte darüber nachgedacht, kein Zweifel. Und freundlich wie er war, hatte er mich natürlich nicht darauf hingewiesen, sondern lieber den Helden gespielt.

Bis wir neuerlich vor einer Tür stehen blieben, hatte ich vollkommen den Überblick verloren, auf welchem Stockwerk ich überhaupt war. Doch Schritt Zwei unseres Plans, holte mich mehr als scharf in die Gegenwart zurück.
Ich musste mich konzentrieren.

„Hast du sie dabei?", fragte Theenan, eine Hand auf der goldenen Türklinke.

Nickend zog ich die feine Goldkette aus meinem Ausschnitt heraus und über den Kopf. Das Wasser in der kleinen Phiole glitzerte, wenn ich sie nur in die Hand nahm, doch um tatsächlich Zugang zu meinen Fähigkeiten zu bekommen, musste ich damit in Berührung kommen. Ich war gezwungen sie fast vollständig umzudrehen, um an den Inhalt zu kommen, dank eines dummen Missgeschicks meinerseits, bei unseren ersten Versuchen.

Unter dem wachsamen Blick meines Freundes träufelte ich ein wenig in die flache Hand und wartete darauf, dass das bekannte Kribbeln zu mir zurückkehrte. Die flüssige Form der Freiheit und Macht.
Goldene Adern zogen sich unter meiner Haut entlang und schimmerten im Halbdunkel des Flurs. Wir standen in keinem der prächtigen Korridore, die der königlichen Familie oder der angesehenen Gäste, aber immer noch schöner als die Quartiere der Dienerschaft. Ohne Bilder und Schmuck, aber in hellen Farben gehalten.

Ohne einen weiteren Laut drückte Theenan die Tür auf und trat in einen parfümgeschwängerten Raum.
Augenblicklich wurde mir schwindelig. Jemand hatte das gesamte Zimmer in roten und roséfarbenen Tönen dekoriert, die einem vor den Augen schwammen, atmete man durch die Nase ein.
Leichte Vorhänge flatterten vor riesigen Fenstern, während mehrere Sofas eine Art Eingangsbereich für sich beanspruchten.
Eine quakende Tonfolge trällerte aus einer der anschließenden Türen unter der dicke Dunstwaben hervorquollen.

Theenan fing meinen leidenden Blick auf und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Mit großen Schritten lief er zu besagter Tür hinüber und riss sie entschlossen auf.
Eine männliche Stimme schrie empört auf, kaum da er in der Nebelwand verschwunden war.

Ich würde diesen Moment für immer hassen, folgte ihm aber trotzdem in das riesige Bad hinein. Vor mir hörte ich das Plätschern von Wasser und die unmissverständliche Geräuschabfolge von zwei ringenden Männern, doch glücklicherweise blieb mir dank dem Dunst, jeder Anblick erspart.
Stattdessen stieß ich mir mein Schienbein an einem kleinen Hocker mit Handtüchern und hüpfte einbeinig weiter, bis ich rückwärts gegen Theenan prallte.

Der verlor das Gleichgewicht und riss einen hautfarbenen Sack mit zu Boden, der sich mit einem hellen Laut den Kopf an einer gusseisernen Badewanne anschlug und schlussendlich regungslos unter meinem Freund liegen blieb.

Fassungslos starrte ich den massigen Kerl an, von dem sich Theenan mühevoll herunter kämpfte.
Wenn jemand ‚mächtiger Zauberer' sagt, dachten die Wenigsten an den Vorkoster des Königs.
Er hatte volles blondes Haar, das sich allein auf seinen Kopf beschränkte, und die Form eines Jutesacks.
Und sehr viel Haut.
Sehr viel nackte Haut.

„Lya, bitte?" Theenan sah tatsächlich erschöpft aus, wie er gegen die nur noch halbvolle Badewanne lehnte. Sein Hemd und seine Hose klebten an seiner Haut und gaben mir freundliche Vergleichsmöglichkeiten, wie andere Männer ohne Kleidung aussahen.

Widerwillig ging ich neben dem königlichen Vorkoster, beziehungsweise Hausmagier, in die Knie und legte ihm doe Hand auf den Bereich, von dem ich hoffte, dass es die Schulter war.
Seinen Anblick aus meiner Vorstellung bannend, versuchte ich mich stattdessen darauf zu konzentrieren, dass ich ihn jünger werden ließ. Deutlich jünger. Bevorzug in ein Alter, in dem er noch keine Bannzauber beherrschte.

Theenans Hand auf meiner Wange ließ mich die Augen aufschlagen.
Vor mir lag ein pummeliges Kind von zwölf Jahren, mit noch hellerem Haar, als er später haben würde. Gut, dann eben kein Kleinkind. Mir fehlte es definitiv an Übung.

Mit einer Gänsehaut richtete ich mich auf und wischte die Hände an der Hose ab. Jetzt kam der gefährlichste Teil unseres Plans und genau den hatten wir leider nicht geprobt.

„Wäre es nicht sicherer gewesen ihn ebenfalls in ein Baby zu verwandeln?", erkundigte Theenan sich, doch meine Antwort wurde von einem hysterischen Laut verhindert, der uns beide zusammenzucken ließ.

Gemeinsam stürzten wir dahin, wo wir das Fenster vermuteten. Ein weiterer Schrei folgte und die schweren Schritte von rennenden Soldaten. Mit einem Ruck schob Theenan die Scheibe hoch und streckte den Kopf raus.

Unruhig hüpfte ich von einem Bein aufs andere, sodass mein Schwert unangenehm gegen meinen Oberschenkel schlug. Mehr Lärm brach aus, doch Theenan ließ mir keinen Platz selbst nachzusehen. Tische wurden verrückt und Stühle schabten über den Boden, untermalt von dem ungleichmäßigen Trommeln vieler rennender Füße.

„Es funktioniert!", verkündete er endlich und zog seinen Nacken mit dem ersten ehrlichen Grinsen zurück. Erleichterung und die kleinste Menge Hoffnung ließen ihn aufatmen, als er zur Seite trat.

Auf dem Innenhof herrschte absolute Alarmbereitschaft. Alle Augenpaare waren auf den Haupteingang des Palasts gerichtet, als erwarteten sie den König höchst selbst. Irgendwo splitterte ein Spiegel, und eine Frau bekam Atemprobleme.
Für einen kurzen Moment verstand ich nicht, woran Theenan festgemacht hatte, dass unser Plan funktionieren würde. Dann barst eben jene Tür auf und ein Schwarm grüner Lichter schoss daraus hervor, dicht gefolgt von einer jungen Dame, die wie ein Herbelzwerg um sich schlug. Mehrere Soldaten waren ihr auf den Fersen, die versuchten die entflohenen Irrlichter einzufangen.

Ein diabolisches Glücksgefühl erfasste mich, als ich zurück in den Raum kroch.
Theenan grinste noch immer. Ein Funken meines Hochgefühls sprang zu ihm über.
„Wir werden hier raus kommen." Scheppern von umstürzenden Möbelstücken, Kreischen von hohen Damen und das alles überlagernde Brüllen der Wachen erfüllte das gesamte Gebäude.
Irgendwo über uns krachte etwas Schweres zu Boden und Putz rieselte in das lichter werdende Bad.
„Weiter geht's, bevor der König-..."

Meine aufgerissenen Augen und der ausgestreckte Finger ließen Theenan mitten im Satz herumfahren. Doch entgegen seiner Erwartung sah er niemanden hinter sich stehen. Keine Soldaten, die nach dem Hausmagier schauten, keine Dienerin, die ihm neue Handtücher brachte.
Dort war absolut niemand.
Was wiederum bedeutete, dass irgendwo im Palast gerade ein nacktes Kind mit einer Kopfverletzung auf direktem Weg zum König war.
Mist.

„Ich fang ihn ein und wir treffen uns am Haupttor. Hoffen wir, dass Ravn die Wachen lange genug ablenkt, dass sie nicht gleich alles abriegeln", bestimmte Theenan, grimmige Entschlossenheit da, wo vorher die Hoffnung saß.

Ich fluchte. So laut und stark, dass meine Mutter eine ihrer Kerzen zerbrochen hätte vor Schreck.
Aber weil mir gar nichts anderes übrig blieb, nahm ich ebenfalls die Beine in die Hand und folgte ihm aus den stickigen Gemächern des Zauberers. Ich dachte, das Kind wäre bewusstlos? Mit einem Baby wäre uns das sicher nicht passiert.
Das Durcheinander, das mich erwartete, ließ mich kurz innehalten.

Die Irrlichter waren überall. Ich hatte ja gar keine Vorstellung gehabt, wie viele von ihnen hier festgehalten wurden. Und sie waren keinesfalls so freundlich wie Minx. Wie aufgestachelte Bienen surrten sie um die Köpfe der Leute herum, versuchten, in ihre Nasen und Ohren zu kriechen und so Besitz von den Menschen zu ergreifen.

Und wirklich jeder einzelne Palastbewohner befand sich in diesem Augenblick auf den Gängen. Ich kam an kauernden Gestalten vorbei, die sich in Ecken gedrängt hatten und sich die Ohren zuhielten.
Im nächsten Moment wich ich einem aufgebrachten Höfling mit schiefer Perücke aus, der mit einer zerbrochenen Vase nach den kleinen Wesen schlug.
Teile der Königsgarde passierten mich in Reih und Glied, ohne von meinem inzwischen gezückten Schwert auch nur Notiz zu nehmen.

Stattdessen bemerkten mich die winzigen Leuchtkugeln sehr wohl. Mich und die Kette, die ich mir erneut um den Hals gelegt hatte und die jetzt beim Rennen in jede Richtung sprang. Fragend hielten sie bei ihren jeweiligen Aktivitäten inne und starren mich an. Sofern ich das natürlich bei ihrer Größe sagen konnte. Als würde meine Anwesenheit die Zeit anhalten, schwebten sie regungslos in der Luft, bis ich um die nächste Ecke bog und der Lärm hinter mir wieder anschwoll.

Als ich endlich den offenstehenden Haupteingang erreicht hatte, prallte ich doch mit einem dieser kleinen Glühwürmchen zusammen. Benommen trudelte es einige Schritte von mir fort, ehe es mit einem kurzen Vibrieren seine Sinne neu sortiert hatte.

Hastig lief ich an ihm vorbei in das helle Tageslicht hinaus, den Blick fest auf das Tor gerichtet, das mich alleine von meiner Freiheit trennte. Es war wahrscheinlich die größte Hürde von allen und ich sah weder Ravn noch Theenan im ganzen Gewusel dazwischen.

Doch das kleine Wesen ließ nicht von mir ab. Energisch summend schoss es zu mir auf Kopfhöhe und machte alle Anstalten dortzubleiben. Es griff mich nicht an, doch keine Handbewegung verscheuchte es. Entschieden kehrte es immer wieder an meine Seite zurück.
Meiner Eile zum Trotz blieb ich irritiert stehen.

Sofort nutzte es die Gelegenheit, um nahe an mein Ohr zu kommen. Doch anstatt so dreist wie seine Geschwister, Besitz von mir zu ergreifen, sang es ein unverständliches Lied hinein.

Erleichterung ließ mich die Hand ausstrecken, um die kleine Leuchtkugel zu berühren. Auch wenn sie für mich alle gleich aussahen, war ich mir verdammt sicher, dass vor mir Minx auf und ab hopste wie ein dressierter Schneeball.

Ein lauter Knall, gefolgt von einer goldenen Sonnenwelle, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Erschrocken versuchte ich mich, mit einigen Schritten zurück zu fangen, landete stattdessen aber auf den Hintern und eine leblose Minx in meiner Hand.

Sie fiel aus der Luft. Ihr Leuchten erlosch noch zwischen meinen Fingern und allein ein sachtes Beben ihres Körpers versicherte mir, dass sie nicht tot war.

Heiße Wut brodelte in mir hoch. Ich wusste nicht, was gerade passiert war, doch das hatte bestimmt mit diesem verfluchten Magier zu tun! So behutsam wie möglich steckte ich Minx in meine Hosentasche und kämpfte mich zurück auf die Beine.

„GENUG!"

Die donnernde Stimme ließ mich in der Bewegung innehalten. Es hatte mir das Schwert aus der Hand geschlagen, doch irgendetwas verhinderte, dass ich die Finger ausstreckte und mich bewaffnete.
Langsam, weiterhin hoffend, dass man nicht mit mir gesprochen hatte, richtete ich mich auf.

Der König stand auf dem gigantischen Balkon oberhalb des Haupteingangs und starrte zu mir herunter. Die Flügeltüren hinter ihm bewegten sich immer noch von der Wucht, mit der er sie aufgeschlagen hatte.
Er wirkte riesig dort oben, furchteinflößend, selbst wenn ich außerhalb seiner Reichweite kauerte.

Doch alles was ich sah, waren die zwei Gestalten neben ihm.
Ravn wartete zu seiner Linken, den Rücken durchgedrückt, als wäre er auf einer Streckbank. Er trug den Kopf so gerade, dass ich mir nicht sicher war, ob nicht jemand hinter ihm stand und ihn in der Position hielt. Allgemein ähnelte er eher einer der Trainingspuppen im Schwertkampf, anstatt einem lebenden und atmenden Menschen. Nichts an ihm bewegte sich.

Den Jungen, dem er sein Messer an die Kehle drückte, dafür umso mehr. Theenan wand sich, ruckte und trat mit den Beinen, doch sogar von hier unten aus sah ich, wie aussichtslos die Situation war. Der König machte seine Gewalt über Ravn geltend und selbst wenn er gewollt hätte, er konnte seinen Waffenbruder in diesem Moment nicht loslassen.

Das kleine Kind am Rockzipfel Kaelchons sah ich zuletzt. Er versuchte, sich mit der wallenden blauen Robe des Mannes zu bedecken, doch sein Kopf lugte immer wieder neugierig dahinter hervor. Seine Augen sprangen von einem Fleck zum nächsten, unfähig zu begreifen, was hier vor sich ging.

Der Zauber ließ beinahe sofort nach. Ohne den Blickkontakt zu brechen, beugte ich mich herunter und hob mein Schwert auf. Ich würde nicht hierbleiben, um zu sehen wie die Leute später auch durch meine Gabe starben. Ich wollte kein zweiter Ravn sein und ich wollte ganz bestimmt nicht hier warten, bis der König sich eine passende Strafe für mein Verhalten ausgedacht hatte.

„Noch einen Schritt, Lyanna, und dein Freund hier oben stirbt." Kaelchon musste nicht mehr brüllen, damit ich ihn hörte.

Alles Chaos um mich herum verblasste. Es war; als schnitte er die Worte in meinen Verstand hinein. Es war diese Vorstellung, die mir dir Kraft für meine nächste Entscheidung gab.
„Eher werde ich sterben, als zurückzukommen."

Mit der nachlassenden Wirkung des Wassers war es schwer; zu erkennen, ob der König wirklich über meinen Widerstand lächelte. Das Schulterzucken, als er sich von der Balkonbrüstung abwandte, war jedoch eindeutig.
„Zu deinem Pech ist das nicht deine Entscheidung."

Es war eine kleine, ganz subtile Bewegung.
Beinahe hätte ich sie verpasst.
Eine wegwerfende Drehung des Handgelenks und Ravn zog das Messer über durch das Fleisch meines Freundes. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gesehen hatte. Starr sah er geradeaus, doch die silbrige Klinge zitterte nicht, als sie eine rote Linie auf die Haut seines Bruders malte.
Theenan versuchte zu brüllen, doch seine Stimme erstickte gurgelnd.

In einer freilassenden Geste breitete Ravn die Arme aus und Theenan stolperte nach vorne. Probierte zu mir zu gelangen. In seine Freiheit. Aber er war ein Tänzer ohne Musik. Mit beiden Händen fest an die Kehle gepresst, fiel er über die steinerne Begrenzung, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben.

Ein dumpfer Laut begleitete den Aufprall und sein Ende. Nur einen Steinwurf von seinem Ziel entfernt.

Ich hatte mich keinen fingerbreit bewegt. Meine Beine waren schwerer als Blei und die Augen konnten sich nicht von der Szene vor mir lösen. Sein Aufschlag hallte immer noch in der Leere meines Kopfes. Wieder und wieder. Wie ein tödlicher Puls.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich einen stolpernden Schritt nach vorne. Ihm folgte ein Zweiter, damit ich nicht hinfiel, und kurz darauf Weitere. Ich wollte nicht zu Theenan und gleichzeitig konnte ich es nicht verhindern.
Er war nicht tot, so lange ich nicht bei ihm stand. Er war nicht tot, so lange ich nicht seine Hand ergriff und keine Kraft spürte. Wir hatten immer noch eine Chance. Wir würden gemeinsam fliehen und endlich frei atmen.
Ich durfte nur nicht in sein Gesicht sehen.

Meine Augen brannten, aber keine einzige Träne linderte den Druck in meinem Kopf.
Ich stand direkt unter dem Balkon, mein Schwert nutzlos in der Hand, als der König sich über das Geländer lehnte, damit ich den Kopf für ihn hob.

Keine Tränen.
Dafür ein Meer aus Hass. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken mehr fassen, die sich nicht um Mord drehten. Alles in mir war entweder vollkommen still oder brüllte so laut, dass ich es nicht verstand. Ich hatte das letzte bisschen Kontrolle verloren und wollte sie nie wieder zurück.
„Ich werde Euch umbringen."

Die Miene des Königs blieb gleichgültig.
„Dann hätte ich kaum noch Nutzen für deinen Bruder. Geh auf dein Zimmer und beim Mittagessen sprechen wir noch einmal über unsere Pläne."

    ✥✥✥  

"Voted für eine letzte Chance auf Freiheit."- Theenan

Das Ende naht. Wenn alles so klappt wie ich mir das vorstelle, werde ich diese Woche noch ein Kapitel hochladen und nächste Woche die Geschichte vollständig beenden. 
          Xoxo

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