XXVII - Dankbarkeit
- Killian -
Schwer atmend erreichten Damien und Killian den 43. Stock des Rohbaus, nachdem sie bereits alle unteren Etagen nach Ivory abgesucht hatten. Eine Mischung aus Sorge, Müdigkeit und Wut trieb die beiden immer weiter an, obwohl ihre Muskeln schmerzten.
Als Killians Blick auf die zusammengesackte Gestalt fiel, die an einem Betonpfeiler lehnte, während ihre Beine über dem Rand des Gebäudes baumelten, bestand seine erste Reaktion aus purer Erleichterung. Gleichzeitig wurde sein Zorn angefacht, als er erkannte, dass Ivory seelenruhig schlief - duzende Meter über dem Abgrund.
Mit hastigen Schritten eilte er zu ihr und griff grob um ihren Brustkorb herum, um sie von ihrem sicheren Tod wegzuziehen. Es wurmte ihn, dass sie so leichtsinnig gewesen war und sich scheinbar kein bisschen darum scherte, wie er und Damien sich bei ihrem riskanten Verhalten fühlten.
Ruckartig wurde sie aus dem Schlaf gerissen und versuchte zappelnd, sich aus seinem festen Griff zu befreien. Doch der restliche Alkohol in ihrem Körper machte sie schwach und wehrlos.
"Was hättest du getan, wenn ich ein Nex gewesen wäre, hm?", knurrte er wütend in ihr Ohr. "Ich hätte dir im Bruchteil einer Sekunde die Kehle aufgerissen und dann den unbrauchbaren Rest deines Körpers in die Tiefe gestoßen!"
Seine innere Zufriedenheit stieg, als sie endlich Ruhe gab und er sie loslassen konnte. Als sie sich zu ihm umdrehte, starrten ihm wütende blaue Augen entgegen. Ihre Haare und die Kleidung waren mit grauem Staub bedeckt, Reste von Mascara umrahmten ihre geröteten Augen.
In dem Moment, als sie ihm wütend entgegen starrte, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr sie letzte Nacht wohl gelitten hatte. Das war nicht bloß ein Ausrutscher gewesen, ein Kontrollverlust auf Grund des Alkohols - nein, sie hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen. Und wie er wusste, war das nicht das erste Mal gewesen.
Erst jetzt formten sich die Ereignisse der letzten Nacht zu einem Gesamtbild in Form der völlig niedergeschmetterten Frau vor ihm.
Gerade als sie die Hand hob, um ihn zu schlagen, schritt Damien dazwischen und hielt sie ab. Obwohl auch er aufgestauten Zorn über Ivorys naives Verhalten in sich verspürt hatte, so erkannte Killian, dass jeder negative Gedanke der Tatsache wich, dass sie am Leben und in Sicherheit war.
Mit einem Ruck zog er Ivory an sich und hielt sie einige Sekunden fest, während die Last der Ungewissheit sichtbar von seinen Schultern abfiel. Kurz darauf hob sie ihre Arme und erwiderte seine liebevolle Geste.
"Bitte Ivy, tu mir das nicht noch einmal an", seine Stimme klang brüchig und wurde beinahe gänzlich vom Wind verschluckt.
Das Gefühl von Neid veranlasste Killian, einige Schritte in Richtung des Abhangs zu tun, um hinunter zu blicken. Tatsächlich konnte ein winziger Teil in ihm verstehen, warum sie hierher gekommen war. Der atemberaubende Ausblick war Antwort genug.
Langsam erhellten die Strahlen der aufgehenden Sonne die Stadt und ließ den Schnee auf den Dächern und in den Straßen Meilenweit funkeln. Sogar das Meer, das noch ebenso ruhte wie die Stadt selbst, konnte er von hier aus erkennen.
Der Anblick löste einen inneren Frieden in ihm aus, den er seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte. Das gleiche Gefühl hatte er gehabt, als Ivorys Lippen mit seinen verschmolzen waren.
"Lasst uns was essen gehen", schlug Damien plötzlich vor, als wäre nichts gewesen. Als hätten sie in der vergangenen Nacht nicht die Hölle durchlebt.
Killian wandte sich zu den beiden um und musterte Ivory eingehend. Sie wirkte immer noch ziemlich mitgenommen, sogar ein bisschen verwahrlost.
"Ich sehe aus wie ein Junkie, der letzte Nacht zu hart gefeiert hat", bestärkte Ivory seine Gedanken. "Außerdem habe ich mörderische Kopfschmerzen und noch keinen Kaffee intus."
"Geschieht dir recht. Gerade ist es mir herzlich egal, wie du aussiehst. Ich habe hunger. Und in Anbetracht der Tatsache, dass wir deinetwegen die ganze Nacht wach waren, könntest du dich jetzt ruhig für uns aufopfern und einfach zum Essen mitkommen", kommentierte Damien spielerisch streng.
Verblüfft sah sie ihren besten Freund an, legte jedoch keine Widerworte ein. Stattdessen nickte sie brav und folgte ihm hinaus aus dem Gebäude, wobei sie sich jedoch noch einmal umdrehte und sehnsüchtig in den Sonnenaufgang schielte.
Zwanzig Minuten später standen die drei vor einer Imbissbude und aßen Burger. Der Verkäufer hatte sie verdutzt angesehen, immerhin war es erst kurz nach acht Uhr morgens. Doch nach einem kurzen Blick auf Ivory hatte er keine weiteren Fragen gestellt und ihnen drei Double-Cheese-Bacon-Burger und einen Kaffee zubereitet.
Genüsslich schloss Ivory die Augen, als sie erst den Kaffee in einem Zug leerte und anschließend den ersten Happen von ihrem Burger nahm. Dabei kümmerte sie sich herzlich wenig um ihre Manieren. Sie sah sowieso aus wie eine Verrückte, schlimmer konnte es nicht werden.
Damien beobachtete sie schweigend und stellte sich wohl die gleichen Fragen wie Killian: War ihr Verhalten nur Schein? Hatte sie ihren inneren Konflikt überwunden? Er bezweifelte es stark. Jemand mit so drastischen psychischen Problemen wie sie, würde wahrscheinlich niemals völlig "normal" sein. Aber wer ist das schon, dachte Killian seufzend, während er zwei Pommes aß. Er wusste, dass sie ihm noch so einigen Ärger bescheren würde, aber er konnte seine beschützerischen Gefühle für sie nicht mehr unterdrücken. Da war etwas an ihr, auf das er niemals wieder verzichten wollte. Auch wenn das bedeutete, dass der gestrige Abend nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft sein würde.
"Es tut mir leid, dass ich euch solche Sorgen bereitet habe", durchbrach sie schließlich das Schweigen, als sie aufgegessen hatte und sich die restliche Soße vom Mund wischte. Zuerst dachte Killian, er hätte sich verhört, doch dann sprach sie zögernd weiter: "Letzte Nacht sind mir einige Dinge klar geworden. Vorab kann ich euch nicht versprechen, dass so etwas nicht mehr passieren wird. Ich -".
Sie schluckte schwer, ihr Blick war eisern auf den Pappteller vor ihr gerichtet. "Alle diese furchtbaren Dinge, die ich in der Vergangenheit erlebt habe, kann ich nicht vergessen. Sie werden mich mein ganzes Leben begleiten. Aber ich weiß auch, dass es noch viele gute Tage geben wird."
Langsam hob sie ihre eisblauen Augen und sah die beiden an, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. "Ich möchte unbedingt zu meiner Mutter. Und ich möchte, dass ihr mich begleitet. Außerdem bin ich fest davon entschlossen, in fünf Tagen auf diesen Frachter zu steigen und Elian zu finden. Es steht euch offen, mitzukommen."
Damien wischte sich seine Finger an einer Serviette ab und warf Killian einen vielsagenden Blick zu. Als sie letzte Nacht nach Ivory gesucht hatten, hatten sie über viele Dinge gesprochen - auch über die Aussage des Orakels vor zwei Tagen.
Es gefiel Killian zwar immer noch nicht, dass sie sich freiwillig in diese Gefahr begeben wollte, dennoch würde er sie niemals alleine gehen lassen.
"Wir haben schon darüber geredet und wir werden dir helfen. Allerdings brauchen wir noch mehr Unterstützung. Ich werde mich darum kümmern", sprach Killian für sie beide.
Ivorys Augen leuchteten bei seinen Worten auf. Er meinte sogar einen Funken Hoffnung in ihrem Blick zu erkennen. In diesem Moment wurde ihm deutlich bewusst, dass er alles dafür geben würde, diese Hoffnung anzufachen und somit ihr Vertrauen zu gewinnen.
"Wie versprochen, will ich alle Karten offen auf den Tisch legen", gestand er seufzend. "Das Geld, das du fürs Töten von Nex bekommst, stammt vom Graham Institut. Beziehungsweise von dem Stamminstitut in Italien. Damit bezahlen sie dich und alle anderen Jäger fürs Schweigen. Und bevor du fragst - ich weiß erst davon, seit wir uns kennen."
Ein kurzes Schweigen folgte, in dem sie seine Worte abzuwägen schien. Zu seiner Überraschung reagierte sie vollkommen gelassen: "So etwas in der Art habe ich mir schon gedacht". Dankbarkeit schwang in ihren Worten mit, was Killians Herz erweichte. Diese Frau machte ihn noch zu einem Softie!
Er räusperte sich, um seine Gedankengänge wieder in eine gerade Spur zu bringen. "Das war leider noch nicht alles."
Unbehaglich faltete Killian seine Serviette und hoffte inständig, dass sie auch bei seiner nächsten Aussage so ruhig bleiben würde. "Als ich dir Blut abgenommen habe, hatte das zwei Hintergründe. Erstens wollten wir erforschen, woher deine Immunität kommt. Wie du weißt, gab es diesbezüglich noch keine konkreten Ergebnisse. Aber ich wollte das Blut auch, um einen DNA-Test durchzuführen-"
"Du hast ohne Erlaubnis einen DNA-Abgleich mit meiner Mutter gemacht?!", äußerte Ivory ein wenig zu laut. Sie schien nicht wütend, aber glücklich sah sie auch nicht aus - was Killian vorerst als positives Ergebnis einstufte.
"Ich wollte doch nur sicher gehen, dass sie wirklich verwandt mit dir ist, um dir keine falschen Hoffnungen zu machen", fügte er nun auch etwas lauter hinzu.
"Ivy, ich finde unterm Strich hat er alles richtig gemacht und dabei immer nur darauf geachtet, dir nicht noch mehr Schaden zuzufügen", brachte ihr bester Freund mit fester Stimme ein. Killian erkannte in ihrem Gesicht deutlich, wie sie die Informationen verarbeitete und ihre Gefühle ordnete und danke Damien im Geiste für seine Unterstützung.
Schließlich nickte sie bestätigend. "Du hast recht. Das bedeutet allerdings auch, dass meine Mutter diejenige ist, die mir die Immunität vererbt hat. Und das wiederum bringt ganz neue Perspektiven ins Spiel."
Sie straffte motiviert ihre Schultern und sah die beiden mit einem schwachen Lächeln an. "Ich denke wir sollten uns auf den Weg machen und ihr einen Besuch abstatten."
"Einfach so?", fragte Damien unsicher, woraufhin Ivory nur mit den Schultern zuckte. Sie hat nichts zu verlieren, ging es Killian durch den Kopf. Er kannte diesen Gedanken nur zu gut.
"Vorher sollten wir aber ein bisschen schlafen und uns mal frisch machen. Du ganz besonders, kleine Jägerin", fügte er zwinkernd hinzu und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
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Huhuuuu, nun melde ich mich mit einem neuen (etwas längerem) Kapitel zurück. Sorry für das fehlende Update letzte Woche, ich war im sonnigen Süden im Urlaub ;)
Übrigens möchte ich euch herzlich für euer weiterhin bestehendes Interesse an meiner Story danken, ich gebe mir immer sehr viel Mühe mit dem Schreiben (wobei Rechtschreibfehler manchmal auch nach dem 100sten Lesen durchkommen...) und freue mich, dass es von euch so liebevoll honoriert wird :)
Alles Liebe,
Eure
LiviaDV
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