XXVI - Lichtermeer
Mit einer Flasche billigem Gin in der Hand torkelte Ivory am Abgrund. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie hierher gekommen war. Die letzten Stunden schienen in weiter Entfernung, lediglich die Lichter der Stadt, die sich vor ihr in all ihrem Glanz erstreckten, schienen noch von Bedeutung zu sein. Alles andere war unwichtig und klein.
Ein eisiger Windzug ließ sie schwanken und beinahe wäre sie gefallen - 40, oder vielleicht 50 Stockwerke tief. Sogar die Umwelt wollte sie in den Tod stürzen sehen.
Wahrscheinlich würde sie nichts bemerken, ihr Alkoholpegel dämpfte bereits jegliches Gefühl ab. Müde setzte sie sich auf den staubigen Boden und ließ ihre Beine über dem Abgrund baumeln. Es fehlte nur ein paar Zentimeter, ein winziger Stoß und sie würde fliegen.
Seit einiger Zeit waren ihre Tränen versiegt, denn sie hatte alle Reserven aufgebraucht. Wie schon so viele Male zuvor. Angsteinflößende Gefühle mischten sich mit ihrem Rausch zu einer gefährlichen Mordwaffe. Enttäuschung, Furcht, Einsamkeit. All diese Emotionen folgten Ivory seit Jahren, wie ein Schatten in dem schwachen Pegel der Straßenlaternen. Doch noch nie hatte sie sich so verwundbar gefühlt wie jetzt.
Sie gab sich selbst die Schuld daran, hatte sie doch damit begonnen, jemanden in ihr Herz zu lassen und aus ihrer eigenen Vergangenheit nichts gelernt. Dennoch war sie wieder enttäuscht und angelogen worden. Er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass ihre Mutter noch am Leben war! In Ivorys Kopf fegte ein Sturm und sie fragte sich, was er ihr noch verheimlichte.
Aus einem Reflex heraus griff sie nach ihrer Beretta, die links neben ihr lag und entlud die Waffe, presste die Mündung an ihren Kopf. Es wäre so ein schöner Tod, hier über den glänzenden Dächern der Stadt. Ein würdiger, letzter Ausblick.
Doch ihre Hand zitterte, als eine Träne sich aus ihrem Augenwinkel löste und kalt über ihre Wange rollte. Was, wenn ihre Mutter tatsächlich noch lebte?
Dieser Gedanke ließ sie langsam die Hand sinken, gleichzeitig kam die Frage auf, warum man ihr damals diese Information verschwiegen hatte. Oder warum ihre Mutter in einer geschlossenen Anstalt steckte.
Seit Jahren war es ihr Traum gewesen, wenigstens ihren Bruder in den Armen halten zu können. Aber jetzt bestand die winzige Chance, dass sie ihre geliebte Mom zurückbekommen würde.
Schluchzend musste sie sich eingestehen, dass sie sich nichts antun konnte, solange sie noch keine Antworten erhalten hatte. Sie musste sicher gehen, dass Savio sich nicht getäuscht hatte, dass ihre Mutter wirklich noch lebte. Mit wild pochendem Herzen entschied sie, Killian zu konfrontieren. Sie musste es einfach wissen.
Mit bebenden Fingern zog sie ihr Handy hervor und schaltete es ein. Ihr Blick verschwamm, als der Bildschirm aufleuchtete und eine unschöne Übelkeit gesellte sich zu ihrem körperlichen Fehlfunktionen hinzu.
Während sie seine Nummer in ihren Kontakten suchte, blendeten zig verpasste Anrufe und Nachrichten von Killian und Damien auf, die sie bewusst ignorierte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hob sie endlich das Handy ans Ohr und lauschte dem kurzen Tuten, das sofort durch Killians bestürzte Stimme abgelöst wurde.
"Wo bist du?", knirschte er herrisch, doch Ivory beschloss, nicht darauf einzugehen.
Stattdessen hielt sie ihn davon ab, noch mehr unnötige Worte zu verlieren: "Halt deinen verfluchten Mund, Killian!".
Himmelherrgott sie klang furchtbar betrunken, aber das spielte jetzt keine Rolle.
"Ich stelle dir jetzt einige Fragen und du solltest besser ehrlich darauf antworten", äußerte sie darauf bedacht, möglichst nüchtern zu klingen. Kurzzeitig hörte sie nur ein Tuscheln in der Leitung, konnte aber nichts genaueres verstehen.
"Also gut, ich bin ehrlich zu dir. Aber du musst mir sagen, wo du bist", erwiderte Killian mit deutlich ruhigerer Stimme, als noch zuvor.
"Ts, über deine vermeintlich Ehrlichkeit reden wir jetzt besser nicht", stellte Ivory klar und verzichtete bewusst darauf, auf den zweiten Teil seiner Aussage einzugehen. "Wie lange weißt du schon, dass-", begann sie, als Übelkeit in ihr aufstieg und sie kurz durchatmen musste, um diese zu unterdrücken. Als sie sich wieder gefangen hatte, fuhr sie fort: "Wie lange weißt du also, dass meine Mutter noch lebt?".
Diesen Satz endlich auszusprechen, das Wort Mutter zu verwenden, fühlte sich seltsam befremdlich an und löste ein Stechen hinter Ivorys Stirn aus.
"Seit wir uns in Harrys Laden getroffen haben und du mir deinen Namen verraten hast. Es war nicht schwierig, etwas über dich und deine Familie herauszufinden, dein Vorname ist sehr selten", gestand er zögernd.
Das ist Wochen her, dachte sie enttäuscht. In all der Zeit hatte er ihr diese Information verheimlicht. Aus einem zornigen Gefühl heraus, formulierte sie im Kopf eine Frage, die ihn wahrscheinlich genau so sehr verletzten würde, wie er sie verletzt hatte. Leider sprach sie diese aus, bevor sie ein zweites Mal darüber nachdachte: "Ist der Tod deiner Mutter der Grund dafür, dass du Damien und mich vom Jagen abhalten wolltest?".
Ein weiteres Schweigen zeugte davon, dass sie einen empfindlichen Nerv getroffen hatte und sofort tat ihr die Frage leid.
"Ja, das war und ist der Grund. Ich dachte ihr wärt zu unerfahren dafür. Aber ich wurde eines besseren belehrt", seine Stimme klang so, wie er sich wohl gerade fühlte. Verletzt.
"Wo ist sie?", lenkte Ivory das Thema wieder auf den ursprünglichen Grund ihres Anrufs zurück. Die ruhige Anspannung, die soeben zwischen ihnen geherrscht hatte, wurde von einem weiteren heftigen Windstoß unterbrochen, der ihr das Handy aus der Hand riss. Glücklicherweise landete es nur knapp hinter ihr und schien noch zu funktionieren. Auf allen vieren krabbelte sie auf das Mistteil zu und befreite es vom Staub, wobei sie versehentlich das Telefonat beendete.
Als sie sich hinsetzten wollte, schwankte alles um sie herum und die erneut aufkommende Übelkeit ließ sie würgen, übergeben musste sie sich jedoch nicht. Das halbfertige Gebäude um sie herum begann sich wild im Kreis zu drehen, während ihr Handy erneut klingelte.
"Ja?", stieß sie mühevoll hervor und legte sich auf den Boden, um dem wilden Drehen zu entkommen. Dass dabei ihre komplette Kleidung und ihre Haare vom Bauschutt verschmutzt wurden, kümmerte sie reichlich wenig.
"Scheiße, was ist da gerade passiert?", keifte Killian wütend und viel zu laut. Stöhnend hielt sie das Handy mit einigem Abstand zu ihrem Ohr.
"Ich bin noch nicht fertig mit dir, du hast mir gefälligst noch ein paar Fragen zu beantworten!", stotterte sie wütend. Es ärgerte sie, dass ihre Stimme so lallend klang, das nahm allen Ernst aus ihren Worten. "Warum hat sie nie nach ihren Kindern gesucht und warum hat man mir nie gesagt, dass sie noch lebt?", brachte sie erstickt hervor. So, jetzt ist es raus, die alles entscheidende Frage, schwirrte es durch ihren benebelten Kopf.
Dicke Tränen kullerten wieder über ihr verdrecktes Gesicht, die Kontrolle über ihren Körper hatte sie bereitwillig dem Alkoholrausch überlassen. So musste sie sich vor sich selbst nicht für ihre Emotionalität rechtfertigen.
Killian seufzte verzweifelt, er schien unglücklich mit der Situation. "Laut meiner Recherche lag sie nach dem ... Vorfall über ein Jahr im Koma und als sie aufwachte faselte sie merkwürdiges Zeug von der Ermordung ihrer Familie durch einen Dämonen und wurde schnell als psychisch instabil eingestuft, nicht zuletzt weil sie in der Annahme war, ihre Kinder seien alle ermordet worden. Zu der Zeit hielt man es für besser, dir nichts von ihr zu erzählen, weil man dachte, das würde dich wieder zurückwerfen und dir noch mehr Leid bringen."
Bis seine Worte in Ivorys Gehirn ankamen, stellte sie sich vor, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte man ihr damals von ihrer Mutter erzählt. Ihre liebevolle Mom war weggesperrt worden, weil sie die Wahrheit gesagt und niemand ihr geglaubt hatte. Genau wie bei ihr selbst damals.
"Wo ist sie?", ihre Worte waren nur ein leises Schluchzen. Zitternd schloss sie die Augen und wartete auf Killians Antwort, auf seine wunderschöne und beruhigende Stimme.
"Ich sage dir, wo sie ist, wenn du mir sagst, wo du bist", teilte er ihr gefasst mit. Zu gern hätte sie gewusst, was gerade in seinem Kopf vorging. Ob er sich sorgte? Wahrscheinlich nicht. Er will mich doch nur als Versuchskaninchen für dieses dämliche Heilmittel, beschloss sie bitter.
Nachdem sie jedoch alle wichtigen Informationen besaß, war es ihr egal, was mit ihrem Körper geschah. Sie wollte nur ihren Geist retten.
Erschlagen erläuterte sie ihren Standort und legte anschließend auf, um sich mühevoll zurück zu ihrem Aussichtspunkt zu hieven, wo immer noch die halbleere Gin-Flasche stand.
Nach zwei Schlucken war auch die Übelkeit verschwunden, sodass sie wieder aufrecht sitzen konnte. Müde lehnte sie ihren Kopf an eine Betonsäule rechts von sich, zog ihre Beine an und beobachtete langsam, wie der nachtschwarze Himmel von den ersten Sonnenstrahlen erhellt wurde.
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Wie immer - danke fürs Lesen ;). Ich freue mich riesig, dass ich nach all den Kapiteln immer noch Leser haben, die weiterhin an dieser Reise teilnehmen :).
Was sagt ihr zur betrunkenen Ivory? Ein Mal habt ihr sie ja schon kennen gelernt, aber heute erhält das Wort "besoffen" eine andere Bedeutung hahaha.
Könnt ihr Ivorys Wut und Enttäuschung gegenüber Killian nachvollziehen?
LG und bis bald,
Eure
Liv
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