XXII - Weissagungen

Das Orakel entpuppte sich als blinde Frau Mitte vierzig, deren schwarze Locken in alle Himmelsrichtungen abstanden. Ihre dunkle Haut wurde von unzähligen Tattoos geziert, ihr schlanker Körper war in farbenfrohe Tücher gehüllt. Auf Ivory wirkte sie eher wie jemand, der schon viel erlebt hatte und sein Wissen als Hellsehen verkaufte, obwohl dieses eigentlich nur als gesunder Menschenverstand zu werten war.

Inmitten eines abgedunkelten Raumes, der von gruseligen Skulpturen und dunklen Möbeln gefüllt war, saß sie an einem runden Holztisch und schien in ihrer eigenen Welt versunken zu sein, die leeren Augen starr vor sich auf den Tisch gerichtet.
Fast erwartete Ivory eine Glaskugel oder Tarotkarten vor ihr, doch der Tisch war leer. Innerlich schalt sie sich, keine Vorurteile zu haben, immerhin war diese Frau womöglich ihre letzte Hoffnung.

Killian bedeutete Ivory, sich auf den Stuhl gegenüber der Frau zu setzten, wobei diese nicht aufsah und wie in Trance weiterhin den Tisch anstarrte. Nach einigen Minuten wurde Ivory die Situation deutlich unangenehm, daher begann sie unruhig auf dem Stuhl zu rutschen. Sie hatte noch nie lange still sitzen können.

Auf einmal sog die Hellseherin vor ihr tief die Luft ein, ihr Kopf schnellte nach hinten und ihre Augen füllten sich mit Leben. Jetzt erst viel Ivory auf, dass sie die ganze Zeit über nicht geatmet hatte, aber das war doch gar nicht möglich... oder?
"Ich bin Kensia", sprach sie mit fester Stimme, als sie ihren Körper wieder unter Kontrolle zu haben schien. "Was bringt euch zu mir?"
Ihre starren Augen blickten Ivory direkt in die Seele und schickten eine unwillkommene Gänsehaut über ihren Körper.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, welches ihrem Verstand riet, diesen Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Doch sie zwang sich mit aller Kraft, gegen ihren Drang anzukämpfen. Sie brauchte Antworten.
"Ich bin Killian, vielleicht erinnerst du dich an mich-", antwortete er, als Ivory kein Wort heraus bekam.
"Der Jäger", unterbrach sie ihn. "Bist du aus dem gleichen Grund hier, wie beim letzten Mal?"

Killian spannte sich an, schluckte schwer und verschränkte seine Arme vor der Brust, ein Zeichen seines Unwohlseins. "Nein, wir brauchen in einem anderen Fall deine Hilfe", gestand er zögernd.
Urplötzlich schossen Kensias Hände hervor, und ergriffen Ivorys linke Hand, die auf dem Tisch ruhte. Bei der Berührung zuckte sie kurz zusammen und wollte ihre Finger entziehen, doch Kensias lange, spitze Nägel hielten sie wie in einem Käfig gefangen.

Die weißen Augen der Frau beängstigten Ivory von Minute zu Minute mehr. Ihre Blindheit war keinen natürlichen Ursprungs, dessen war sie sich sicher. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich, die Fingernägel schnitten ihr ins Fleisch, sodass ein wenig Blut hervorquoll. Ivory zischte wütend und versuchte sich nun mit ihrer anderen Hand zu befreien, doch Kensias Griff war erstaunlich fest.

Gerade als Killian dazwischen schreiten wollte, gab das Orakel Ivorys Hand frei und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, während sie einen knochigen Finger an den Mund hob. Schockiert beobachtete Ivory, wie Kensia das Blut von ihrem Nagel leckte, die Augen schloss und tief Luft holte, als wartete sie auf ein heiliges Zeichen. 
Währenddessen überprüfte Ivory ihre zerkratzte Haut und fragte sich unweigerlich, ob die Frau noch alle Tassen im Schrank hatte.

"Ich habe die Antwort auf eure Frage. Was bietet ihr mir als Gegenleistung?", wollte sie wissen, als sie beinahe genüsslich ihre Nägel vom Blut befreit hatte. 
War ja klar, dass alles nur auf Geld hinausläuft, dachte Ivory schnippisch. Sie kramte in ihrer Jackentasche und warf achtlos einige Hunderter auf den Tisch. Diese ganze Situation schien ihr makaber. Sie wollte endlich Antworten und dann so schnell wie möglich gehen.
"Das sind 500 Mäuse", erklärte sie etwas respektlos, denn die Zeit für Höflichkeiten war vorbei.

Ohne die Scheine auch nur anzurühren, antwortete Kensia seelenruhig: "Das wird nicht reichen."
Wütend wollte Ivory aufspringen und ihr das Geld um die Ohren hauen, doch Killian hielt sie mit einer Hand auf ihrer Schulter davon ab. Stattdessen zog er drei Phiolen aus der Innentasche seines Mantels und legte sie sachte auf die Dollarscheine.
In den Phiolen schwappte eine schwarze Flüssigkeit und Ivory hielt die Luft an, als ihr dämmerte, womit er soeben bezahlte. Mit schwarzem Blut.

Ein Lächeln spielte um Kensias Lippen, als sie nach den Gläschen griff und diese sicher in einer hölzernen Schatulle hinter sich verstaute. Währenddessen spukte in Ivory der Gedanke herum, was sie wohl mit dem Blut der Seminex anfangen würde.
"Der junge Mann den ihr sucht, wird in einer Woche auf einem Frachter am Pier sieben zu finden sein. Mit ihm über drei duzend weitere seiner Art. Seit vor Mitternacht auf dem Schiff, haltet euch zu keiner Zeit in der Steuerzentrale auf. Seit schnell und leise, sonst wird das eure letzte Nacht auf dieser Welt sein."

Bedächtig erhob sie sich, um das Gespräch ihrerseits zu beenden und hielt sich dabei stützend am Tisch fest. "Das Geld könnt ihr behalten", bestimmte sie, ehe sie durch einen Vorhang in ein Nebenzimmer verschwand.
Verdutzt starrte Ivory ihr hinterher und konnte nicht fassen, was sich soeben abgespielt hatte.
"Ist das echt passiert?", erkundigte sie sich bestätigend bei Killian, der immer noch neben ihr stand und ebenfalls schwieg.

"Lass uns gehen", entgegnete er schließlich abweisend. Ohne Widerworte folgte sie ihm aus dem kleinen Apartment hinaus in die eisige Kälte. Fröstelnd zog sie ihren Schal enger um ihren Hals und schloss ihre viel zu dünne Lederjacke. 
Glücklicherweise hatte Killian seinen Dodge direkt am Straßenrand geparkt, sodass sie nicht weit durch die frostige Dämmerung laufen mussten.

"Ich habe noch nie so viel verrückten Kram erlebt, wie mit dir", bekundete Ivory mehr zu sich selbst. Doch er hatte ihre Worte nur zu deutlich vernommen, ließ ihre Aussage jedoch unbeantwortet im Raum stehen.
Das Geschehene beschäftigte sie beide mehr, als sie zugeben wollten. Ivorys Gedanken kreisten um Kensias Worte. Konnte sie einfach ohne weiter nachzuforschen einer scheinbar Verrückten glauben? 

Glücklicherweise hatte sie die Anweisung nicht in kryptische Texte verpackt, sondern war direkt auf den Punkt gekommen. Jetzt hatten sie die Möglichkeit, sich auf den unvermeidlichen Kampf vorzubereiten und ihren Bruder zu retten. Vielleicht würden sie noch weitere Hilfe benötigen, immerhin waren sie nur zu dritt und Ivory war noch nicht annähernd gesund, geschweige denn fähig, zu kämpfen.

"Ich kann in deinem Gesicht genau ablesen, woran du gerade denkst und das gefällt mir gar nicht. Die Anweisung des Orakels war eindeutig, aber sie sagte auch, dass etwa 40 Seminex zeitgleich dort sein werden. Und unsere Kampfkünste in allen Ehren, aber diese Aktion wäre reiner Selbstmord."
Ivory hatte mit seiner negativen Reaktion gerechnet und dennoch schwappte eine Woge der Enttäuschung über sie, riss sie mit in den Abgrund. Dabei hatte sie erwartet, dass er sowieso nicht an die Weissagung eines Pseudo-Orakels glauben würde. Scheinbar hatte sie sich getäuscht. 

Unterbewusst hatte sie gehofft, dass er nun auf ihrer Seite stand, egal was passieren würde. Doch seine Worte trieften vor Zweifel. Dabei war er doch derjenige gewesen, der sie zu einem gottverdammten Orakel geschleppt hatte. Er hatte ihr einen Lösungsweg angeboten, nur um jetzt wieder einen Rückzieher zu machen. 

Sie schwieg und hoffte auf eine kindische Art, dass er ihre Frustration über seine abweisende Art dennoch spürte. Innerlich hasste sie sich für dieses Verhalten, vor allem, weil er Recht hatte. Zu dritt hätten sie keine Chance. Bestimmt kannte Killian noch weitere Jäger, aber allem Anschein nach, würde er diese Option nicht vor ihr offen legen.

Erstmals keimte in ihr der Gedanke auf, ob es nicht doch eine schlechte Idee gewesen war, Killian zu küssen. Schon nach wenigen Tagen fiel ihr auf, dass sie sich regelmäßig von ihren Gefühlen leiten ließ und viel zu sehr auf seine Unterstützung setzte. Und das machte sie naiv und schwach.
Denn zum Schluss war jeder ein Einzelkämpfer und das würde sie niemals vergessen.


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Liebe Leser,

danke für eure Geduld mit mir - ich hatte leider die ganze letzte Woche keine Zeit, weiter zu schreiben... Dafür hier ein neues, etwas makaberes Kapitel für euch :)

Ich hoffe ihr habt auch weiterhin Spaß beim Lesen meiner Texte, bei Wünschen oder Anmerkungen bin ich gerne offen für eure Vorschläge (auch was die Handlung betrifft... ;))

Alles Liebe,

LiviaDV

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