XV.I - Intuition

Wie durch dichten Nebel waberten Killians Worte in ihr Gehirn. Sie ist eine Seminex.
Das war doch wohl verflucht noch mal nicht sein Ernst! Ivorys erster Gedanke war die Flucht, doch Killian sah diese Reaktion kommen und umschloss fest ihr Handgelenk, bevor sie ihrem Gefühl folgen konnte. Was war das bloß für ein krankes Spiel?
Erfolglos versuchte sie, sich seinem schmerzenden Griff zu entziehen, als sich Alva zu ihr umdrehte.

"Hör schon auf, so herumzuzappeln. Ich würde dich doch nicht bewusst einer Situation aussetzten, der du nicht gewachsen bist", zischte er ihr zu, als sie nicht aufhörte, sich gegen ihn zu wehren.
Darum also hatte er ihr vorhin nicht gesagt, wohin sie fahren würden - weil sie niemals in sein Auto gestiegen wäre.
Wie automatisiert griff Ivory mit ihrer freien Hand hinter sich, zog ihre Beretta hervor und hielt sie Alva direkt zwischen ihre glasigen Augen.

"Was soll der Scheiß? Nimm deine Waffe runter!" Endlich löste Killian den eisernen Griff und wollte ihr die Pistole entreißen, doch Alva hob bestimmend die Hand und unterbrach damit sein Vorhaben.
"Schon gut, mein Lieber. Sie folgt nur ihrem Instinkt." Alvas Ruhe und ihr benebelter Blick veranlassten Ivory schließlich tatsächlich, ihre Waffe sinken zu lassen. Die Frau sah aus, als wäre sie auf Drogen und konnte ihr in diesem Zustand sicherlich nichts antun... Hoffte sie zumindest.

Keine Ahnung woher Ivory konstant ihr Vertrauen in sich selbst heraus kramte. Besonders zur Zeit hörte sie öfter auf ihr Herz, als auf ihren Kopf und das gefiel ihr überhaupt nicht.
In aller Ruhe steckte sie die Waffe zurück in ihren Hosenbund und betrachtete Alva endlich genauer.
Sie schien bereits über dreißig, vielleicht sogar Anfang vierzig zu sein und war dennoch jugendlich schön. Ihr hellblondes Haar schmiegte sich in langen Wellen an ihren zierlichen Körper, der sie unglaublich zerbrechlich aussehen ließ.

Alvas Hautton war beinahe krankhaft hell, genau wie ihre grauen Augen, die von einem Schleier überschattet waren. Außer einem seidenen Negligee, das bis zum Boden reichte und nur wenig von ihrem schmalen Körper verbarg, trug sie nichts weiter.
Ähnlich wie ihre Statur war auch ihr Gesicht schmal, sodass ihre Wangenknochen markant hervor traten und ihre nebelgrauen Augen noch zusätzlich betonten, genau wie der schwarze Rand um ihre Iris.

Es ließ sich nicht leugnen, dass Alva vor einiger Zeit wunderschön gewesen sein muss.
Bevor sie krank wurde, ging es Ivory durch den Kopf. So langsam verstand sie auch den Sinn dieses Besuches.
Killian wollte, dass sie mehr über die Seminex und somit über ihren eigenen Bruder erfuhr.

"Ich habe Killian versprochen, deine Fragen zu beantworten." Sie deutete zaghaft auf ein altes Sofa, dessen rote Polsterung an einer Stelle bereits aufgerissen war, während sie selbst gegenüber in einem dazu passenden Sessel Platz nahm.
Ivory fragte sich, was Alva dafür als Gegenleistung bekam, traute sich jedoch nicht, ihren Gedanken laut auszusprechen.
Unsicher setzte sie sich auf das Sofa und knetete ihre eisigen Hände. Komisch, dass Alva nicht fror. In dem Zimmer war es so kalt, dass man sogar den Atem sehen konnte.

"Du bist also ein ... Schwarzblut?", fragte sie direkt und erntete dafür einen traurigen Blick von Alva.
"Ja, ich habe die 'Krankheit', wie Killian es nennt, bereits seit knapp sieben Jahren." Bei dem Wort Krankheit veränderte sie verächtlich ihre Stimmlage.
Sieben Jahre, ging es Ivory durch den Kopf, das ist ein unglaublich langer Zeitraum.
"Glaubst du etwa nicht, dass du krank bist?", wollte Ivory wissen.

"Keine Ahnung, was er dir erzählt hat, aber seine Theorie, dass ich an einer einfachen Krankheit leide ist absolut nicht bewiesen..." Killian, der noch immer bei der Tür stand und die Beiden beobachtete, machte einen wütenden Schritt auf sie zu.
"Alva! Setzt ihr keine Flausen in den Kopf! Du bist krank, genau wie..." Er stockte. Offenbar wollte er mehr sagen, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen und schwieg stattdessen.

"Nein mein Lieber, hör du auf, ihr irgendeinen Mist zu erzählen, der nicht offiziell bestätigt ist." In ihren Augen spiegelte sich Zorn wieder, ihre Stirn war in Falten gelegt.
Ivory saß mit offenem Mund da und wusste nicht, was sie nun glauben sollte. Doch Killians Schweigen und sein ausweichender Blick waren Antwort genug.
"Er hofft, dass es nur eine Krankheit ist, aber ich glaube nicht daran. Keine Ahnung ob er dir schon erzählt hat, dass er für ein Institut arbeitet, das die Seminex erforscht. Natürlich im geheimen, denn solange es keine offiziellen Beweise einer Krankheit gibt, bewahrt man lieber Stillschweigen."

Ihre Worte verschlugen Ivory die Sprache. Hilfesuchend sah sie zu Killian, der seinen Blick stur gesenkt hatte und den mit Teppichen ausgelegten Boden betrachtete. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum er ihr die Geschichte mit dem Virus aufgetischt hatte, obwohl es dafür scheinbar überhaupt keine stichhaltigen Beweise gab.
"Du musst ihn verstehen Ivory, er weiß es nicht besser. Er wurde in dem Glauben großgezogen, dass wir nur an einer behandelbaren Krankheit leiden..."

"Das reicht!", unterbrach Killian sie harsch. Sein Gesichtsausdruck verriet nur ansatzweise, wie zornig er sein musste. Und dennoch schritt er nicht ein und überließ lieber Alva das Reden. Vielleicht wollte er diesen Part nicht selbst übernehmen, sonst wären sie wohl kaum extra hierher gefahren. Vor allem nicht, wenn er seine eigenen Ansichten revidieren müsste.
"Bis dato hat er sein ganzes Leben der Suche nach einer Heilung gewidmet. Wie du, scheint mir", fuhr sie weiter fort und betrachtete Ivory eingehend.

Sie nickte nur stumm. Womöglich hatte sie Killian völlig falsch eingeschätzt. Vielleicht war er genau so stur auf seinen eigenen Weg fokussiert, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, er läge mit seiner Theorie falsch.
"Was glaubst du denn?", erkundigte sich Ivory schließlich.
Alva warf einen kurzen Blick zu Killian hinüber, der immer noch mit seinen Gefühlen zu kämpfen schien.

"Ich glaube, dass wir in naher Zukunft keine Antworten bekommen werden. Zumindest keine, die uns auf medizinischer Basis weiterhelfen. Und ich glaube auch, dass Killian diesen Weg für sich gewählt hat, weil er verzweifelt ist. Das Graham-Institut bezahlt ihn für die Tötung von Seminex, weil sie selbst wissen, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit der Heilung geben wird. Daher räumen sie das Problem lieber aus der Welt."
Sie schloss die Augen und schien sich zu fangen, ehe sie weiter sprach: "Ich hingegen glaube, dass wir verflucht wurden. Von Gott, vom Teufel, von der Natur. Wer weiß das schon."

Anders als bei dem ersten Gespräch dieser Art mit Killian, konnte Ivory dieses Mal die Fassung bewahren und sich ihr eigenes Bild machen. Ganz im Gegensatz zu Killian, der wütend kehrt machte und das Zimmer verließ.
"Warum also investiert dieses Institut Geld in die Forschung, obwohl sie im Dunkeln tappen?"
"Es gibt wohl eindeutige Indizien für einen Virus, deshalb wird weiter geforscht. Außerdem will der oberste Chef noch dringender Antworten, als du und Killian. Dafür sind im alle Mittel recht."

"Doktor Graham, der Leiter des Institutes?", mutmaßte Ivory, doch Alva schüttelte den Kopf.
"Nein, er ist nicht der Chef der gesamten Group. Aber dazu kann ich dir nicht mehr sagen, das fällt in Killians Bereich." Zu blöd, denn Alvas Aussage machte Ivory nur noch neugieriger. Vorerst musste sie sich aber wohl mit dieser Antwort abfinden.

"Okay und wie kommt es dann, dass du noch lebst?"
Ein sanftes Lächeln spielte um Alvas blasse Lippen. "Sagen wir, Killian und ich haben eine gemeinsame Vergangenheit."
Auch diese Antwort schien Ivory viel zu vage. Bedeutete das, die Beiden waren mal ein Paar? Sehr zu ihrem Leidwesen konnte sie sich sehr gut vorstellen, wie Killian und Alva zusammen aussahen, obwohl sie gut zehn Jahre älter als er war.

Genervt schob sie diesen Gedanken beiseite und durchforstete ihr Gehirn nach weiteren nützlichen Fragen, die nichts mit ihrer "gemeinsamen Vergangenheit" zu tun hatten.
"Dennoch wirkst du gar nicht, wie eine von den Seminex, die ich so getroffen habe. Du wirkst fast schon normal", setzte Ivory erneut an.
Alva griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Beistelltisch neben ihr stand und nahm einen Schluck, ehe sie auf ihre Aussage einging.

"Das liegt daran, dass Killian mich mit Medikamenten versorgt. Und bevor du fragst - nein, Medikamente deuten nicht automatisch auf die Behandlung einer Krankheit hin. Er hat lediglich herausgefunden, wie man die auffälligsten Symptome unterdrücken kann. Die Nebenwirkungen sind allerdings kaum zu übersehen."
Ivorys Blick wanderte über den schwachen Körper der schmächtigen Frau ihr gegenüber, der so gar nichts mit der enormen Kraft der Monster gemein hatte, die sie sonst zur Strecke brachte.

"Im Austausch gegen dieses Gespräch hat er mir wieder Medikamente mitgebracht." Alva lächelte schwach. Ivorys Herz fing an schneller zu schlagen, als sie daran dachte, wie sie mit diesen Medikamenten ihrem Bruder helfen könnte.
Alva registrierte ihre Reaktion und nahm ihr einen kleinen Teil der Freude wieder: "Halte nicht zu sehr an dem Gedanken fest, ihn mit Hilfe dieser Medikamente wieder menschlich zu machen, Liebes. Ich nehme dieses Zeug seit Jahren und tue es freiwillig. Aber die meisten Nex werden sich dagegen wehren, weil sie ihre Lebensweise für die bessere halten. Sie sind stärker und schneller, übermenschlich. Niemand will das Leben eines Menschen, noch dazu eines kranken, wenn er ein Mal Gott gespielt hat."

Ivorys Gedanken überschlugen sich, bei all den neu gewonnenen Erkenntnissen. So viele weitere Fragen gingen ihr durch den Kopf, doch im Moment zählte nur das bereits Gesagte. Immer wieder stellte sie sich vor, wie sie ihren Bruder behandeln könnte, wie ihr gemeinsames Leben aussehen würde. 
Ihr Herz wollte einen Neuanfang dringender, als ihre Seele Frieden.

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Frohe Weihnachten ihr Lieben!

Wie versprochen liefere ich euch ein neues Kapitel, mit dem ihr eure Festtage (hoffentlich ein bisschen) versüßen könnt.

Diesmal habt ihr eine neue Perspektive kennen gelernt, die sich ziemlich von Killians abhebt. Vielleicht ist er so sehr von der Existenz des Virus überzeugt, dass er andere Möglichkeiten ausschließt... Mehr dazu aber im nächsten Kapitel ;)

Weiterhin schöne Feiertage, 

Eure

Livia

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