XIV - Alva

Einfach unglaublich! Seit fast einer Stunde wartete sie auf Killian.
Langsam kam sich Ivory, die schon viel zu lange an einer Bushaltestelle stand, richtig dämlich vor. Der Besitzer eines asiatischen Restaurants nebenan hatte ihr bereits einen Tee im Pappbecher nach draußen gebracht, weil sie schon so lange in der Kälte stand und er Mitleid mit ihr gehabt hatte.
Dieser verfluchte Idiot! Ihre Wut steigerte sich ins unermessliche. Sie würde ihm eigenhändig das Genick brechen. Nicht dem Restaurantbesitzer natürlich, sondern dieser treulosen Seele Killian.

Nach der Ohrfeige vor zwei Tagen hätte sie niemals gedacht, dass er sich überhaupt wieder melden würde, auch wenn er das beim Abschied angedeutet hatte.
Und obwohl ihre Wut auf ihn seither nicht im geringsten abgeklungen war, stand sie trotzdem seit mittlerweile einer Stunde an dieser beschissenen Bushaltestelle und wartete auf ihn.
Jemand anderes wäre an ihrer Stelle vermutlich längst gegangen, doch ihre Neugier auf das, was er ihr zeigen wollte war einfach zu groß. Und dafür verfluchte sie sich selbst!
Sie hasste es abgrundtief, von jemandem abhängig zu sein - doch genau das war gerade der Fall. Am liebsten würde sie mit der Knarre, die in ihrem Hosenbund klemmte, auf das Halteschild gegenüber schießen. Nur so aus Trotz. 
Gottseidank hielt ihr Kopf sie von dieser äußerst dummen Tat ab.

Gerade als sie zornig beschloss, wieder nach Hause zu gehen, hielt ein großer Mercedes neben ihr. Ihr Blick traf Killians durch das Fenster und sie hoffte inständig, dass er ihre Wut sehen konnte.
Gemächlich stieg sie sein und ließ sich extra viel Zeit, obwohl hinter ihm bereits eine ganze Schlange an Autos wartete, dass er weiterfuhr.
Doch er ließ sich nicht eine Sekunde aus der Ruhe bringen, was sie nur noch unzufriedener machte.

Als er sich geschmeidig in den Verkehr einfädelte, verlor er kein Wort über seine Verspätung. Stattdessen fing er an, Smalltalk zu betreiben, als wäre nichts geschehen: "Alles klar bei dir? Ganz schön kalt heute. Minus sieben Grad."
Er wollte sie provozieren, sie dazu zwingen, aus der Haut zu fahren. Da war sie sich sicher.
Sie warf ihm den bösesten Blick zu, den sie aufbringen konnte. Dennoch funktionierte seine dumme Taktik.
"Du mieser Scheißkerl hast mich über eine Stunde warten lassen! Was zum Henker soll der Mist?", schrie sie ihn zornig an.

Doch statt einer Rechtfertigung spielte ein spitzbübisches Grinsen um seine Lippen. Und wie immer würde sie keine Antwort auf ihre Frag erhalten. Dieser Typ hatte echt keine Manieren!
Er griff mit einer Hand in seine Jacke und holte ein schwarzes Tuch hervor. Mit ausgestrecktem Arm reichte er ihr das Stück Stoff.
"Du willst das jetzt bestimmt nicht hören, aber du musst dir bitte die Augen verbinden." Das dämliche Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht, während er weiterhin die Hand in ihre Richtung streckte.
Jetzt war sie sicher: der Typ war nicht ganz sauber.


Einige Zeit später hielt Killian den Wagen an und schaltete den Motor ab. Sofort wurde es unfassbar ruhig im Auto.
Ivory hatte die ganze Fahrt über kein Wort mit ihm gewechselt, obwohl er sie mehrmals angesprochen hatte. Mit verschränkten Armen saß sie wie ein trotziges Kind auf der Beifahrerseite und bewegte nicht einmal ihren kleinen Zeh. Innerlich jedoch kochte sie vor Wut.

"Du kannst die Augenbinde jetzt wieder abnehmen", erläuterte er überflüssigerweise, als sie auf sein Anhalten nicht reagierte.
Seufzend stieg er aus dem Wagen, nur um wenige Sekunden später die Beifahrertür zu öffnen. Sein männlicher Duft stieg ihr in die Nase und minderte leider ihren Zorn, wenn auch nur geringfügig.
Doch als er ihr schließlich die Augenbinde abnahm, musste sie schwer schlucken. Fast hatte sie vergessen, dass seine Augen all seine Taten verziehen.

Ihr Blick wurde automatisch weicher, obwohl sie sich für diese unkontrollierte Reaktion hasste. Auch Killians Atem ging ruhiger, während sein Blick sie festhielt. Gedankenverloren hielt er ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
Seufzend befreite sie sich aus dem Gurt, nahm seine Hand jedoch nicht, als sie die Stufen des Wagens hinab stieg. Noch nie war sie in einem Auto gefahren, das Stufen besaß.
Als sie sich an ihm vorbei schob, schien er wie paralysiert und zog schnell seine hingehaltene Hand zurück, als hätte er sich geirrt. Vielleicht wollte er ja seinem Ego aus dem Wagen helfen, nicht mir, dachte sie schnippisch.

Endlich sah sie sich um. Killian hatte in der Einfahrt einer alten Villa geparkt, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. 
Rote Ziegelsteine waren von Moos und Efeu überwuchert, die Fensterläden hingen schief in den Angeln und der Garten sah verwahrlost aus. In der Mitte der Einfahrt war die Andeutung eines Brunnens zu erkennen, der in seinen besseren Jahren bestimmt schön ausgesehen hatte.
Außerhalb des Geländes konnte Ivory nichts außer weiter Landschaft und Schnee entdecken. Nicht einmal die Hochhäuser der Stadt waren zu erkennen.

Na toll, mitten in der Pampa und nur mit diesem Idioten als Begleitung, war alles, woran sie denken konnte. Wenn er sie hier abmurksen wollte, hätte er leichtes Spiel. Dann musste sie sich wenigstens nicht mehr mit ihm herumschlagen.
"Was tun wir hier?", fragte sie verwirrt und hoffte inständig, er würde nicht wieder mit ihr trainieren wollen. Seine körperliche Nähe könnte sie jetzt absolut nicht ertragen.
"Lass uns rein gehen, dann erkläre ich dir alles." Ach so, plötzlich würde sie Antworten von ihm erhalten. Das ist ja mal was ganz Neues.

Nach einem kurzen Klopfen an der hölzernen Doppeltür öffnete sich diese wie von Geisterhand und sie traten in das dunkle Foyer.
Wie auch das Äußere des Anwesens war der Eingang bestimmt einmal wunderschön gewesen. Vor sehr, sehr langer Zeit.
Eine breite Treppe führte in den ersten Stock, hohe Säulen stützend die steinernen Wände und majestätische Fenster gaben den Blick auf eine weite Schneelandschaft frei.

Eine kalte Windböe ließ die Tür hinter ihnen ins Schloss fallen und Ivory zuckte leicht zusammen, als der laute Knall in dem großen Saal widerhallte. Killian hingegen schien wie immer völlig entspannt zu sein. Nicht einmal die Kälte, die innen genau so präsent war wie draußen, schien ihn zu stören.
Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein alter Mann neben Killian auf und bedeutete ihnen, ihm die Treppe hinauf zu folgen. 

In Zeitlupe setzte Ivory einen Fuß vor den anderen, da der Alte nicht schneller gehen konnte. 
Die ganze Umgebung, inklusive dem Mann vor ihr, erschien ihr absolut makaber. Aber die Tatsache, dass sie regelmäßig in solche Situationen geriet, seitdem sie Killian kannte, beruhigte sie überraschenderweise ein wenig.
Im ersten Stock folgten sie dem schlurfenden Mann weiter, bis sie eine große Flügeltür erreichten, die einen Spalt offen stand. Unmissverständlich bedeutete ihnen der gebrechliche Alte, der eine Art Butler zu sein schien, den Raum dahinter zu betreten.

Killian trat vor, nachdem Ivory sich nicht vom Fleck rührte, weil in ihrem Kopf die Frage aufkam, warum so ein alter Mann noch arbeiten musste. Der Gute war bestimmt schon 90, also weit über dem Rentenalter.
Dennoch folgte sie Killian, um den Anschluss nicht zu verlieren. Hier drinnen war es so dunkel, dass sie Sorge hatte, sich zu verlaufen und dann genau so lange bleiben zu müssen, wie der Butler.

Der gigantische Raum hinter der Flügeltür erwies sich als Schlafzimmer, oder eher als Schlafsaal, denn er war so groß wie Ivorys gesamte Wohnung. Im Vergleich zu dem trostlosen Rest des Hauses, den sie gesehen hatte, war dieses Zimmer hier beinahe gemütlich.
Rote Perserteppiche bedeckten den gesamten Holzboden und an den Fenstern hingen dicke Samtvorhänge. Zerschlissene Tapeten klebten an den Wänden und schwaches Kerzenlicht erhellte den Raum nur mäßig. 

Ivory konnte jedoch deutlich erkennen, dass in dem riesigen Himmelbett zu ihrer linken eine Person lag. Eine Frau um genau zu sein. 
Killian räusperte sich. Sogar ihm schien die Lage unangenehm zu sein, was sie dezent zufrieden stimmte.
Die Frau im Bett räkelte sich und wandte sich ihnen zu. Ivorys Herz blieb stehen, als ihre Blicke sich trafen. Sie war unfassbar schön.

Langsam wanderte der Blick der Frau zu Killian und ein leichtes Schimmern ließ den glasigen Ausdruck in ihren Augen verschwinden.
"Killian...", hauchte sie ehrfürchtig, beinahe verwundert.
Die Beiden kannten sich also. Komischerweise passte Ivory das so gar nicht in den Kram. Vor allem, weil sie so wunderschön war. Sogar sie konnte ihre Augen nicht von der blassen Grazie abwenden, die sich jetzt langsam auf sie zubewegte. 

Als sie vor ihnen stand hob sie schwach die Hand und strich Killian über seine Bartstoppeln. Deplatzierte Eifersucht stieg in Ivory auf. Sie musste sich eingestehen, dass sie gerne diejenige wäre, die Killian so zärtlich streicheln durfte. Innerhalb einer Sekunde machte sie aus dem aufgeplusterten Löwen eine schnurrende Miezekatze.
"So schön wie eh und je", flüsterte sie konzentriert und schien dabei die Welt um sich herum gänzlich zu vergessen.

Killian räusperte sich erneut, wie um sich zurück in die Realität zu holen und schob sachte die blasse Hand der Frau fort.
"Alva, das ist Ivory. Ich habe dir von ihr erzählt, erinnerst du dich?" Statt einer Antwort sah sie ihm abwesend in die Augen, der graue Schleier war wieder über ihre Iris gefallen und ihre Lider waren halb geschlossen.
"Ivory, das ist Alva", fuhr er unbeirrt fort, eher er tief Luft holte und seinen Blick von ihrem anmutigen Gesicht los riss. "Sie ist eine Seminex."

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Meine Liebsten!!!

Wie immer: vielen Dank fürs Lesen und euer weiterhin bestehendes Interesse an meiner Story <3

Dieses Mal habe ich euch in eine etwas düstere Welt geführt, hoffentlich konntet ihr das genau so intensiv spüren, wie ich selbst beim Schreiben... Ich musste mich geradezu bremsen, in diesem Kapitel nicht schon mehr zu verraten ;)

Und weil ich gerade so im Flow bin und genug Zeit habe (Semesterferien, juhuuu), werde ich bereits am Dienstag ein neues Sonderkapitel veröffentlichen, nicht erst am Mittwoch!!
(Am Mittwoch gibt's dann natürlich auch noch eins on top, damit ihr über die Feiertage schön viel zum Lesen habt <3)

Bis dahin wünsche ich euch ein wunderschönes Weihnachtsfest,

Eure

Livia

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