XII - Realitäten
Nachdem sie sich wieder beruhigt und ihre wirren Gedanken sortiert hatte, kroch bitteres Schamgefühl in Ivory hoch. Es war ihr peinlich, befremdlich und zutiefst unangenehm, dass Killian sie in so einem schwachen Moment gesehen hatte.
Dabei spielte es keine Rolle, dass er unglaublich attraktiv war und sie sich womöglich zu ihm hingezogen fühlte. Nein, sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Im schlimmsten Fall würde er sie von sich stoßen, kein Verständnis aufbringen oder sogar Mitleid mit ihr haben. Gott, wie sehr hasste sie diese bedauernden Blicke anderer, wenn sie ihre Geschichte hörten. Als wüsste sie nicht selbst, wie beschissen ihre Vergangenheit war, daran brauchte sie nicht erinnert zu werden.
Dabei hatten sie alle keinen Schimmer, wie es in ihrem Inneren tatsächlich aussah. Psychisch fühlte sie sich, als hätte ein Tornado in ihrem Kopf getobt, der nur nur zerstörte Erinnerungen und eine gebrochene Persönlichkeit zurückgelassen hatte.
Ihr Geist fühlte sich schwach und ungeformt an. Manchmal fragte sie sich, wie sie sich weiter entwickelt hätte, wäre ihre Familie bei ihr geblieben. Wahrscheinlich hätte sie ihr Leben der Kirche und Gott gewidmet, so wie ihre Mutter es getan hatte.
Mittlerweile erschien ihr jeder Weg besser, als der, den sie tatsächlich gewählt hatte.
Und obwohl ihre Mutter streng gläubig gewesen war, hatte Ivory zwei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das erste Mal mit Hilfe von Schlaftabletten, die sie im Kinderheim im Medizinschrank einer Erzieherin gefunden hatte. Dort hatte man sie jedoch rechtzeitig gefunden und ihr den Magen ausgepumpt. An diesem Tag hatte sie ein Stück ihrer Seele im Krankenhaus zurückgelassen. Zu diesem Zeitpunkt hielt sie es schlichtweg für Pech, dass man sie hatte retten können, doch nach dem zweiten missglückten Versuch entschied sie, dass 'jemand' da oben ihren Tod wohl nicht wollte.
Seither hatte sie es nicht mehr versucht, nicht einmal in Erwägung gezogen. Auch wenn es an vielen Tagen geradezu verlockend schien, diesen düsteren Ort einfach hinter sich zu lassen, ohne zurück zu sehen.
All diese Gedanken schwebten durch Ivorys Kopf, während sie immer noch neben Killian auf dem kalten Boden ihres Badezimmers kauerte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, oder warum er immer noch hier mit ihr saß. Sie war ihm unglaublich dankbar, dass er sie aus ihrer aufkommenden Panikattacke zurückgeholt hatte, was ihr selbst noch nie gelungen war.
Auch jetzt wirkte seine Präsenz beruhigend, nahezu meditativ auf Ivory. Er atmete flach und gleichmäßig und wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sein stetig schlagendes Herz hören.
Seit der Erwähnung eines potentiellen Heilmittels hatte keiner von ihnen etwas gesagt, sein Schweigen war sprichwörtlich wie Gold für Ivory. Sie wollte nicht reden, wollte sich nicht für ihr Verhalten rechtfertigen, das viele wahrscheinlich als übertrieben betiteln würden. Aber keiner hatte ihre Kriege geführt, keiner hatte ihre Schmerzen durchlebt.
"Danke", flüsterte sie, als ihre Stimme es endlich wieder zuließ. Aus Angst vor seiner Reaktion und davor, Mitleid in seinen schönen Augen zu entdecken, mied sie seinen Blick und betrachtete stattdessen die steinernen Fließen des Bodens.
Leider konnte sie ihm nicht ausweichen, als er aufstand und ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. Zögernd ließ sie ihre Finger in die seinen gleiten und als sie ihm gegenüber stand, schien das Bad viel kleiner als sonst. Seine breiten Schultern versperrten ihr die Sicht auf den Spiegel und wirkten beinahe unpassend in dem schmalen Raum, als wäre er ein Fremdkörper.
Überrascht war Ivory jedoch von seinem eisernen Blick, der auf ihrem verweinten Gesicht ruhte. Darin konnte sie nicht einen Funken Mitleid entdecken, stattdessen sah sie Verständnis und diese tiefe Traurigkeit, die sie bereits bei ihrer zweiten Begegnung in seinen Augen entdeckt hatte.
Als fühlte er sich ertappt, trat er einen Schritt zurück und räusperte sich, wie um sich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
"Ich weiß, das scheint jetzt ein bisschen unpassend, aber ich bräuchte dringend eine Blutprobe von dir." Seine Worte schienen viel zu seriös, in Anbetracht der Tatsache, dass er ihr gerade durch eine psychische Kriese geholfen hatte. Komischerweise stellte sie fest, dass sie seine plötzliche Ernsthaftigkeit enttäuschte, mehr als es sollte.
"Sicher", antwortete sie knapp und folgte ihm zurück ins Wohnzimmer, wo er aus seiner Ledertasche alle nötigen Utensilien zur Blutabnahme herauskramte. Ivory wurde bewusst, dass er nur aus diesem Grund heute zu ihr gekommen war. Er wollte genau so dringend wie sie eine Heilung finden, doch dazu brauchte er nur ihren Körper und ihre Vergangenheit. Nicht aber ihre Persönlichkeit und ihr Leid. Er wollte den Kern, ohne mit der Schale in Berührung zu kommen.
Diese Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb in die Magengrube. Daher rollte sie eilig den Ärmel ihres Kleides hoch, um ihn so schnell wie möglich wieder los zu werden. Die Enttäuschung in ihrem Herzen wurde von Einsamkeit ersetzt.
Sich einzugestehen, dass sie ihm gegenüber Gefühle entwickelt hatte, viel ihr schwer. Sie schob es auf ihre labile Verfassung und auf sein Verständnis, von dem sie geglaubt hatte, es sei echt.
In all den Jahren hatte sie gelernt, sich nicht von Menschen täuschen zu lassen und nun erkannte sie, dass sie sich geistig viel zu sehr auf seine Unterstützung verlassen hatte. Womöglich war ein kleiner Teil von ihr die Einsamkeit leid, die sie jeden Tag begleitete wie ein unerwünschter Freund.
Sie blickte auf ihre Armbeuge, in die Killian soeben eine Nadel stach, um daran anschließend ein Röhrchen zu befestigten. Ihr Blut war rot, nicht schwarz wie das ihres Bruders.
Um Killian nicht ansehen zu müssen, beobachtete sie krampfhaft, wie sich der kleine Behälter mit ihrem Blut füllte, obwohl es leichten Ekel in ihr hervorrief.
Erleichterung machte sich in ihr breit, als Killian endlich sein Zeug zusammenpackte.
Bitte geh einfach, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf, als sie an ihm vorbei in den Flur eilen wollte. Seine Präsenz kam ihr auf einmal aufdringlich und falsch vor. Sie fühlte sich von ihm überrumpelt und wollte, dass er so schnell wie möglich abhaute.
Urplötzlich packte er sie schmerzhaft am Oberarm und zwang sie, sich zu ihm umzudrehen.
"Ich bin kein guter Mensch, Ivory", brachte er knirschend hervor. Sie konnte seine Wut förmlich riechen, dabei war ihr absolut unklar, warum er jetzt wütend war.
"Aber ich sehe in deine Augen, dass du dir das von mir wünscht. Du willst, dass ich die Lösung all deiner Probleme bin." Der Griff um ihren Arm verstärkte sich und sie versuchte verzweifelt, sich rauszuwinden.
"Du tust mir weh!", zischte sie ihn an, stieß jedoch auf taube Ohren.
"Verdammt! Verstehst du nicht, dass ich genau wie du, nur eigennützige Ziele verfolge? Dir zu helfen ist die einzige gute Tat, die ich in meinem ganzen Leben vollbringen werde!" Er hielt kurz inne, ehe er zornig weiter sprach: "Ich habe so viele Menschen getötet, mehr als du dir vorstellen kannst. Schuldige und unschuldige. Und solange es kein Heilmittel gegen das Virus geben wird, werde ich das auch weiterhin tun."
Endlich ließ er ihren Arm los. Der Zorn in seinen Augen war gewichen und ließ puren Schmerz zurück. Trotz ihrer Abwehrhaltung ihm gegenüber fragte sich Ivory, was ihm zugestoßen war, dass er sich selbst so verloren hatte. Genau wie es bei ihr der Fall war.
"Diese Krankheit macht Personen, die nicht gleich nach Ausbruch behandelt werden, zu tollwütigen Tieren. Du musst begreifen, dass sie alle menschlichen Züge ablegen, dein Bruder mit eingeschlossen. Und solange du an dem Glauben festhältst, die vergangene Erinnerung an ihn wieder aufleben zu lassen, solange wirst du im Dunkeln tappen!"
Seine Worte glichen einer Ohrfeige. Blinzelnd versuchte Ivory, ihre Tränen zurückzuhalten. Sonst war sie stark, doch heute verdrängten seine Worte jede Kraft aus ihrem Körper.
Noch bevor sie es selbst kommen sah, traf ihre flache Hand schmerzhaft auf seinem Gesicht auf. Ihre Sicht war durch Tränen getrübt, dennoch sah sie deutlich, wie er sie mit vor Schmerz verzogener Miene anlächelte.
"Die Realität ist beschissen, das müsstest du doch mittlerweile wissen, kleine Jägerin."
Als er sich zum Gehen wandte, realisierte sie schadenfreudig, dass ihre Hand einen roten Abdruck auf seinem Gesicht hinterlassen hatte.
Gerade als sie ihm die Tür vor der Nase zuknallen wollte, so wie sie es bereits bei seinem Ankommen hätte tun sollen, begann er verbissen zu lachen. Er lachte!
"Weißt du, es ist verrückt, aber das war das ehrlichste Gespräch seit Jahren." Er zwinkerte ihr grinsend zu. "Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir, wir haben noch viel zu tun, kleine Jägerin."
Und dann verschwand er und ließ Ivory schockiert in ihrer Wohnung stehen. Diese ganze Situation schien ihr so abstrus, so surreal, dass sie vergaß, wie wütend sie auf Killian war. Dennoch hallten seine Worte in ihrem Kopf nach und hinterließen einen bitteren Beigeschmack.
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Hallooo meine Lieben,
als Erstes darf ich euch von ganzem Herzen für mehr als 500 Reads und fast 100 Votes danken!!!! Ich hätte nie gedacht, dass sich überhaupt mal jemand für meine Texte interessieren würde hahaha :)
Als Zweites muss ich euch mitteilen, dass ich 'Schwierigkeiten' mit dem letzten Kapitel habe (XI - Wahrheiten). Ich weiß nicht warum, aber ich mag es nicht. Mit der Zeit werde ich es überarbeiten, dabei wird vom Inhalt aber nichts verloren gehen, lediglich der Text wird hier und da abgeändert :) Nur so zur Info...
Dieses Kapitel hingegen hat sich wieder viel mit der Gedankenwelt von Ivory befasst, weil ich euch ein noch besseres Gefühl von ihrer gespaltenen Persönlichkeit und der wirren Beziehung zu Killian geben will - im nächsten ist dann wieder ein bisschen mehr Action ;)
Wie immer bin ich auf eure Anmerkungen und euer Feedback gespannt.
Liebe Grüße,
LiviaDV
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