XI - Wahrheiten

"Was meinst du damit?", durchbrach Ivory das Schweigen. Unsicherheit belegte ihre Stimme, obwohl Killians Präsenz ihr Kraft verlieh.
Seine Augen wanderten beinahe mitleidig über ihr Gesicht und blieben schließlich wieder an dem verheilenden Biss an ihrem Hals hängen.
"Ich kann dir nicht sagen, warum du noch am Leben bist, oder warum du durch diesen Biss nicht infiziert wurdest. Seit Tagen zerbreche ich mir darüber den Kopf und kam zu dem Schluss, dass die Antwort auf dieses Rätsel in deiner Vergangenheit liegen muss", gestand er.

Ein Teil von ihr überlegte, ihn einfach rauszuwerfen. Ihn, seine waghalsige Theorie und das Durcheinander, das er in ihr Leben brachte.
Doch ein winzig kleines Stück ihrer Seele akzeptierte seine Aussage und sehnte sich sogar nach der Wahrheit, auch wenn sie noch so ungemütlich sein mochte. Und eben diesem Teil war sie es schuldig, mehr heraus zu finden.

"Angenommen ich glaube dir - einem Fremden, den ich kaum kenne und der sich als nicht besonders zuverlässig erwiesen hat - wie willst du dann weiter vorgehen?", fragte sie langsam.
"Ich weiß, mein Abgang im Wald war nicht unbedingt glanzvoll. Auch, dass ich mich nicht gemeldet habe, tut mir leid. Bestimmt hattest du viele Fragen, auf die du keine Antwort bekommen hast." Er zögerte kurz, sah ihr dann aber beruhigend in die Augen. "Aber ich kann dir versprechen, dass ich dir mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln helfen werde, deinen Bruder zu finden und deine Fragen zu beantworten. Sofern mein Wissen das zulässt."
Ein Lächeln huschte über seine sonst so ernsthaften Gesichtszüge, das ihn noch attraktiver aussehen ließ.

"Ich kann dir nicht vertrauen", antwortete sie leise. Sie mied es, ihn anzusehen, als sie weiter sprach: "Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil ich nicht kann. Mein Kopf verbietet es mir und auch du wirst das nicht ändern können. Hoffentlich kannst du dich mit dieser Tatsache anfreunden und wirst mir dennoch helfen."
Nervös versuchte sie, ihre zitternden Hände zu beruhigen, ehe sie sanft weiter sprach: "Ich will meinen Bruder finden, egal wie und egal zu welchem Preis. Er ist alles was zählt. Verstehst du das?" 
Sorgenvoll blickte sie auf, um die Antwort in seinem Gesicht zu suchen. Eine gefühlte Ewigkeit sah sie ihm in seine grünen Augen und fragte sich zum ersten Mal, ob diese intensive Farbe natürlichen Ursprungs war.

Nach einer Weile nickte er zustimmend. "Stell mir jede Frage, die dir durch den Kopf geht und ich versuche, sie zu beantworten. Das ist mein erster Vertrauensbeweis, auch wenn du ihn nicht willst."
Ivorys Gedanken kreisten um seine Worte. Auf einmal schienen sich ihre Fragen in Luft aufgelöst zu haben. Seine bloße Gegenwart verwandelte ihre zurechtgelegten Worte in einen Haufen unzusammenhängender Gedanken. 
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich, ehe sie wieder klar denken konnte. 

"Meine Fragen beschäftigen sich überwiegend mit der Entstehung von Verwandelten", begann sie zögernd. Sie wollte ihm gegenüber nicht zugeben, dass sie absolut keinen Ahnung hatte.
"So nennst du sie? Verwandelte?", fragte er grinsend. Seine Reaktion half ihr leider nicht gerade über ihre Unsicherheit hinweg und machte sie nur noch nervöser. Also nickte sie nur kurz.
Er bedachte Ivory mit seinen intensiven Blicken, als würde er jeden Zentimeter ihres Gesichtes in sich aufnehmen.
"Du weißt fast gar nichts darüber, stimmt's?" Als sie nicht antwortete und stattdessen ihren Blick wieder auf ihre Hände senkte, ließ er sich im Stuhl zurückfallen und betrachtete sie überrascht. Angespannt fuhr er sich durch sein dunkles Haar, ein Zeichen der Verzweiflung über ihr Unwissen.

"Ich muss zugeben, das überrascht mich sehr. Aber, okay, dann starte ich bei Null."
Erleichterung machte sich in Ivory breit. Endlich würde sie Antworten bekommen und die Zusammenhänge verstehen lernen, nach all den Jahren, die sie im Dunkeln getappt war.
"In Fachkreisen sagen wir Seminex, nicht 'Verwandelte'. Das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet halbtot. Umgangssprachlich verwenden wir aber gerne die Bezeichnung Schwarzblut oder nur Nex", begann er.
"Wer ist wir?", hakte Ivory nach, die bereits von den ersten Sätze leicht verwirrt war.
"Jäger und Pseudo-Jäger. Teilweise auch Wissenschaftler und Neugierige", antwortete er kurz. Es schien, als würde er ihr eine geheimnisvolle Geschichte erzählen, die sie nicht unterbrechen sollte. Also nickte sie knapp und wartete auf seine weitere Ausführung.

"Jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass du sie gerne als 'Verwandelte' betitelst, immerhin wirken sie, als wären sie nicht mehr menschlich. Aber die Bezeichnung ist leider nicht ganz richtig. Die Nex sind Menschen wie du und ich, allerdings tragen sie ein Virus in sich, das Rabies Sanguinis genannt wird." Killian hielt inne und ließ ihr Zeit, die Informationen zu verdauen. Dafür war sie ihm wirklich dankbar, denn seine Erzählung führte ihr unliebsam vor Augen, wie ahnungslos wie doch war. 

"Das Virus funktioniert sehr ähnlich wie Tollwut, nur mit etwas anderen Symptomen. Dazu gehört zum Beispiel die Verfärbung des Blutes, das Aussetzen menschlicher Denkweisen und die unbändige Lust nach Blut. Genau wie bei Tollwut haben Nex das ständige Bedürfnis, jemanden zu beißen und werden wilden Tieren gleichgesetzt. Nicht zuletzt, weil sie alle menschlichen Züge ablegen. Die Ansteckung funktioniert über einen Biss oder den direkten Blutaustausch." Er deutete auf ihren Hals. 

Die Informationsflut überforderte Ivory zunehmend. All die Jahre hatte sie sich Geschichten zusammengereimt über die ... Infizierung ihres Bruders und den Tod ihrer Familie, die sich jetzt alle als gänzlich falsch erwiesen. 
Erst jetzt verstand sie auch, warum ihr Bruder keinerlei menschliche Regung, keine geschwisterliche Liebe ihr gegenüber gezeigt hatte. Und warum ihr Vater seine eigene Familie getötet hatte.

"Bis vor ein paar Jahren hat das Virus kein Problem dargestellt. Die Nex haben, um sich am Leben zu halten, voneinander Blut getrunken, weil sie nichts anderes zu sich nehmen können. Deshalb war auch die Verbreitung der Krankheit sehr niedrig. Doch vor einigen Jahren fanden sie heraus, dass sie durch das Trinken von gesundem Blut beinahe unsterblich werden können. Ihre Körper altern nur sehr langsam, ihre Kraft steigert sich ins unermessliche und ihre Reflexe sind um vieles schneller als bei Nicht-Infizierten. Dabei fallen sie gerne in eine Art Rausch und töten viele, unschuldige Menschen."
Bei dem Gedanken, dass auch Elian Menschen getötet hatte, drehte sich Ivory der Magen um. 

Diese neu gewonnen Informationen waren beinahe noch schlimmer, als die Realität selbst. Denn Killians Aussage bedeutete, dass sie keine Ausrede mehr für ihren Bruder hatte. Er war noch immer ein Mensch.
Auch wenn er von einer Krankheit befallen war, so war er doch menschlich und hatte sich bewusst von ihr abgewandt. Der Gedanke, dass sie nun, wo sie die Wahrheit kannte, alles verlieren würde, bereitete ihr große Angst. Alle Hoffnungen, an die sie sich so verzweifelt geklammert hatte, schienen sich in Luft aufzulösen.

Ihr wurde zugleich heiß und kalt, Übelkeit überrollte Ivory und sie konnte sich gerade noch ins Bad retten, ehe sie sich übergab. 
Als sie die letzten Reste des Essens von sich gegeben hatte, war ihr Körper genau wie ihre Seele leer. 
Was mache ich jetzt bloß?, fragte sie sich zitternd. Ihr Bruder war wirklich ein Monster, aber er war ein menschliches Monster. Er hätte die Wahl gehabt, dagegen anzukämpfen, oder sich Hilfe zu suchen. Aber er hatte sich abgewandt, von ihr und von seinem alten Leben. Wie immer schmerzten sie diese Gedanken zutiefst, vor allem weil sie so machtlos dagegen war. Panik kämpfte sich wieder in ihre Gedanken und ersetzte ihr logisches Denken.

Ein lautes Klopfen riss sie aus ihrem paralysiertem Zustand. Killian trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten und zögerte nicht, sich zu ihr auf den kalten Boden zu setzten und ihr Gesicht mit einem feuchten Handtuch zu reinigen.
Diese Geste schien ihr viel zu intim, daher stieß sie seine Hand weg. Es war ihr egal, wie sie in diesem Moment aussah oder sich benahm. Sie fühlte sich elend und die aufkeimende Panik schnürte ihr den Atem ab. Bitte nicht jetzt, dachte sie angestrengt.
Ihr Körper zitterte unter der aufkommenden Panikattacke, ihr Magen wollte sich ein weiteres Mal übergeben, auch wenn er bereits gänzlich leer war.
Trotz der körperlichen Anstrengung, sich im Griff zu behalten, war es ihr furchtbar unangenehm, dass Killian sie so sah. Sie wollte, dass er ging, doch sie brachte kein Wort über die Lippen.

"Schau mich an", drang seine Stimme wie aus weiter Entfernung zu ihr. Doch sie verstand nicht, wozu sie ihm gehorchen sollte. Geistig war sie schon in ihrer eigenen Welt und betrachtete Killian lediglich als unerwünschten Eindringling.
Als seine bloßen Finger ihren Kopf in seine Richtung drehten, schaute sie gezwungenermaßen zu ihm auf. In seine smaragdgrünen Augen, die sie langsam aus ihrer Trance zurückholten. 
Seine innere Ruhe übertrug sich auf Ivory. Ihr Körper hörte auf zu zittern, die Übelkeit ließ nach und ihre Gedanken konnten sich wieder frei bewegen. 
Zärtlich wischte er eine einzelne Träne fort, die über ihre Wange rollte.

"Wir arbeiten an einer Heilung, Ivory. Und du wirst der Schlüssel dazu sein." Gebannt beobachtete sie die Bewegung seiner vollen Lippen, bis der Inhalt seiner Aussage zu ihr durchdrang. 
Ein Heilmittel. Ihr sehnlichster Wunsch.
Doch gab es eine Heilung für ihr malträtiertes Herz und ihre geschundene Psyche?
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste sie, dass dieser Kampf bereits lange verloren war.





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