IV - Money
Das heiße Wasser wusch die Ereignisse der vergangenen Nacht von Ivorys Haut und sie fühlte sich zunehmend besser. Die offene Wunde an ihrem Hals brannte, als ein wenig vom Shampoo hinein lief. Aber sie ignorierte den Schmerz und die Tatsache, dass ihr Bruder sie angegriffen hatte. Sie musste jetzt nach vorne blicken und versuchen eine Möglichkeit zu finden, seine Verwandlung rückgängig zu machen. Dann würde sich Elian vielleicht auch wieder ändern. Ivory würde die Hoffnung niemals aufgeben, nicht solange sie noch am Leben war und eine Pistole bedienen konnte. Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren trüben Gedanken und sie stellte die Dusche ab, wickelte sich ein Handtuch um und ging ins Wohnzimmer. Es roch köstlich nach Bacon und Ei. Sofort begann ihr Magen wieder zu knurren.
"Hast du auch was an?", rief Damien aus der Küche.
"Ja natürlich." Sie sah an sich herunter und empfand das Handtuch, das fast bis zu ihren Knien reichte, als passende Frühstücks-Bekleidung. Damien kam in das kleine Wohnzimmer, in seiner einen Hand eine Pfanne, aus der himmlische Gerüche aufstiegen, in seiner anderen zwei Teller und Besteck. Als er Ivory sah, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck spielerisch. "Du hast gesagt, dass du was an hast."
"Hab ich doch auch!", konterte sie. Für Diskussionen war keine Zeit, sie verhungerte beinahe.
"Wenn du so am Tisch sitzt, ist es beinahe so, als würdest du gar nichts tragen."
"Also ich kenne da einen blonden Typ, der fast jeden Morgen ohne Ankündigung in meiner Küche steht und sich was zum Essen macht - und das nur in Boxershorts. Ich finde verglichen zu dem habe ich schon richtig viel an."
Damien deutete mit der Gabel auf Ivory, als würde er gerne etwas zu seiner Verteidigung erwidern, doch ihm schien keine passende Antwort einzufallen. Stattdessen schaufelte er ihr eine große Portion Rührei auf den Teller und gab ihr mehr Bacon als sich selbst. Wahrscheinlich um sie damit zum Schweigen zu bringen. Ein Zeichen der Niederlage, dachte Ivory.
Sie aßen eine Weile schweigend und Ivory beobachtete ihren besten Freund heimlich, während er an seinem Handy herumtippte. Sie kannte ihn mittlerweile schon so gut. Seine Ticks, die Art wie er aß, oder sich bewegte. Sie würde ihm sogar ihr Leben anvertrauen, wenn es darauf ankam. Und das war reichlich verwunderlich, immerhin traute sie niemandem sonst. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn schon ihr ganzes Leben kannte und er sie unterstützte, seit ihr Bruder verwandelt worden war. Ernüchternd stellte Ivory fest, dass er überhaupt der Einzige war, den sie noch hatte und der sie mit ihrer Vergangenheit verband. Ihren Bruder konnte sie diesbezüglich getrost vergessen. Sie konnte an zwei Händen abzählen, wie oft sie Elian seit der Verwandlung vor sieben Jahren gesehen hatte. Und trotzdem würde sie niemals aufgeben...
"Hast du gestern eigentlich einen umgelegt?", fragte Damien nach einer Weile. Als wäre es das Normalste der Welt.
"Ja Einen. Hinter dem war ich schon einige Zeit her. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er nicht alleine unterwegs war. Vor ein paar Tagen war ich draußen bei den Docks, da waren eindeutige Spuren, die auf mehrere Verwandelte hindeuten. Auch in der Lagerhalle, die ich letzte Woche entdeckt habe, gab es zu viele Leichen. Der hätte an extremer Blutsucht leiden müssen, um so viele Menschen auszusaugen."
"Du solltest diese Monster nicht unterschätzen. Schau nur was dir dein eigener Bruder angetan hat! Glaubst du das ist normal?"
"Elian ist schon lange nicht mehr Herr über sich selbst. Er würde so etwas nie ohne den Einfluss seiner Verwandlung tun", versuchte sie Damien zu beruhigen.
Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie doch über die Verwandelten wussten. Leider gab es keinen nützlichen Wikipedia-Eintrag oder eine Hotline, die sie befragen konnte (nach dem Motto: "Ja hallo, haben Sie von den Monstern gehört, die sich auf unseren Straßen tummeln? ...Ja, die beißen... Nichts? Okay danke, schönen Abend noch!"). Sogar ihre Google-Suchen blieben erfolglos. Es gab nicht einmal Zeitungsartikel über all die Leichen, die sie regelmäßig in Lagerhallen fand.
Als sie vor etwa fünf Jahren ihrem Bruder das erste Mal seit jenem Abend wieder begegnet war, hatte sie sogar die Polizei angerufen - natürlich erfolglos. Bei der Polizei nahm man sowieso an, ihre ganze Familie wäre tragischerweise vom eigenen Vater ermordet worden, alle außer ihr. Nach der Stimme des Beamten zu urteilen, hätte er ihr am liebsten jemanden von der Klapse vorbei geschickt. Kein Wunder, sie war sehr panisch gewesen und hatte unzusammenhängende Worte von sich gegeben.
Kurz nach den Geschehnissen an jenem Samstagabend, glaubte sie zwischenzeitlich gar nicht mehr an die Existenz dieser Monster, hatte sogar die Vermutung, sich alle Geschehnisse nur eingebildet zu haben. Verzweiflung trieb ihren Verstand umher wie der Schleudergang einer Waschmaschine. Bis sie Elian wieder begegnet war. Seither war ihr einziges Ziel die Rettung ihres Bruders, egal zu welchem Preis.
Oft fragte sich Ivory, ob es nicht langsam an der Zeit war, Elian aufzugeben, aber dann dachte sie an ihre Kindheit und an all die Dinge, die sie zusammen erlebt hatten. Er hatte sie immer beschützt, jetzt war sie an der Reihe. Doch seit diesem einen Tag war er nicht mehr er selbst. Er konnte nichts dafür, dass er so geworden war. Jemand, Etwas, hatte ihrem Zwilling das angetan. Auch Damien litt unter dem Verlust seines Freundes, die beide kannten sich seit dem Kindergarten. Und obwohl er es nie zugeben würde, wusste sie genau, wie sehr ihn die Geschehnisse schmerzten. Damien hatte Elian seit seiner Verwandlung vor sieben Jahren nur zwei Mal gesehen, beide Male waren verheerend und endeten mit einigen gebrochenen Rippen.
"Es ist ja okay dass du dir Hoffnungen machst Ivory, aber vielleicht musst du dich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass er für immer so bleiben wird. Er wird nie wieder die Person sein, die wir vor sieben Jahren verloren haben." Damiens Fähigkeiten zur Motivation glichen jenem besagten Elefant im Porzellanladen.
"Das mit dem aufmuntern solltest du unbedingt noch mal üben. Außerdem bin ich mir sicher, dass er die Verwandlung noch nicht vollendet hat, immerhin altert er noch." Sie stocherte wie wild in ihrem Ei herum und versuchte seinem Blick zu entgehen. Das war nur eine vage Vermutung, sie wusste gar nichts über den Vorgang einer Verwandlung.
Damien seufzte. "Also gut. Du weißt ja, dass ich dir immer helfen werde. Hab grad eh nichts besseres zu tun." Er schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln und zuckte lässig mit den Schultern. Doch Damien bemerkte, dass sie nicht bei der Sache war, deshalb wechselte er das Thema. "Hast du wieder deine, pardon unsere, Bezahlung bekommen?", fragte er beiläufig. Wahrscheinlich war er wieder blank und brauchte Geld. Keine Ahnung wofür er seinen Anteil immer rauswarf.
"Schon möglich." Ivory erhob sich und ging zur Eingangstür. Und tatsächlich. Jemand hatte ihr einen cremefarbenen Briefumschlag durch den Briefschlitz geworfen. Sie ging zurück zu Damien und öffnete ihn. 3000 Dollar in Bar. Wie immer kein Absender, nichts.
"Meine Miete ist auf jeden Fall sicher." Ivory betrachtete die vielen Scheine in ihrer Hand und gab Damien seinen Anteil.
Wer gab ihr nur immer das Geld und vor allem - warum?
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