III - Damien

Jemand rüttelte an Ivorys Schulter und riss sie glücklicherweise aus dem Albtraum, den sie schon in- und auswendig kannte. Denn was damals geschehen war, hatte ihr Leben zerstört und die Erinnerung hatte sich für immer in ihr Gehirn gebrannt.
Sie öffnete die Augen und sah in das Gesicht, das sie morgens am liebsten sah. Sie wollte etwas zur Begrüßung sagen, doch sie fühlte sich zu schwach um ihre Lippen zu bewegen.
"Hey Ivy. Komm schon, bleib wach Liebes." Wieder öffnete sie ihre Augen, doch es fiel ihr schwer, sie offen zu halten. "Oh Mann, du siehst wirklich grausig aus", seufzte Damien.
"Schon gut", brachte sie hervor. Ihr Stimme war ihr selbst fremd. War sie heiser? Sie senkte ihre Lieder, sodass sie ihn nur durch einen winzigen Spalt hindurch beobachten konnte. 
"Kaffee?", fragte er. Ivory nickte schwach. "Fühl dich ganz wie zu Hause", flüsterte sie.
Sie hörte sein Lachen aus der Küche und ihr Magen fing prompt an zu knurren. Angestrengt setzte sie sich auf und verschnaufte erst einmal, bevor sie sich langsam in die Küche schleppte. Sie fühlte sich wie ein Rehkitz, das zum ersten Mal lief. Damien stellte gerade ihre altmodische Kaffeemaschine auf den Herd und schaltete ihn an. Ivory stützte sich stöhnend an der Theke ab, weil sie Angst hatte, dass sie vielleicht noch einmal zusammenbrechen könnte. Damien drehte sich zu ihr um und betrachtete sie ernst, eine Falte bildete sich zwischen seinen wundervoll geschwungenen Augenbrauen.
"Was ist gestern passiert?" Er deutete auf ihren blutigen Hals. Sie blickte zu Boden. Die Tatsache, dass ihr eigener Bruder sie angegriffen und von ihr getrunken hatte, schmerzte sie sehr. "Elian", sagte sie deshalb nur. Damiens Blick verfinsterte sich. "Dieser Dreckskerl!", rief er wütend. "Du bist verdammt noch mal seine Schwester, wie kann er dir das nur antun?"
"Ich weiß es nicht", flüsterte sie müde. Denn es war ihr wirklich unbegreiflich, was mit ihrem geliebten Bruder geschehen war. Damien erkannte ihren inneren Schmerz und war mit einem Schritt bei ihr, um sie in den Arm zu nehmen. Er roch gut, männlich. Nach irgendeinem Aftershave. Seine muskulösen Arme hielten sie fest und sie legte ihr Ohr an seine Brust, um sich von seinem stetigen Herzschlag beruhigen zu lassen. In seiner Nähe fühlte sie sich immer geborgen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn schon ihr ganzes Leben kannte. Wenn man ihre Beziehung aus psychologischer Sicht betrachtete, war er wohl der Ersatz für ihren verlorenen Bruder.
Ewig hätte sie in seinen Armen stehen bleiben können, doch die dämliche Kaffeemaschine zerstörte den Moment durch ihr Pfeifen. Er löste sich von ihr und goss den Kaffee in zwei Tassen und reichte ihr eine. Er wusste eben, wie sie ihren Kaffee trank. Ohne Milch und ohne Zucker. Ivory hatte einmal gelesen, dass nur Psychopathen ihren Kaffee schwarz tranken. Diese Information erschien ihr logisch.
Der Koffein weckte sie endgültig und schärfte wieder ihre Sinne. Als sie schweigend den Kaffee getrunken hatten, stellte sie die Tassen in die Spüle und ging ins Bad.
Ivory wappnete sich gegen all das, was sie gleich im Spiegel sehen würde. Es war komisch, dass sie kaum Schmerzen verspürt hatte, an der Stelle am Hals, wo ihr Bruder... Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende fassen, denn im nächsten Moment wurde sie von den schmerzlichen Erinnerungen der letzten Nacht überrollt. Wie war es nur möglich, dass aus ihrem perfekten Zwillingsbruder so ein Monster geworden war? Früher waren Ivory und Elian Eins gewesen. Sie hatten sich ergänzt, wie zwei Puzzelteile. Selbst in ihren grausamsten Träumen hätte sie niemals damit gerechnet, dass er sie je verlassen, geschweige denn verletzen würde! Seid er vor sieben Jahren verwandelt worden war, war er noch nie handgreiflich geworden. Genau deshalb machte ihr die Begegnung der letzte Nacht eine scheiß Angst. Sie wusste, dass er nun keinerlei Rücksicht mehr nehmen würde. Als wäre sie eine Fremde, ein Feind, den er eliminieren musste.
Damiens Klopfen riss sie aus ihren trüben Gedanken. Er trat in das kleine Bad und stellte sich vor den Spiegel, um ihr die Sicht zu versperren.
"Schau dich lieber nicht im Spiegel an. Du willst ja keinen Schock bekommen." Er versuchte sie wie immer durch seine offene Art aufzumuntern, aber es fiel ihr schwer, ein Lächeln aufzusetzen. Damien bedeutete ihr, sich auf den Rand der Badewanne zu setzten, während er ein Handtuch nahm und es unters kalte Wasser hielt. Um sich abzulenken, beobachtete Ivory aufmerksam das Spiel seiner Muskeln unter seiner leicht gebräunten Haut. Er sah wirklich gut aus, musste sie sich wieder einmal eingestehen. Mit den verstrubbelten blonden Haaren, den langen schlanken Händen und seinem wirklich gut gebauten Körper, wirkte er auf Frauen unglaublich anziehend. Und obwohl er attraktiv und ein sehr liebenswürdiger Mensch war, war zwischen den beiden nie mehr gewesen als Freundschaft.Er betupfte mit dem feuchten Handtuch sachte die Wunde an ihrem Hals und ein stechender Schmerz ließ sie zusammenzucken. Sie schloss die Augen und bereitete sich instinktiv auf weitere Strapazen vor. Vorsichtig, beinahe zärtlich säuberte Damien den Biss. Das war nicht das Erste mal, dass er das tat. Berufsrisiko.
"Wie schlimm ist es?", fragte sie.
"Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, ich bin kein Arzt. Ich glaube aber nicht, dass du viel Blut verloren hast, sonst könntest du nicht mal aufrecht sitzen." Er besah sich auch die restlichen Schnitte und blaue Flecken auf ihrer Haut, dabei wurde die Furche auf seiner Stirn immer tiefer. Ivory wusste, dass auch ihm die Situation zusetzte. Elian und er waren damals beste Freunde gewesen. Daher hatte Damien auch nicht gezögert ihr zu helfen, als sie beschlossen hatte, ihren Bruder zu retten. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Seither hatten sie kaum Fortschritte diesbezüglich gemacht.
"Hast du einen Verband?", frage er viel zu ruhig. Ivory wusste, dass er innerlich kochte. Er war nur einfach besser darin, seine Gefühle zu verbergen, als sie.
"Komisch, dass du das noch nicht weißt. Du verbringst ja mehr Zeit in dieser Wohnung als ich", antwortete sie mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.
"Das kann gar nicht sein, schließlich bin ich jede Nacht in einer anderen Wohnung", kam seine lässige Antwort. Ivory wusste, auf was er anspielte. Sie vergönnte ihm seinen Erfolg bei Frauen. Damien hatte nun einmal alles, was man sich von einem Kerl wünschte. Er war charmant, gut aussehend und ... fuhr ein teures Auto.
"Du brauchst meinen Hals nicht zu verbinden", sagte sie trotzig, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
"Komm schon, stell dich nicht so an, Ivy. Ich mach das doch gerne, du brauchst dich nicht zu schämen." Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
"Ich will vorher noch duschen."
Er grinste breit. Gottseidank hatte sie ihn auf andere Gedanken bringen können. "Soll ich dir dabei auch noch helfen?", fragte er belustigt.
Ivory warf das nasse Handtuch nach ihm, als er laut lachend das Bad verließ.

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