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Fest in Maros wollenen Mantel gewickelt harrte Laina im Schutze der mächtigen Wurzeln aus. Längst hatte die Frühlingssonne ihren höchsten Punkt überschritten, den Wald im Rücken hatte die Jägerin jedoch keinen einzigen ihrer Strahlen empfangen.
So gut ihre Kleider inzwischen auch getrocknet waren, fröstelte es sie in der kühlen, nach erwachendem Leben duftenden Luft. Gern hätte sie ihre klammen Glieder ein wenig bewegt, doch mit dem Abklingen der betäubenden Wirkung des Mohnsafts waren die Schmerzen zurückgekehrt.
Zudem wagte sie es nicht, ihren Blick von den fernen Mauern Burg Rabensteins zu nehmen. Je später die Stunde wurde, desto größer ward ihre Furcht, Maro könnte ein Spiel gespielt haben, dessen einzige Verliererin die Jägerin war.
Anfangs gelang es ihr noch, Entschuldigungen für das Ausbleiben des Jägers zu finden. Als der Schatten des Waldes jedoch bis weit über die Schlucht hinweggekrochen war, wusste Laina nicht weiter.
Hatte Maro sie verraten? Oder war sein Plan gescheitert? Kribbelnde Unruhe zwang die Jägerin dazu, sich nun doch zu erheben. Das eintönige Brausen der Rhur schien sie verhöhnen zu wollen, gleichsam war es beunruhigend, dass es jeden weiteren Laut übertönte.
Im selben Moment nahm sie eine Bewegung auf der anderen Flussseite wahr und ging auf der Stelle wieder in Deckung. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, da sie zwischen den Wurzeln hindurchspähend verfolgte, wie sich drüben der Umriss eines Mannes aus den Haselbüschen schälte.
Zielstrebig hielten er auf den Abhang zu, der hier weniger steil ausfiel als der Rest der Schlucht. Mit ein wenig Geschick waren die wilden Wasser hier zu überwinden, doch ob dieses Geschick hier vorhanden war, mochte Laina nicht abwarten.
Tief geduckt kroch sie rückwärts, den Unbekannten nicht aus den Augen lassend. Dunkel gewandet war auch er, zudem gut bewaffnet. War dies vielleicht einer der Gefährten Maros, denen es nun oblag, ihr den Garaus zu machen?
Doch dann hätte der Jäger ihn gewiss angewiesen, ihr aus dem Walde heraus in den Rücken zu fallen, noch näher lag es jedoch, dass er dies selbst übernommen hätte. Oder wartete er dort auf sie, während sie direkt vor seinen Bogen getrieben wurde?
Ungeachtet der Tatsache, dass die zart ergrünten Zweige der Birken sie nur notdürftig verbargen, fuhr Laina schwer atmend herum, das letzte Messer fest umklammernd. Drückende Furcht ließ ihr die Kehle eng werden, jeden Moment rechnete sie mit dem schweren Schlag eines Pfeils, der sich zielsicher in ihr Herz bohren würde.
Der erwartete Angriff blieb jedoch aus. Friedlich rauschten die Bäume im Zwielicht des Waldes mit dem Fluss um die Wette, nichts regte sich hinter den vereinzelt aufragenden Felsen. Tief verunsichert wagte sich die Jägerin weiter vor, um inmitten eines Haseldickichts zu verharren.
Einen klaren Gedanken konnte sie jedoch nicht fassen, weshalb sich Laina ganz auf ihr Gespür verließ. Nichts wies darauf hin, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befand – vielleicht tat sie Maro Unrecht und etwas vollkommen anderes war hier im Gange.
Auf leisen Sohlen verließ sie die Deckung und schlich zwischen den Stämmen der Buchen hindurch, fort von dem Mann, dessen Rolle in diesem Spiel Laina noch immer nicht einordnen konnte.
Je weiter sie sich von der Rhur entfernte, desto mehr Sicherheit gewann die Jägerin. Das Brausen des wilden Stroms hatte sie viel zu lange eines wichtigen Sinnes beraubt, der sich nun wieder voll entfalten konnte.
Aufmerksam lauschend huschte sie einen der winzigen Pfade entlang, indes sich auch die erdrückende Furcht legte. Bevor Laina allerdings einen Entschluss fassen konnte, wie sie der vertrackten Lage begegnen sollte, drang aus der Ferne das Geräusch ungeschickter Fußtritte an ihr Ohr.
Überrascht hielt sie inne. Es mussten dutzende Stiefelpaare sein, die scheinbar dem Herzen des Waldes entgegenstrebten. Was auch immer dahinter steckte, musste im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen stehen – niemand wagte sich sonst in den Rabenwald hinein.
Entschieden folgte Laina dem Lärm. Anders waren die groben Tritte und auch einzelne, derbe Ausrufe nicht zu bezeichnen, den Eindringlingen schien es einerlei zu sein, dass ihre Anwesenheit nicht verborgen blieb.
Auch die breite Spur, auf die sie bald stieß, zeugte sowohl von Ungeschick als auch Unbekümmertheit. Geduckt pirschte sich die Jägerin näher heran, bis sie endlich erkannte, wer hier so unbedarft unterwegs war.
Soldaten. Es waren eindeutig Adalberts Soldaten, die sich, breit gefächert und einander mit derben Scherzen bedenkend, gen Süden bewegten. Als suchten sie etwas, schoss es Laina durch den Kopf. Sie mussten den Fluss auf Höhe von Hanteggen überquert haben, dort, wo die Rhur in weitaus ruhigeren Bahnen verlief und die flachen Ufer von einer alten Brücke überspannt wurden.
Und da fiel es Laina wie Schuppen von den Augen. Hätte Maro sie wirklich verraten, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die Jägerin dingfest zu machen. Dass nun aber diese Horde lautstark durch den Rabenwald streifte, musste andere Gründe haben.
Der Fürst hatte Maro nicht geglaubt und ließ nun seine Männer nach jener Leiche suchen, die ihm Gewissheit verschaffen würde.
Erst war es Erleichterung, die Laina durchfuhr. Wirklich vertraut hatte sie dem Jäger nicht, dennoch hätte es sie tief getroffen, wieder einmal nur belogen und betrogen zu werden. Einen wahren Verbündeten gewonnen zu haben war mehr, als sie sich zu träumen gewagt hätte.
Doch eben diesen nun in den Händen Fürst Adalberts zu wissen, zerschmetterte jegliche Hoffnung auf der Stelle und ließ neuerliche Panik in Laina aufsteigen. Was, wenn Adalbert die richtigen Schlüsse zog und ihre Tochter dafür büßen ließ?
Ihre Knie zitterten unangenehm, da sich die Jägerin nordwärts wandte und ungesehen im Unterholz verschwand. Eine einzige Möglichkeit blieb ihr nun noch – jener Mann, der auf ihr Versteck zugehalten hatte. Es musste einer Maros Gefährten sein, der sie hatte aufsuchen wollen.
Sicher konnte sie auch hierbei nicht sein, etwas anderes blieb Laina jedoch nicht. Eilig folgte sie ihrer eigenen, kaum sichtbaren Spur, dabei jedoch stets auf Deckung bedacht. Ihr letzter Trumpf war die verbliebene Freiheit, die sie gewiss nicht leichtfertig aufs Spiel setzen würde.
Wieder begannen die wilden Wasser sämtliches Geräusch zu schlucken, doch die undeutliche Bewegung weit voraus entging den scharfen Augen der Jägerin nicht. Aus dem Lauf heraus warf sie sich hinter den breiten Stamm einer mächtigen Buche, die selbst von den Armen mehrerer Menschen nicht zu umspannen gewesen wäre.
Aufs Höchste konzentriert wartete sie dort, eng an die schorfige Rinde gedrückt, bis die behutsamen Schritte ihr Versteck passierten. Lautlos huschte sie auf der dem Pfad abgewandten Seite um den Stamm herum, um sich dann blitzschnell auf den Unbekannten zu stürzen.
Ihm blieb keine Möglichkeit der Gegenwehr, da Laina ihn von hinten umklammerte, ihr Messer fest an seine Kehle gedrückt. Ihr Gegner erstarrte und war so klug, keinen einzigen Finger zu rühren.
„Laina?", entfuhr es ihm stattdessen rau. So beherrscht er auch wirkte, drang der stechende Geruch von Furcht entsprungenem Schweiße an die Nase der Jägerin, gemischt mit einem Hauch von Leder und gerösteten Bucheckern.
„Wer bist du, und warum stellst du mir nach?", grollte sie in sein Ohr hinein.
„Levin, ein Freund Maros", stieß der Mann hervor, dessen halblanges, dunkelblondes Haar sich unangenehm zwischen Lainas Wimpern verfing, so dicht sie an ihn gepresst war. „Maro ist in Schwierigkeiten und braucht deine Hilfe, sonst ist wohl alles verloren!"
Augenblicklich zog Laina die Klinge zurück und stieß Levin wuchtig von sich. Wie beabsichtigt verlor er den Halt, landete auf Händen und Knien inmitten trockener Buchenblätter und erwies auf ein Neues gut geschulte Beherrschung.
Anstatt sich sogleich aufzurappeln verharrte er am Boden, die leeren Hände weit von sich gestreckt. „Hör mich bitte an", sprach er mit fester Stimme, kaum war ihm der gerade erst vergangene Schreck anzumerken.
„Nun steh schon auf", brummte Laina. „Aber Finger weg von den Waffen, sonst wird es dir übel ergehen!"
Gefährlich war es dennoch, ihm derartige Freiheit einzuräumen, das wusste sie. Gleichzeitig war der Jägerin jedoch zumute, als könne sie ihm trauen – wenn sie denn nicht bereits seit der Begegnung mit Maro sämtliche Sinne im Stich gelassen hatten. Der Mann war kein Anfänger und gewiss ein erbitterter Gegner, sie hingegen weiterhin geschwächt.
„Warte", hielt Levin jedoch dagegen führte eine Hand unter den Körper. Gleich darauf lösten sich Köcher und Bogen von seinem Rücken. „Nimm meine Waffen – ich will frei zu dir sprechen können, ohne dass du dich von mir bedroht fühlst!"
Mit erhobenen Brauen und weiterhin gezücktem Messer trat Laina einen Schritt näher. „Schön, wie du willst", erwiderte sie und griff zu. Ebenso schnell wich sie wieder zurück, um den bereits bespannten Bogen mit einem Pfeil zu versehen. „Dann also los!"
Nach wie vor ließ Levin es langsam angehen, da er sich zunächst aufsetzte und der Jägerin sein Gesicht zuwandte. Ein stoppeliger Bart rahmte die scharfen Züge, aus denen nicht einzig die schmale, leicht gekrümmte Nase hervorstach. Vielmehr waren es seine graublauen Augen, deren waches Funkeln Laina angenehm berührte.
Gelassen sah er dem auf ihn gerichteten Pfeil entgegen und erhob sich nun endgültig. „Ich denke, Maro hat dich in Kenntnis gesetzt, dass er nicht alleine gekommen ist", begann er, die mit Lederschienen versehenen Arme vor der Brust verschränkt. „Erhardt und ich haben darüber gewacht, wer Burg Rabenstein verlässt, doch weder wurden Boten ausgesandt noch ist Maro zu uns zurückgekehrt. Stattdessen hat sich ein schwer bewaffneter Zug gen Westen aufgemacht. Und wir fürchten, dass Maro dabei ist."
„Ihr fürchtet es?", forschte Laina stirnrunzelnd nach, derweil sie unbewusst den Bogen sinken ließ. „Was soll denn das heißen? Hast du ihn gesehen oder nicht?"
„Nein, wir haben ihn nicht gesehen", entgegnete Levin knapp, die graublauen Augen von leisem Ärger erfüllt. „Doch sie führen einen Wagen mit sich, mit einer einzelnen Kiste beladen, gerade groß genug, einen Mann einzuschließen. Welch seltsamer Zufall sollte dies wohl sein?"
„Vielleicht ist er in Verhandlungen verstrickt?", hielt Laina dagegen, obwohl ihr die eigenen Worte unglaubwürdig erschienen. Es wunderte sie nicht, dass Levin ein gereiztes Schnauben entfuhr.
„Und warum sollten dann Adalberts Soldaten den Rabenwald durchsuchen? Ich dachte, du wärst ein wenig klüger, wenn Maro derart daran gelegen ist, dich in den Diensten Hadmars zu sehen!"
„Ach ja?", schnappte Laina erbost zurück. „Also schön, da du anscheinend die Weisheit mit Löffeln gefressen hast – was ist dein Plan?"
„Nun, was uns betrifft – Erhardt wird der Truppe gen Westen folgen, ich hingegen werde bis morgen Mittag vor der Burg ausharren, falls sich unser Verdacht doch als Irrtum erweisen sollte. Wenn du dich nützlich machen willst, Jägerin, solltest du dich Erhardt anschließen, da ich der Meinung bin, dass Maro in dieser verflixten Kiste steckt. Und mein Gefühl hat mich selten getrogen. Wenn du mich also entschuldigen würdest? Ich habe viel zu tun."
Ungeachtet seines eigenen Bogens, der noch immer in Lainas Händen ruhte, setzte er sich in Bewegung und umrundete die Jägerin, sie mit einem kühlen Blick bedenkend.
„Nun warte doch", fuhr diese ihn an, weit entfernt davon, Gebrauch von der Waffe zu machen. „Hier, nimm deinen Bogen zurück! So leicht, wie du zu überrumpeln bist, brauchst du ihn dringlicher als ich!"
Levin verharrte für einen Moment. „Behalte ihn. Dein kümmerliches Messer wird kaum ausreichen, Maro zu helfen. Ich hoffe, du bist dir bewusst, dass er allein deinetwegen in Schwierigkeiten steckt!"
Damit ließ er Laina einfach stehen. Stumm sah sie dem Mann nach, doch im Grunde war ihre Entscheidung längst gefallen. Nie und nimmer konnte Levin sie getäuscht haben, sein verhaltener Ärger war so ehrlich gewesen wie die verborgene und doch aufrichtige Sorge in seinen Augen, die keinesfalls dem auf ihn gerichteten Pfeil gegolten hatte.
Von neu erwachendem Tatendrang überkommen warf sie sich den Köcher über die Schulter und zurrte die viel zu langen Lederriemen vor ihrer Brust zusammen. Den Bogen als auch einen Pfeil behielt Laina in den Händen, dann fuhr sie herum und folgte den sich entfernenden Tritten Levins.
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