„Ist es noch weit?", riss der Jäger sie schließlich unsanft aus ihren Erinnerungen. Inzwischen war der Wald deutlich lichter geworden, verschiedene Gehölze hatten die ersten hellen Flecken erobert und kämpften dort um die Vorherrschaft.
„Nein ... nein, wir sind gleich da", erwiderte Laina ein wenig verlegen. So verständlich es auch war, dass sie ins Träumen geriet, durfte sie sich dem keinesfalls hingeben. Noch war es ungewiss, ob es tatsächlich gelingen sollte, das herauszufinden, was Fürst Adalbert so sorgsam vor ihr verbarg.
Nun wieder sämtliche Aufmerksamkeit auf die Gegenwart gerichtet schwenkte Laina in eine felsige Schlucht ab. Fürst Adalberts Refugium war nicht mehr allzu weit entfernt, schon erfüllte das fortwährende Rauschen der Rhur die Luft.
Und dann blitzten die stolzen Mauern der Burg durch zartes Birkengrün hervor. Erhaben thronte sie oberhalb der felsigen Schlucht, kaum konnte die Jägerin es fassen, dass sie noch in der letzten Nacht von dort oben hinab in die Wasser gestürzt war.
Darauf bedacht, die Deckung des Waldes nicht zu verlassen, folgte sie dem Strom flussaufwärts bis hin zu jener seichten Stelle, an der sich die Rhur leicht überqueren ließ. Oberhalb des Ufers war eine der mächtigen Buchen durch Erosion und Unterspülung des Hanges zu Fall gekommen, klagend ragten die der Erde beraubten Wurzeln empor.
Hier jedoch hatte Laina ihre Habseligkeiten verstaut, in dem Wissen, dass niemand sich auf die andere Seite des Flusses wagte. Sie selbst hingegen war am Vortag leichtfüßig von Stein zu Stein gesprungen, ein wenig nervös, dass ein Auftrag sie in die Gefilde ihres wahren Herren geführt hatte.
Doch für eine Absprache mit Fürst Adalbert hatte die Zeit nicht gereicht, zudem war ihr glaubwürdig versichert worden, dass ihr Ziel nichts weiter als ein gedungener Spion aus dem Osten war, der die westlichen Ländereien Thiosklands auszukundschaften gedachte.
Jener vermeintliche Spion, ehemaliges Ziel und nun gar Lainas letzte Hoffnung, verfolgte aufmerksam, wie sie Gepäck als auch Waffen unter den Wurzeln hervorzog. Ein weiterer Bogen fand sich dort, zudem Pfeile und etliche Messer, die der Jägerin ein Gefühl von Sicherheit verschafften, an das Maros Versprechen nicht im Entferntesten heranreichen konnte.
„Und wie geht es nun weiter?", wandte sich die Jägerin schließlich an ihren Begleiter, in dessen Zügen sie zu ihrer Verwunderung leise Beklommenheit auszumachen glaubte, zumal er kaum merklich zurückwich, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Nun muss ich dir wohl etwas gestehen, das dir nicht gefallen wird", gab er nach einem Augenblick des Zögerns zu. „Schau, ich wusste nichts von deiner Tochter, als ich an Fürst Adalbert herangetreten bin."
Unwillkürlich schlossen sich Lainas Hände um die gerade eben erst verstauten Waffen in ihrem Gürtel. „Was hast du ihm gesagt?", wisperte sie, von einer unbestimmten Furcht ergriffen.
Der Jäger schluckte sichtlich, ehe er fortfuhr. „Ich habe ihn glauben lassen, dass du, seine Verbündete, am Abend der ihm geltenden Feierlichkeiten sein Leben zu beenden gedachtest."
Abgrundtiefes Entsetzen brandete in Laina auf, heiße Panik verdrängte selbst ihren Zorn. „Nein", wisperte sie, „nein, das darf nicht sein! Sag mir, dass das nicht stimmt!"
Er zuckte zusammen, blieb jedoch stehen, als sie ihre Hände voller Verzweiflung in sein Wams krallten. Wenn Adalbert es wusste, was würde er nun ihrer geliebten Lora antun? Heiße Tränen netzten Lainas Wangen, dann brach ein wilder Schrei aus ihr hervor.
„Was hast du getan?"
„Es tut mir leid, ich wusste doch nicht ...", stieß Maro sichtlich betroffen hervor. „Aber bitte, beruhige dich, ich habe bereits Vorkehrungen getroffen!"
Kaum drangen seine Worte an ihr aufgewühltes Gemüt, bis der Jäger sie plötzlich bei den Schultern packte und kräftig schüttelte.
„Laina, hör mir zu! Deine Tochter ist noch nicht verloren! Bitte, beruhige dich, dann kann ich es dir erklären und wir können handeln!"
Hin- und hergerissen zwischen Panik und Zorn hielt sich Laina gerade eben zurück, dem Mann ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Tief atmete sie ein, um einen klaren Kopf zu erlangen. Wenn er Recht hatte und sie nicht wieder zu blenden versuchte, musste sie ihm zuhören.
Allmählich wich das unkontrollierte Zittern aus ihren Gliedern, mit einem Ruck löste sie sich von dem Jäger und trat einen Schritt zurück. „Ich höre", presste sie hervor.
„Als ich in der letzten Nacht die Wahrheit von dir erfuhr, habe ich sogleich gehandelt", begann Maro mit eindringlicher Stimme. „Ich bin nicht alleine hier, und zwei gute Männer halten nun Wacht, um jeglichen Boten abzufangen, den Fürst Adalbert vielleicht in Richtung deiner Tochter entsendet."
"Aber ... das hat er vermutlich längst getan", fuhr Laina den Jäger unbeherrscht an, nicht im mindesten beruhigt von seinen Worten.
"Ich kann nicht glauben, dass Adalberts erster Gedanke deiner Tochter gilt", hielt er dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt. "Sie war ein Druckmittel, dich bei der Stange zu halten und gerade eben wird er Wichtigeres zu tun haben, als sich um ein in seinen Augen unbedeutendes Kind zu kümmern. Er wartet noch immer auf meine Rückkehr und auf den Beweis, dass wirklich du es warst, die ihm gestern Abend nach dem Leben trachtete. Ohne den wird er sicher nicht handeln, er ist doch kein Narr!"
Ihrer Furcht zum Trotz musste Laina dem Jäger zustimmen. „Also gut", erwiderte sie noch immer schwer atmend. „Wie also lautet dein Plan?"
„Ich fürchte, zumindest der erste Teil wird dir nicht allzu gut gefallen", gab Maro verhalten zu. „Ich brauche ein überzeugendes Zeugnis deines Ablebens."
„Und meine Waffen, so vertraut sie dem Fürsten auch sind, werden da wohl nicht genügen", begriff Laina sogleich. „Was aber erwartest du von mir? Willst du mir eine Hand abschlagen? Das wird nicht viel bringen, denn die wird er nicht erkennen!"
„Dein Haar", seufzte Maro und legte eine Hand an den Griff seines Messer. „Es muss fallen. Fürst Adalbert wird Verständnis dafür haben, dass ich deinen auf den Felsen zerschmetterten Körper nicht zurückbringen konnte, und er wird wissen, dass du dein Haar nicht freiwillig hergeben würdest."
Wie von selbst fuhr Lainas Hand über den dichten Schweif, der, von einem Lederband gebündelt, bis tief hinab auf ihren Rücken reichte. Nur, wer alt und schwach geworden war, trennte sich willentlich von dieser Zierde, um den Tod willkommen zu heißen. So war es seit jeher Brauch unter den Jägern gewesen, und auch jetzt, wenn sie ihrer Heimat längst beraubt worden waren, hielt man an diesen Bräuchen fest.
Maro wusste, was er verlangte. Tiefes Mitgefühl stand in seinen Augen, dennoch sah er Laina fordernd an und zog sein Messer. „Es muss sein, außer, du möchtest eins deiner Augen hergeben."
Da seufzte Laina tief auf und senkte ihm den Kopf entgegen. „Wenn mir das vielleicht meine Tochter zurückbringt, soll es wohl so sein."
Kurz zögerte Maro, dann schloss sich seine Hand um den langen Zopf. „Es tut mir leid", murmelte er. Ein rascher Schnitt, gleich unterhalb des Lederbandes, und schon fielen der Jägerin schmerzhaft kurze Strähnen in die Augen.
Ihr langes, prächtiges Haar indes lag wie eine Trophäe in Maros Hand, wenn auch sein Blick weiterhin voller Mitgefühl war. Wie versteinert verfolgte Laina jede seiner Bewegungen, während er sorgfältig ein Stück Schnur um das erlangte Beweisstück schlang.
„Deine Waffen", streckte er anschließend erneut die Hand aus. „Am besten alle, die du noch hast. Keine Sorge, ich werde dich später mit gebührendem Ersatz versorgen. Oh, und ein Stück von deinem Wams könnte wohl auch nicht schaden."
Zwei Messer, ein Dolch und Bogen samt Köcher wechselten den Besitzer. Anschließend löste Laina die Schnürung ihres ohnehin deutlich mitgenommenen Waffenrocks. Noch während sie diesen in den Händen hielt, verfolgte sie verblüfft, wie Maro seinen linken Arm entblößte und dann ein Messer zog.
„Was tust du denn jetzt?", entfuhr es ihr.
„Ein wenig Blut wird die Geschichte deines zerschmetterten Körpers glaubwürdiger erscheinen lassen", gab er ungerührt zurück und drückte die scharfe Klinge an sein eigenes Fleisch.
„Komm näher", verlangte er noch, dann riss das Messer einen tiefen Schnitt. Dunkelrot tropfte es auf das Wams in Lainas Händen, gründlich rieb der Jäger das Blut ins Leder ein. „Gut. Aber eins ist da leider noch – ich brauche zu guter Letzt etwas, das nur dir allein zuzuordnen ist. Dein Haar könnte auch einem anderen Jäger gehören, von Waffen und Wams ganz zu schweigen. Was ist das für ein Schmuckstück, das du da trägst?"
Unwillkürlich fuhr Lainas Hand an ihren Hals, das blankpolierte Holz fest umklammernd. „Nein", flüsterte sie und wich zurück, „das kannst du mir nicht nehmen! Nicht das, bitte!"
Als Lora noch klein gewesen war, hatte sie Stunde um Stunde an der fein beschnitzten Wurzel genuckelt, die bis heute die Abdrücke ihrer ersten Zähne trug. Nichts anderes war der Jägerin als diese Erinnerung geblieben, die ihr Kraft verliehen hatte, wann immer die Verzweiflung übermächtig geworden war.
„Hat das einst deiner Tochter gehört?", fragte Maro leise. Auf Lainas zögerliches Nicken hin seufzte er. „Du hast es stets getragen, nehme ich an? Weiß Fürst Adalbert vielleicht gar darum, was es dir bedeutet?"
„Er weiß es", flüsterte Laina und schloss die Augen, derweil die verhasste Stimme in ihrem Kopf erklang. „Wenn du mehr von deiner Tochter bewahren willst denn ein totes Stück Holz, solltest du besser tun, was ich von dir verlange!"
„Dann muss es sein", riss Maro die Jägerin aus ihren Erinnerungen. „Gib es mir, und im Gegenzug kannst du sicher sein, dass dies den Weg ebnen wird, Lora zu finden und zu befreien."
Dass er sich tatsächlich den Namen ihres Mädchens gemerkt hatte, überzeugte Laina weitaus mehr als alle Vernunft, die aus Maros Worten sprach. Zwar mahnte eine leise Stimme in ihrem Inneren vorsichtig an, wie berechnend er dieses Wissen vielleicht einsetzte, dennoch konnte sie nicht anders, als ihrem Gefühl zu folgen.
Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange, als die Jägerin das lederne Band in ihrem Nacken löste. Mit zitternder Hand reichte sie das kostbare Kleinod an Maro, der es behutsam entgegennahm und den Anhänger sorgsam in seiner Gürteltasche verstaute.
„Ich verspreche dir, dass ich alles in meiner Macht Stehende für deine Tochter tun werde", sprach er leise und voller Ernst. Die Wärme in seinen grünen Augen wirkte wieder einmal höchst ehrlich, wahrlich vertrauen konnte Laina ihm jedoch noch immer nicht.
Da ihr weiterhin keine Wahl blieb, nickte sie nur unbestimmt. „Dann geh. Ich werde hier auf dich warten."
Kurz zögerte der Jäger noch, Laina intensiv betrachtend. „Hier, nimm das", meinte er und zog sein Bündel hinter dem Rücken hervor. „Das wird dich wärmen und gleichzeitig für Schutz sorgen."
Verblüfft nahm sie den warmen Stoff entgegen, in dessen Falten sie deutlich die Abdrücke einer Waffe spürte. Bevor sie jedoch auch nur ein Wort des Dankes hervorbringen konnte, hatte Maro sich bereits abgewandt.
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