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Voller Sorge starrte Levin in die Ferne, während der Wind an seinen Kleidern zerrte. Drei Tage des untätigen Wartens waren vergangen, der Vierte neigte sich bereits dem Ende entgegen und noch gab es keinerlei Neuigkeiten.
Stattdessen war ein Unwetter aus dem Westen herangezogen, das niemals enden zu wollen schien. Dass hinter der düsteren Wand aus Wolken die Sonne unbeirrt ihre Bahn ziehen musste, konnte Levin kaum mehr glauben.
Nie zuvor hatte er Derartiges erlebt – dass ein Gewitter das nächste jagte und der Wind nicht davon abließ, heftige Regenschauer über das Land zu treiben. In einem der kurzen Momente, da die Schleusen des Himmels innehielten, hatte es Levin erneut hinauf auf die Mauern gezogen.
„Vielleicht sollte ich ihnen doch entgegenlaufen", murmelte Laina an seiner Seite, kaum zu verstehen durch das Brausen des Windes, der ihr Strähnen des schwarzen Haares in die Stirn blies.
Ein Stich fuhr Levin durch den Magen. „Nein", gab er zurück, noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte.
Schon traf ihn ein durchdringender Blick aus dunkelgrünen Augen, denen seit Beginn der ewigen Düsternis ein fortwährendes Leuchten innewohnte. Die gesenkten Brauen der Jägerin verrieten Levin sogleich, dass sie wieder einmal in jene abwehrende Haltung verfiel, gegen die er seit ihrer ersten Begegnung ankämpfte.
„Was kümmern dich meine Entscheidungen?", beschied sie ihn scharf.
Levin entfuhr ein Seufzen. „Laina, muss das noch immer sein? Ich dachte, wir hätten die Fronten längst geklärt?"
Augenblicklich wurden ihre so wunderschönen Züge weicher, deutlich verlegen sah sie zu Boden. „Entschuldige", murmelte Laina dann. „Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, was zu tun ist."
„Das wollte ich sicher nicht", erwiderte Levin. „Es war vielleicht etwas dumm ausgedrückt, aber eigentlich ganz anders gemeint."
Innerlich schalt er sich einen Narren. Welch halbgare Entschuldigung hatte er da hervorgebracht? Es war nicht verwunderlich, dass Laina ihn fragend musterte, doch immerhin war sämtlicher Ärger aus ihren grünen Augen gewichen.
„Was ich eigentlich sagen wollte", begann Levin auf ein Neues und räusperte sich, während er um die passenden Worte rang. Keinesfalls konnte er Lora vorschieben, dies würde die Jägerin lediglich als erneute Bevormundung auffassen. Doch was blieb ihm dann außer der Wahrheit?
Einmal noch sog Levin die kühle, von Feuchtigkeit getränkte Luft tief in seine Lungen hinein, dann traf er einen Entschluss. „Ich würde mir Sorgen machen, wenn du alleine losziehst. Mein Bruder und Maro hin oder her, aber dich möchte ich nicht auch noch in Schwierigkeiten wissen."
Nun war es heraus. Vorsichtig sah er zu Laina herüber, die seinem Blick sogleich auswich, wobei ihm war, als huschte ein winziges Lächeln über ihre Lippen. Knapp nickte die Jägerin, doch ihre Stimme klang weitaus weicher als gewöhnlich.
„Vielleicht warten wir noch ein wenig ab."
Schweigend starrten sie erneut gen Westen, während der Sturm um die Mauern Ostfalls heulte, untermalt von fernem Donnergrollen. Weit draußen zogen neuerliche Regenschleier heran, wild wogten die Felder im böigen Wind.
Gerade, als Levin sich schlussendlich abwenden wollte, fuhr Laina zusammen und deutete in die Ferne. „Sieh nur! Sind das nicht Erhardt und Tankred?"
Mit zusammengekniffenen Augen mühte sich Levin, den Grund ihrer Aufregung zu erkennen, konnte jedoch kaum mehr ausmachen denn die Umrisse des Weges, der sich zwischen Weiden und Feldern schließlich im Wald verlor.
„Deine Sicht hätte ich gern", brummte er. „Bist du dir sicher?"
„Sie sind es!", rief Laina erregt aus und fuhr herum. Leichtfüßig eilte sie auf die Stiegen zu, verhielt dort jedoch für einen Augenblick, bis Levin zu ihr aufgeschlossen hatte. Ein kurzer Blick in die grünen Augen verriet ihm, dass Laina von ähnlicher Sorge umtrieben war wie er – warum kam Maro nicht gemeinsam mit seinen Gefährten heim?
Seite an Seite liefen sie abwärts und dann dem westlichen Tor entgegen, das, wie auch alle anderen, schon seit vielen Tagen fest verriegelt war und seine Flügel nur dann öffnete, wenn sich die Einlass begehrenden Fuhrwerke einer gründlichen Kontrolle unterzogen hatten.
So hatte es Hadmar verfügt, eine Entscheidung, die Levin einzig befürworten konnte. Seit jeher war sein Freund viel zu gutgläubig gewesen, doch diesmal schien der Fürst verstanden zu haben, dass die Bedrohung aus Rabenstein weitaus ernster zu nehmen war als zuvor.
Als sie das Tor erreichten, war dort lediglich noch ein wenig Fußvolk unterwegs. Bauern und Tagelöhner, die sich ebenfalls erklären mussten, bevor sie die schmale, ins Tor eingelassene Pforte passieren durften.
Levin, dessen Geduld in den letzten Tagen reichlich gelitten hatte, war dankbar darum, dass sie nicht zu einem der anderen Tore hinausmussten. Er hatte gesehen, wie weit sich der Verkehr dort aufstaute, kaum gab es selbst zu später Stunde ein Durchkommen in den Gassen nahe der Mauern.
Im Westen hingegen lagen nur wenige, kleine Siedlungen. Dementsprechend gering war die Anzahl der Wartenden, doch einreihen mochte sich Levin in seiner Unruhe hier gewiss nicht. Zielstrebig hielt er auf die Pforte zu und als ihm einer der Soldaten in den Weg trat, bedachte er diesen mit einem scharfen Blick, was den jungen Mann, Gismar war sein Name, überrascht zurückweichen ließ.
Gewöhnlich wechselte Levin stets freundliche Worte mit allen Soldaten, die meisten waren ihm wohlbekannt. Diesmal hingegen brachte er nicht einmal einen Gruß hervor, während auch die anderen Soldaten zur Seite wichen, da sie erkannten, dass ein Vertrauter des Fürsten um Durchlass begehrte.
Draußen vor den schützenden Mauern wurden sie von scharfen Böen und ersten Vorboten des aufziehenden Regens begrüßt. Kurz fragte sich Levin, ob es nicht klüger gewesen wäre, die Ankunft der zwei Männer geduldig abzuwarten, doch es drängte ihn zu sehr nach Antworten.
Nun erkannte auch er, was die Jägerin so viel früher gesehen hatte – die vertraut breitschultrige Gestalt seines Bruders, in dunkles Leder und Leinen gekleidet, daneben der sehnige Hauptmann, dessen Tracht seines Standes zeugte.
Ihre müden Schritte beschleunigten sich, kaum da sie sahen, wer ihnen entgegenlief, vielleicht jedoch trieb sie auch das Unwetter an. Erste Blitze erhellten die Abenddämmerung, harscher Wind blies Levin den Regen direkt in die Augen, kaum noch sah er, wohin er lief.
Bis plötzlich Erhardts Stimme gleich vor ihm ertönte. „Na, das wäre ja nicht nötig gewesen, dass ihr diesen Mist mit uns teilt!"
Unwillkürlich entfuhr Levin ein Lachen, so unangenehm ihn der kühle Schauer auch traf. Er konnte sich nicht erinnern, jemals auch nur mehr als zwei Tage von seinem Bruder getrennt gewesen zu sein und ihn nun wieder bei sich zu wissen, wischte für einen Augenblick alles andere hinfort.
Hart, aber herzlich schlug ihm der Ältere auf die Schulter, doch als Levin den Gruß auf gleiche Weise erwiderte, erhob Laina die Stimme und trübte mit einem Satz sämtliche Freude über das Wiedersehen.
„Wo ist Maro?"
„Er hat entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen", entgegnete Tankred knapp. „Aber lasst uns das gemeinsam mit Hadmar besprechen, nicht hier und jetzt!"
Ein gewaltiger Donnerschlag schien seine Worte bekräftigen zu wollen, denen nicht einmal Laina widersprach. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung und liefen auf das Tor zu, von Regen und Wind vorangetrieben.
Auch Levin brannten unzählige Fragen auf der Zunge. Doch sowohl sein Bruder als auch der Hauptmann wirkten, als brächten sie zwar wichtige Kunde, die jedoch längst nicht den düsteren Befürchtungen entsprach, derer sich niemand der Zurückgebliebenen hatte erwehren können.
Schweigend hielt er sich an seines Bruders Seite, dem der ein oder andere deftige Fluch entfuhr, da das Unwetter weiter an Stärke gewann. Triefend nass war ein jeder, als sie endlich die Mauern erreichten und sich dahinter zumindest ein wenig Windschatten bot.
Die sonst so belebten Gassen Ostfalls waren wie leergefegt, lediglich ab und an hastete eine gebückte Gestalt durch den prasselnden Regen. Ebenso hastig eilte die kleine Truppe auf die Burg im Zentrum der Stadt zu, Deckung im Schatten eines jeden Bauwerkes suchend.
Inzwischen war es Levin, als hätte er samt Kleidern ein unverhofftes Bad genommen. Selbst sein aus robustem Leder gefertigtes Wams war vollkommen durchweicht, unangenehm nass und kalt klebte ihm jeglicher Stoff am Körper.
Den anderen erging es nicht besser. Als die kleine Truppe den Burghof erreichte, wurden sie alle von mitleidigen Blicken der dort postierten Soldaten empfangen, die unter den überhängenden Dächern Schutz gefunden hatten. Noch bevor Tankred es anordnen konnte, öffneten die Männer das Tor und ließen ihren Hauptmann samt Anhang freundlich grüßend passieren.
„Ist Hadmar zugegen?", erkundigte sich Tankred im Vorbeigehen. „Oh ja, er sollte wohl oben in seinen Gemächern sein", gab ein Soldat zurück.
In der von Öllampen erhellten, großen Halle war es kaum wärmer als draußen, doch allein Wind und Regen entkommen zu sein, entlockte nicht nur Levin einen Seufzer der Erleichterung. Eine nasse Spur auf dem steingepflasterten Boden hinterlassend schritten sie auf die seitlichen Stiegen zu.
Denn im Thronsaal, der nebst Ratssaal gleich vor ihnen lag, würden sie den Fürsten zu dieser Stunde nicht antreffen. Unwillkürlich musste Levin schmunzeln. Dorthin trieb es Hadmar nur, wenn jemand vom Volke ihn zu sehen wünschte, was selten vorkam, oder dann, wenn es seinen Beratern gelang, ihn zu einer Besprechung zu überreden.
Lieber war es dem Fürsten, wenn man sich in seinen gemütlichen Gemächern traf. Derartige Vertraulichkeit fiel gerade jenen älteren Männern, die bereits seinem Vater gedient hatten, durchaus schwer. Doch Levin hatte sich seit jeher daran erfreut, dass sein Freund aus Kindertagen wenig auf seinen Stand gab und einem jeden auf Augenhöhe begegnete.
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als sie auf halber Höhe der Stufen Irva begegneten. „Tankred, Erhardt, ihr seid wieder da!", rief die dürre, blondlockige Bedienstete voller Freude aus und zuckte erschrocken zusammen, da sie die Ankömmlinge näher betrachtete. „Herrjeh, ihr seid ja vollkommen nass! Soll ich heiße Bäder bereiten lassen?"
„Sehr gern", erwiderte Tankred und bedachte die Frau mit einem schmalen Lächeln. „Zuvor allerdings müssen wir dringend mit Hadmar sprechen, lass dir also Zeit mit den Vorbereitungen."
„Ganz wie gewünscht", gab Irva zurück, deren Blick abschätzend über jeden einzelnen huschte.
Ein kleiner Teil Levins wünschte sich, das Bad sogleich nehmen zu können und so schien es nicht nur ihm zu ergehen. Auch sein Bruder und sogar Laina sahen der Frau eindeutig wehmütig hinterher, doch Hadmar sollten sie nicht länger warten lassen.
Auf dem letzten Flur angekommen, einst gänzlich der fürstlichen Familie vorbehalten und nun von den engsten Vertrauten Hadmars bewohnt, zu denen auch Levin, Erhardt und Maro gehörten, stiegen sie hintereinander die schmale Wendeltreppe empor.
Nach dem Kutschunglück vor etwa zehn Wintern, das Hadmar nicht nur seiner Eltern, sondern auch seiner jungen Frau beraubt hatte, war er hinauf in den kleinen Turm gezogen. Ein jedes Mal, wenn Levin hier hinaufkam, musste er daran denken und auch heute fuhr ihm ein leiser Stich durchs Herz – sein Freund hatte diese Bleibe einzig deshalb gewählt, um nicht Tag für Tag an den erlittenen Verlust erinnert zu werden.
Es blieb jedoch keinerlei Zeit, sich in schwermütigen Erinnerungen zu verlieren. Den zwei Wachen oben auf dem letzten Absatz standen im Angesicht der Ankommenden Erleichterung und Freude in die Gesichter geschrieben, schon pochte einer von ihnen an die schlichte Tür.
Dahinter ertönte ein Poltern und dann riss Hadmar die Tür auf, begleitet von einem Schwall wohliger Wärme. „Nein!", stieß er aus, die hellbraunen Augen geweitet, eine Hand in den imposanten, braunen Bart gekrallt. „Endlich! Ich habe mich so sehr gesorgt!"
Damit klopfte er seinem Hauptmann, der den schmächtigen Fürsten um einen ganzen Kopf überragte, auf die Schulter und bedachte Erhardt ungeachtet dessen tropfender Tracht mit einer festen Umarmung. Als die beiden ins Zimmer getreten waren und Hadmar lediglich noch Laina und Levin entdeckte, erstarrte er.
„Wo ist Maro?"
„Kein Grund zur Beunruhigung", brummte Tankred, was in Levins Ohren wie eine höfliche Lüge klang. „Komm, setz dich, wir berichten von Anfang an."
Während Laina die Tür ins Schloss zog, raufte sich Hadmar die kurzen, braunen Locken. „Nein, zunächst will ich wissen, wo Maro steckt!"
Da nickte der Hauptmann bedächtig. „Er hat darauf bestanden, allein weiterzuziehen, und ich habe ihm zugestimmt. Er ist einfach schneller und geschickter als wir, niemals hätten wir mithalten können. Zudem mussten wir uns ohnehin trennen, um eine gen Ostfall marschierende Truppe an Soldaten im Auge zu behalten."
„Maro alleinzulassen findest du richtig?", schnaufte der Fürst. „Er ist doch erst vor kurzem an seine Grenzen gestoßen! Hätte es nicht gereicht, wenn einer von euch hierher zurückgekehrt wäre?"
„Mir hat es auch nicht gefallen, aber selbst, wenn wir anderer Meinung gewesen wären, wäre er uns wohl einfach davongelaufen", knurrte Erhardt und ließ sich auf einen der gemütlichen Sessel am fröhlich flackernden Feuer fallen. „Du kennst ihn doch! Außerdem hatte ich den Eindruck, dass er uns loswerden wollte, da ist irgendetwas faul an der ganzen Geschichte!"
Innerlich zuckte Levin zusammen. Wenn schon sein Bruder eine Ahnung hegte, musste sein eigener Verdacht wahrlich zutreffen. Auch Hadmar stutzte für einen Moment, doch was immer ihm durch den Kopf ging, behielt er für sich.
Stattdessen wies er mit einladender Geste auf den Kamin. „Kommt doch ins Warme, ihr seid ja vollkommen durchnässt! Braucht ihr ein paar trockene Tücher, oder vielleicht einen deftigen Trunk?"
Hektisch drapierte er weitere Stühle gleich neben dem Kamin und winkte Tankred, Laina und Levin heran. Letzterem entging dabei nicht, wie fahrig Hadmar dabei wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken an anderer Stelle.
„Schon gut", winkte Levin ab, innerlich zitternd vorUngeduld. „Wir sind bereits Irva begegnet, die sich um heiße Bäder kümmert. Aber jetzt will ich endlich hören, was geschehen ist!"
Scharf sah er seinen Bruder und den Hauptmann an, woraufhin letzterer das Wort ergriff, kaum da auch Hadmar seinen abgewetzten Sessel in ihre Runde geschoben hatte und sich mit sorgenvollem Blick vorbeugte.
Tankred, kein Freund großer Worte, fasste die Reise gen Rabenstein knapp zusammen. Stumm lauschten seine Zuhörer, doch als er berichtete, wie seltsam sich der von ihnen gefangene Soldat verhalten und seinem Leben freiwillig ein Ende bereitet hatte, fuhren sie alle zusammen.
„Das ist doch nicht möglich", hauchte der Fürst, indes Levin spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
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