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Lang noch blickte Laina Maro, Erhardt und Tankred hinterher, bis sie in den Schatten der Wälder eintauchten. Lora, die gerade eben über den Rand der Wehrmauer spähen konnte, schniefte leise.
„Kommen sie zurück?"
„Ganz sicher", beteuerte Laina voller aufgesetzter Zuversicht, denn zu ihrem Verdruss hatte das Mädchen jene Sorgen ausgesprochen, die auch sie plagten. „Aber nun komm, lass uns herausfinden, wie schön die Gegend hier ist!"
„Oh ja", stimmte Lora eifrig zu. „Aber dann schauen wir, ob es Levin gut geht, ja?"
Schmunzelnd nickte die Jägerin. Nebst Maro hatte das Mädchen auch die zwei Brüder ins Herz geschlossen und Laina war dankbar dafür, wie offen die Männer dem begegnet waren. Nichts konnte ihre Tochter nun besser gebrauchen denn einige vertraute Menschen um sie herum, da sich ihr Leben erneut auf den Kopf gestellt hatte.
Heute war das westliche Tor zwar nicht geschlossen, doch bestens bewacht. Aufmerksam begutachteten die Soldaten einen jeden, ob er nun hinauswollte oder aus den umliegenden Ländereien zurückkehrte. Draußen hatte sich gar eine Schlange aus beladenen Fuhrwerken gebildet, doch die Menschen ließen die Kontrolle über sich ergehen, ohne auch nur einen Hauch von Unwillen zu zeigen.
Laina und ihre Tochter durften sogleich passieren, höflich gaben die Soldaten den Weg frei. Gleich hinter den Mauern reihten sich Felder und Weiden, dazwischen lagen Gehöfte und Scheunen im Licht der steigenden Sonne.
Die Jägerin hingegen zog es weiter voran, auf den dichten, grünen Wald zu, den Wipfeln mächtiger Buchen entgegen, hinein ins von Haseln und Holunder gesäumte Zwielicht. Erst hier atmete sie auf, denn dem Schutz steinerner Mauern zum Trotz wurde es ihr in deren Mitte stets eng um die Brust, fühlte sie sich bedrängt und gefangen.
Anstatt dem breiten, von Fuhrwerken gezeichneten Weg zu folgen, tauchten die beiden ins Unterholz ab. Die Pfade der Tiere wiesen Laina die Richtung und wann immer Lora einen Ort fand, an dem sie verweilen wollte, hielt auch die Jägerin inne, um sich ganz den Spielen ihrer Tochter zu widmen.
Es erfreute sie zutiefst, dass es das Mädchen ebenso wie sie selbst noch immer hinauszog. Die zwei Jahre innerhalb Windraths, fern ihrer Mutter, hatten dem Kind nicht austreiben können, was seit jeher das freie Leben des westlichen Volkes ausgemacht hatte.
Bis in den Nachmittag hinein genossen sie das ungestörte Beisammensein, denn Lainas kleiner Rucksack war prall gefüllt mit feinster Verpflegung aus den Küchen Ostfalls, die sie vergnüglich unter dem schützenden Dach uralter Buchen verzehrten.
Letztendlich nahmen Lainas Sorgen jedoch Überhand. „Wie wäre es, wenn wir nun Levin besuchen?", schlug sie vor, was Lora sofort ein Lächeln entlockte.
„Ja, das machen wir", meinte sie begeistert und fiel dann beinahe vornüber bei dem Versuch, sich von Laub und Zweigwerk zu befreien. Anstatt des weißen Kleidchens trug das Mädchen nun Hose und Wams aus Leinen in passender Größe, nur eins der vielen Gewänder, mit denen der Schrank ihres weitläufigen Gemachs bestückt worden war.
Glücklicher hätte Laina kaum sein können – für Verpflegung ward im Speisesaal gesorgt und obendrein waren da, wie von Hadmar versprochen, vielerlei Kinder, die Lora bereits voller Neugier und der Hoffnung begegnet waren, sie recht bald in ihre Spiele mit einbinden zu können.
Wenn da nicht Rabenstein gewesen wäre.
Erst seit kurzer Zeit kannte sie Maro und vermochte längst nicht, ihn einzuschätzen. Doch was Laina in seinen Augen erkannt hatte, in den kurzen Momenten, da er sich unbeobachtet wähnte, war nahezu Furcht gewesen.
Während sie dies mit Verwunderung aufgenommen hatte, schien Levin einen unschönen Verdacht zu hegen, den er noch nicht einmal zur Gänze ausgeführt hatte. Es drängte die Jägerin danach, dem auf den Grund zu gehen, denn ihr Gespür sprach eindeutig davon, dass Schlimmes geschehen war.
Abwesend verfolgte sie, wie Lora auf dem Heimweg ein um die andere Blume von den Feldrändern pflückte, gezwungen war ihre Freude, mit der sie dem Entzücken des Mädchens begegnete.
Wilder Mohn, Kornblumen und Hahnenfuß gaben miteinander ein prächtiges Bild ab und Levin war sichtlich gerührt. „Wo hast du denn die gefunden?", erkundigte er sich, als er den Strauß entgegennahm.
„Draußen vor dem Tor, warst du denn da noch nie? Da ist alles voller Blumen, das musst du doch gesehen haben!", erklärte das Mädchen und nahm auf seiner Bettkante Platz.
„Vielleicht sollte ich öfter hinausgehen", erwiderte Levin schmunzelnd. "Magst du mich das nächste Mal begleiten?"
„Oh ja, dann zeige ich dir, wo die Schönsten wachsen!"
Kaum lauschte Laina dem Geplänkel der beiden, zu fasziniert war sie vom Anblick, der ihr Levins Gemach bot. Bis unter die Decke hinauf säumten hölzerne Regale die Wände, aus krummen Ästen und ebenso windschiefen Brettern gefertigt.
Einem Mangel an passendem Material oder fehlender Handwerkskunst schien der urtümliche Bau jedoch nicht geschuldet zu sein. Sorgfältig geschliffen waren sämtliche Hölzer und passgenau ineinander gesteckt, ein wenig wirkte es gar, als wäre die Konstruktion gewachsen anstatt gezimmert worden zu sein.
Umso wundersamer war einzig das Sammelsurium unterschiedlichster Dinge darauf. Sonderlich gebogene Messer und andere Waffen, deren Zweck Laina nur erahnen konnte, geschnitzte Figuren, tönerne Schalen und kleine, sorgsam verschnürte Säckchen nebst vielerlei Knochen unbestimmter Herkunft.
Getrocknete Kräuter, in Bündeln an den Brettern aufgehängt, einige Rollen Pergament, geheimnisvolle Schachteln und Kisten reihten sich aneinander, dazwischen entdeckte die Jägerin manch ein Kleinod, dessen Anblick all ihre Sorgen in den Hintergrund drängte.
Gerade streckte sie ihre Hand nach einer in allen Farben des Regenbogens schillernden Glaskugel aus, als plötzlich Levins Stimme ertönte.
„Nur gucken, nicht anfassen, bitte! Hast du das denn deiner Mutter nicht beigebracht, dass man seine Finger bei sich behält?", fuhr er an Lora gewandt fort.
Verlegen trat Laina einen Schritt zurück und wandte sich der schlichten Bettstatt zu. Gemütlich gegen die Kissen in seinem Rücken gelehnt saß Levin dort, in ein weites Hemd und schlichte Leinenhosen gekleidet.
Frisch rasiert war er zudem, sein halblanges, dunkelblondes Haar fiel ihm noch ungezähmt in die Stirn. Wie auch die Jägerin und ihre Tochter hatte er wohl die Freuden eines Bades genossen, ein herrlicher Moment des Innehaltens inmitten all der turbulenten Ereignisse.
„Nicht ganz das, was du von einem einfachen Mann wie mir erwartet hättest, nicht wahr?", ging Levin auf ihr Interesse an seiner Einrichtung ein, mit erhobenen Brauen und dennoch verhalten lächelnd.
Hinter seiner fröhlichen Fassade konnte Laina jedoch die gleiche Sorge spüren, die auch sie umtrieb. Ohne auf seinen Spaß einzugehen hielt sie den Blickkonktakt, bis Levin verstand und sich sein Gesicht verdüsterte.
„Wollen wir später noch einmal sprechen?", murmelte er schließlich, woraufhin die Jägerin sogleich nickte.
Lora hingegen zog einen Schmollmund, da sie wohl begriffen hatte, was es mit diesem später auf sich hatte. „Warum darf ich nicht zuhören?", maulte sie. „Das ist ungerecht!"
Levin kam Laina mit einer Erklärung zuvor. „Manchmal gibt es Dinge, die Erwachsene besprechen müssen. Und weißt du", er beugte sich dem Mädchen entgegen und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, „es wird sicher unglaublich langweilig. Ich habe gar keine Lust darauf. Deine Mutter kann ganz schön anstrengend sein."
Derweil Lora hell auflachte, konnte sich auch Laina ein Schmunzeln nicht verbeißen. Der Mann wusste in der Tat gut mit Kindern umzugehen, zudem fand sie zunehmend Gefallen an seinem Humor.
„Aber morgen", fuhr Levin fort, „morgen unternehmen wir etwas wirklich Schönes. Dann zeige ich euch die fürstlichen Gärten!"
„Oh ja!", jauchzte Lora auf, was ihm ein weiteres Lächeln entlockte. Nach wie vor hatte sich die Jägerin kaum an seine nun so freundlichen Züge gewöhnt, die ihn geradezu in einen anderen Menschen verwandelten.
Erneut machten ihr die Erinnerungen daran, wie unfreundlich sie ihn und seinen Bruder behandelt hatte, zu schaffen. Um die unangenehme Befangenheit zu verbergen, wandte sich Laina erneut den Regalen zu.
„Woher kommt all das?"
„Manches habe ich auf Reisen durch die Lande zusammengetragen", erwiderte Levin. „Anderes hingegen hat mir Maro vermacht, der noch viel weiter herumgekommen ist und weiß, dass ich Interesse an ungewöhnlichen Dingen habe."
Auch Loras Aufmerksamkeit, zuvor einzig auf Levin gerichtet, war erweckt. Staunend stand sie da und sah in die Runde und Laina wusste genau, was nun folgen würde.
Schon hatte das Mädchen den ersten Schatz entdeckt und stürzte darauf zu. „Oh wie hübsch!", rief sie aus und zog ihre Hand erst im letzten Moment zurück, um Levin mit großen Augen anzuschauen. „Darf ich das anfassen?"
„Das darfst du", nickte er. „Wenn du denn vorsichtig bist und die Muscheln wieder zurück an ihren Platz legst. Und es ist gut, dass du fragst, denn nicht alles hier ist für Kinder gedacht."
Insgeheim bewunderte Laina die Geduld des Mannes, während er Lora Rede und Antwort zu vielerlei Kleinoden stand. Schließlich – ihre Tochter bewunderte soeben eine Kette aus seltsamem, dreieckigen Knochenstücken, wie auch die Jägerin sie nie zuvor gesehen hatte und die sich als Zähne eines Raubfisches in den weiten Meeren entpuppte – klopfte es an der Tür.
„Nur zu", rief Levin und herein trat eine junge Frau, beladen mit einem Tablett voller Speisen. „Oh, Mechthild - ist es denn schon Abend?"
„Du hast wohl wieder die Zeit vergessen?", meinte die blonde Bedienstete fröhlich und bedachte auch Laina und ihre Tochter mit einem Lächeln. „Na, kein Wunder bei dieser Gesellschaft! Ich fürchte nur, für drei wird es nicht reichen! Warum hast du denn nichts gesagt?"
Zum ersten Mal fiel der Jägerin bewusst auf, wie zwanglos der Umgang in den Mauern Ostfalls war. Wie hatte ihr dies zuvor nur entgehen können? Derweil sie verblüfft verfolgte, wie Mechthild frohgemut einige Schüsseln auf dem kleinen Tisch neben Levins Bett verteilte, ging ihr durch den Kopf, was sie stattdessen genaustens beobachtet hatte.
Die Anzahl kriegstauglicher Männer, die Höhe der Mauern, mögliche Schwachstellen im Bollwerk Ostfalls. Einzelne Soldaten, die möglicherweise anfällig für Bestechung waren, die Bewegung sämtlicher Truppen und nicht zuletzt alle Pläne, nach denen die Grenzen verteidigt wurden.
Wie sehr sich die Stimmung von derer in Rabenstein unterschied, hatte sie hingegen nicht einmal bemerkt.
„Soll ich auch euch noch etwas bringen?", riss Mechthild sie aus ihren Gedanken. Freundlich und ein wenig neugierig musterte sie Laina, doch diese schüttelte verlegen den Kopf.
„Danke, aber ich denke, Levin hat sich ein wenig Ruhe redlich verdient. Wir wissen ja bereits, wo der Speisesaal liegt."
„Aber ich möchte gern hier essen", begehrte Lora sogleich auf und auch Levin mischte sich mit ein.
„Das ist schon in Ordnung – ich freue mich über die Gesellschaft."
„Ich bin gleich wieder da", meinte die Bedienstete schmunzelnd und setzte der Diskussion ein Ende, indem sie aus der Tür entschwand.
„Du musst nicht ...", begann die Jägerin, doch der Mann unterbrach sie mit erhobenen Brauen.
„Das weiß ich, und wenn es mir zu viel wird, kann ich das gut selbst sagen. Nach dem Essen würde ich gern ein wenig ruhen, bis dahin könnt ihr gern bleiben."
Glücklicherweise machte Lora dem daraufhin folgenden, unangenehmen Schweigen rasch ein Ende. Nach und nach hatte sie sich näher an die Speisen auf dem Tischchen herangeschoben und verlieh ihrer Begeisterung nun Luft.
„Das sind ja Bohnen! Oh, und es gibt sogar Speck dazu! Darf ich schon einmal kosten?" Bittend sah sie auf und fuhr im nächsten Atemzug fort. „Ich gebe es dir auch gleich zurück, versprochen!"
„Nimm ruhig, soviel du willst", bot Levin freundlich an, dann nickte er Laina zu. „Falls auch du deinen Hunger nicht zügeln kannst, nur zu!"
„Es geht gerade noch", gab die Jägerin zurück, zwischen Belustigung und einem fortwährenden, leisen Ärger schwankend –warum legte er fortwährend scheinbar alles daran, sie auf jedeerdenkliche Weise zu provozieren?
Oder war all dies vielleicht nur ein Spaß, wie man ihn hieruntereinander pflegte? Da Laina diesen weder Levin noch ihrer Tochter verderben wollte, gesellte sie sich hinzu, um festzustellen, dass der Inhalt sämtlicher Schalen wirklich höchst verlockend war.
Nebst Bohnen und Speck gab es einen kräftigen Getreidebrei, dazu geschmortes Fleisch. Gerade Letzteres reizte die Jägerin, weshalb sie kurzerhand zugriff, den verdutzten Blick ihres Gegenübers weitmehr genießend als den gut gewürzten, zarten Braten.
Schon bald kehrte jedoch Mechthild zurück und füllte die Schalen neu auf, außerdem stellte sie ein kleines Körbchen hinzu, gefüllt mit feinem Backwerk.
„Nein meine Liebe, das gibt es erst, wenn alles andere aufgegessen ist", hielt die junge Frau Lora zurück und pikste dem Mädchen neckisch in die Seite. „Ach, da ist doch noch Platz für ein Paar Bohnen, meinst du nicht?"
Dann zog sich Mechthild zurück und überließ es Lora und Levin, die Nascherei zu verteidigen. Überraschend schnell war das Mädchen gesättigt von Brei, Bohnen und Braten, wundersamer Weise passten anschließend jedoch noch an die drei Küchlein in sie hinein.
„Nun ist es aber wirklich Zeit fürs Bett", verkündete Laina entschieden, kaum verwundert, dass keinerlei Protest erfolgte. Müde blinzelnd ließ sich Lora anstandslos aus dem Zimmer führen, einen letzten Blick tauschte die Jägerin noch mit Levin, der ihr zunickte.
„Bis später", erinnerte er an ihre Verabredung, dann fiel die Tür ins Schloss.
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