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Unter den im auffrischenden Winde flatternden Bannern Ostfalls – ein stolzer Berg unter strahlender Sonne – bevölkerten weit mehr Soldaten die Wehrgänge, als Maro es in Erinnerung hatte. Ein ganzes Dutzend schwer bewaffneter Mannen löste sich vom Haupttor und schritt dem kleinen Trupp entgegen, lange, nachdem Maro mit seinen weitaus schärferen Augen die Mauern ausgemacht hatte.

Erleichterung zeichnete die Züge eines jeden Soldaten, da sie den Jäger erkannten. Tankred, Hauptmann sämtlicher Truppen, begrüßte ihn mit dem üblichen Handschlag, wirkte jedoch, als wäre er Maro lieber um den Hals gefallen.

„Den Göttern sei Dank, dass du zurück bist – und offenbar erfolgreich", stieß der sehnige, hochgewachsene Mann hastig hervor, derweil sein Blick aus rauchgrauen Augen kurz auf Laina hängenblieb. „Dir ist sicher nicht entgangen, was sich in Rabenstein zugetragen hat, Hadmar ist höchst beunruhigt und wird erleichtert sein, dass du heil davongekommen bist!"

Natürlich war die seltsame Erscheinung am Himmel auch in ganz Ostfall gesichtet worden, Maro hatte es nicht anders erwartet. Schmerzhaft krampfte sich sein Inneres zusammen – nein, die volle Wahrheit konnte er Hadmar nicht zumuten, nicht, bevor er sich selbst ein Bild der Lage gemacht hatte.

„Nein, es ist uns nicht entgangen", erwiderte der Jäger düster.

„Lassen wir Hadmar also nicht länger warten", verfügte der Hauptmann. Er wirkte erschöpft, als habe auch er zu wenig geschlafen, tief hatten sich die ohnehin markanten Falten zwischen Nase und Mundwinkeln in sein hageres Gesicht gegraben. Zudem war Tankred unrasiert und das lange, von ersten grauen Strähnen durchzogene, dunkelblonde Haar, sonst stets sauber gekämmt zurückgebunden, hatte gewiss seit einiger Zeit keinen Kamm mehr gesehen.

Auf seinen Wink hin übernahmen einige Soldaten die Trage Levins und hielten ihn davon ab, das Tor auf eigenen Füßen zu durchqueren. Schon zuvor hatte er ab und an darauf bestanden, kurze Strecken aus eigener Kraft zu laufen, doch diesmal musste er sich der Eile Tankreds fügen.

Die Unruhe aller war deutlich zu spüren, viel zu hastig wurden die schweren Flügel hinter ihnen geschlossen. Der dumpfe Hall des auf Stein schlagenden Holzes ließ Maro zusammenzucken, bis zum Zerreißen gespannt waren seine Nerven nun, da er sich bald rechtfertigen musste.

Nicht einmal bis zum Burghof schafften sie es, da ihnen Hadmar entgegeneilte, von einer Schar an Getreuen umgeben. Inmitten der engen, steinernen Gassen hielt er im Laufschritt auf die Ankömmlinge zu, kaum konnten ihm seine Leibwächter folgen.

So unwohl ihm auch zumute war, konnte sich Maro eines Schmunzelns nicht erwehren. Niemals zuvor hatte er einen Fürsten erlebt, der sich derart gegen sämtliche Gepflogenheiten der Herrscher stemmte und seinen Gefühlen stets freien Lauf ließ.

Auch Hadmars schlichte Gewandung aus einfachem Leinen verriet seinen Stand nicht. Einzig das fein gearbeitete, silberne Medaillon, von einer filigranen Kette gehalten und mit dem Wappen Ostfalls geziert, hob ihn von seinen Untergebenen ab.

„Maro", stieß Hadmar hervor, kaum da er auf Hörweite herangekommen war. „Oh, ich hatte das Schlimmste befürchtet!"

Die ehrliche Freude in den hellbraunen Augen versetzte dem Jäger einen Stich, gleichsam war er bemüht, die Begrüßung wie üblich zu gestalten. Heute drückte der Fürst ihn jedoch weitaus fester an seine schmale Brust als gewohnt, mit einer Kraft, die dem kleinen, schmächtigen Mann mit dem umso imposanteren Bart kaum zuzutrauen war.

Das unscheinbare Äußere Hadmars hatte schon den ein oder anderen Gegner über seine innere Stärke hinweggetäuscht, gleichsam war seine sanftmütige, friedliebende Art jedoch seit jeher Einladung an alle gewesen, denen es danach dürstete, ihre Macht auszuweiten.

Einziges Bollwerk war dem Fürsten hierbei sein treu ergebenes Volk gewesen – vom schlichten Köhler bis über die Bauern und Soldaten hinweg liebten die Menschen ihn. Denn anders als unter den Oberen des Landes üblich achtete Hadmar das Wort und Wohl eines jeden, niemand war ihm zu gering, dessen Bitten zu lauschen.

Somit wurde die Burgwacht überrannt von jungen Burschen, wann immer eines der umliegenden Fürstentümer seine gierigen Finger nach Ostfall auszustrecken begann, allen voran Rabenstein, dessen Fürst eng mit dem König Thiosklands verbandelt war und somit nahezu ungehindert walten konnte.

Nach wie vor beruhigte es Maro, dass wohl ein jeder innerhalb der Ländereien Ostfallss alles für seine Heimat geben würde. Doch wenn denn seine schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit werden sollten, würde dies nicht genügen.

Um Haltung bemüht erwiderte der Jäger seines langjährigen Freundes Begrüßung. Ebenso herzlich empfing Hadmar die zwei Brüder, deutlich besorgt ob Levins Zustand.

„Nun lass mal gut sein", brummte dieser. „Wir sollten lieber besprechen, was wirklich wichtig ist, und das sicher nicht auf offener Straße!"

Dem konnte Hadmar nur zustimmen. Weitaus zurückhaltender nickte er Laina zu, doch was es zwischen den beiden zu klären galt, sollte ebenfalls nicht in der Öffentlichkeit zur Sprache kommen.

Derweil die Torwächter zurück auf ihre Posten kehrten, schloss sich Tankred allen anderen an, die nun gen Burg strebten. Mittlerweile säumten etliche Schaulustige die schmalen Gassen, zumeist waren es Handwerker jeglicher Art.

Maro mied dieses Viertel gleich hinter dem westlichen Tor, in dem sich Werkstatt an Werkstatt reihte, für gewöhnlich. Die feine Note frisch gesägten und gehobelten Holzes wurde hier gnadenlos überlagert vom Rauch der Schmieden und Töpfereien, verlor sich im beißenden Gestank der Gerbereien und dem fauligen Geruch vielerlei Schlachtabfälle.

Auf die knappen Ansagen der fürstlichen Leibwächter hin gaben Männer und Frauen jedoch sogleich den Weg frei. Die Neugier war ihnen allen ob der jüngsten Ereignisse nicht zu verdenken, Sorge umwölkte so manchen Blick, auf den der Jäger traf.

Je näher sie der Burg kamen, desto mehr wünschte er, seinem ersten Instinkt gefolgt zu sein. Längst hätte er Rabenstein erreicht und vielleicht bereits gehandelt, anstatt nun diskutieren zu müssen, was er seinem Freund ohnehin nicht erklären konnte, erklären durfte.

Doch nun war es zu spät, nun blieb ihm nichts, als sich sämtlicher Fragen zu erwehren. Oder sollte er vielleicht doch das Wagnis eingehen, Hadmar reinen Wein einzuschenken? Den Jäger schauderte es, derweil sie nun den Burghof passierten, von etlichen Soldaten gesäumt, weitaus mehr, als es üblich war.

Doch nein. Noch bestand die Hoffnung, dass der Seelenstein ganz in seinem und auch Hadmars Sinne gewirkt und dem übergriffigen Fürsten Rabensteins nichts als Unheil gebracht hatte.

Eine leise Stimme in Maros Innerem, die er fortwährend zu unterdrücken suchte, verkündete jedoch seine wahre Furcht. Was, wenn Hadmar ihm nicht verzeihen, ihn gar von sich stoßen würde?

Somit wäre sein letzter Halt dahin und gleichzeitig die Freundschaft zu den zwei Brüdern, die sich gewiss auf Hadmars Seite schlagen würden.

Kaum noch gelang es dem Jäger, seine kühle Fassade aufrecht zu erhalten, als sie schlussendlich die weitläufige Eingangshalle der Burg durchquerten und nach etlichen Stufen das gemütliche Zimmer Hadmars erreichten.

Die Leibgarde verblieb auf dem Flur, indes der Fürst persönlich Levin stützte und ihn bis hin zu seinem eigenen, abgewetzten Sessel geleitete, der unter der Herrschaft eines jeden anderen schon lange entsorgt worden wäre.

Nebst Erhard, Laina und ihrer Tochter trat einzig noch Tankred mit ein. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, lehnte sich der Hauptmann an deren Rahmen, schweigsam wie immer, dafür umso aufmerksamer.

Zu Maros Überraschung trat Laina mit Lora an der Hand auf Hadmar zu, der gar eine Handbreit kleiner als die Jägerin war. Mehrfach setzte sie zu sprechen an, dann purzelten die Worte nur so aus ihr hervor.

„Vergebt mir, Fürst Hadmar. Ich war gezwungen, Euch zu hintergehen – Adalbert hatte meine Tochter und ..."

„Ich wusste nicht, dass du ein Kind hast!", fiel ihr der Mann überrascht ins Wort, das Mädchen voller Neugier beäugend. „Und so hat dich Adalbert erpresst?"

Stumm nickte Laina, einen Arm um Lora gelegt, die nun wieder ein wenig verschüchtert wirkte.

„Das ist schändlich", stellte Hadmar mit gerunzelter Stirn fest und fuhr sich durch die kurzen, braunen Locken. „Nun verstehe ich, dass dir deine Wahl blieb. Es ist vergeben, dafür kann ich dir nicht zürnen."

„Ich danke Euch", erwiderte die Jägerin sichtlich erleichtert und neigte gar den Kopf vor dem Fürsten. „Von nun an will ich gern wahrhaft in Euren Diensten arbeiten."

„Es wäre mir eine Freude", gab ihr schmächtiges Gegenüber schmunzelnd zurück. „Aber eins gleich zu Beginn – bitte, nenn mich Hadmar und lass die lästigen Förmlichkeiten beiseite, wie ich es dir damals bereits sagte."

Ein offenes Lächeln glitt über Lainas Lippen, dann streckte sie ihre Hand aus. „Abgemacht", meinte sie, als Hadmar sogleich zugriff.

„Es wird euch hier gut ergehen", fügte er dann mit einem freundlichen Blick auf Lora hinzu. „Hier in der Burg gibt es so einige Kinder, die sich auf neue Gesellschaft freuen!"

Damit war die kurze Schonfrist Maros auch schon vorbei, denn nun wandte sich sein Freund ihm zu, die hageren Züge erneut von Sorge erfüllt.

„Weißt du, was in Rabenstein geschehen ist?", kam Hadmar rasch auf den Punkt. „Du kannst nicht mehr dort gewesen sein, aber du musst wohl eine Ahnung haben."

Die Art, wie er dabei an seinem wallenden, braunen Bart zupfte, verriet dem Jäger, dass sein Freund längst eigene Schlüsse gezogen hatte und höchst verärgert war. Wie immer hielt er diesen zurück, doch auch die hellbraunen Augen funkelten heller als sonst, kaum konnte Maro dem anklagenden Blick standhalten.

„Ja, es muss der Seelenstein gewesen sein", gab er zu, denn eine Ausrede blieb ihm schon lange nicht mehr. „Aber ich musste ihn anbieten, ansonsten wäre mein Anliegen gescheitert! Und jeder hier ist mein Zeuge, dass ich keine Möglichkeit hatte, ihn wieder an mich zu nehmen – Fürst Adalbert hat mich sogleich überwältigen und in eine verfluchte Kiste sperren lassen, um mich dann in Windrath mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontieren zu lassen, um meine Ergebenheit zu prüfen!"

Unwillkürlich hatte Maro die Stimme erhoben, das Zittern seiner Glieder in Erinnerung an das hölzerne Grab musste er ebenso wenig vortäuschen.

Laina kam ihm unerwartet zur Hilfe. „Er sollte .. er sollte mein Fleisch und Blut beseitigen", stieß sie ein wenig umständlich hervor, wohl um Lora nicht erneut dem Schrecken auszusetzen, den sie hoffnungsvoll vielleicht nicht einmal bis zur Gänze begriffen hatte. „Stattdessen hat er Lora gerettet!"

Unter dem dankbaren Blick in seine Richtung wurde es Maro ein wenig heiß um den Kragen, denn Dankbarkeit hatte er gewiss kaum verdient. Hadmar indes nahm die Schilderung allen Wind aus den Segeln.

Deutlich mitgenommen starrte er den Jäger an, sämtlicher Ärger war aus seinem Blick gewichen. „Oh Maro, das tut mir leid", murmelte er. „Ich hätte wissen müssen, dass du alles nur Mögliche getan hast ..."

„Ich hätte den Seelenstein niemals von dir verlangen dürfen", erwiderte Maro leise. Die Schuld nagte sich schmerzhaft durch seinen Magen, ihm war, als müsse er sich übergeben. Wenn sie alle nur wüssten, dass er keinesfalls unbedacht gehandelt hatte ...

Doch den Mut, sich gänzlich zu offenbaren, brachte er auch jetzt nicht auf. „Gleich morgen werde ich mich auf den Weg machen", verkündete er stattdessen. „Ich finde heraus, was wirklich geschehen ist, und so denn möglich, bringe ich den Seelenstein zurück."

Hadmar runzelte die Stirn und bedachte den Jäger mit einem sorgenvollen Blick. „Das gefällt mir nicht. Ich ..."

„Maro wird nicht allein sein", fiel ihm Erhardt ins Wort. „Ich begleite ihn."

„Ja, rennt nur in euer Unglück", entfuhr es Levin scharf. Schwer atmend richtete er sich auf, die blaugrauen Augen verkniffen vor Ärger.

Woher dieser rührte, begriff Maro sofort – ausgeschlossen war es, dass der Verletzte sie begleitete. Doch gerade seinen Bruder alleine ziehen zu lassen, musste ihm unendlich schwer fallen.

Auch Hadmar wirkte weiterhin unzufrieden mit Maros Entscheidung. „Ich werde euch einen Trupp an Soldaten zur Verfügung stellen", meinte er, doch der Jäger winkte sogleich ab.

„Viel zu auffällig. Nein, auf keinen Fall. Aber so sehr ich dein Angebot auch schätze", wandte er sich an Erhardt, „würde ich doch lieber alleine gehen. Levin hat Recht – es könnte wahrhaft gefährlich werden. Ich allein werde für meinen Fehler geradestehen."

„Netter Versuch", brummte Erhardt. „Ich für meinen Teil ziehe morgen gen Rabenstein, es ist deine Entscheidung, ob du dich mir anschließt oder nicht."

Jegliche Diskussion, so wusste Maro, konnte er sich fortan sparen. Dickköpfig waren die zwei Brüder schon immer gewesen, darum gab auch Levin noch lange nicht auf.

„Wartet ein paar Tage, dann bin ich mit von der Partie", meinte er und stemmte sich in die Höhe. „Zu dritt lässt es sich weitaus besser aufeinander achtgeben!"

Sowohl Hadmar als auch Laina hatten einen Schritt auf ihn zugetan, als fürchteten sie, der Mann könne jeden Moment seiner Schwäche erliegen. Doch Levin schnaubte nur aufgebracht, dann trat er sicheren Schritts auf seinen älteren Bruder zu.

„Es hat dir seit jeher Unglück gebracht, ohne mich aufzubrechen, erinnerst du dich?", ging er Erhardt an, der jedoch kopfschüttelnd zurückwich.

„Das kommt nicht in Frage", knurrte er, die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. „Bis du wieder auf den Beinen bist, ist es vielleicht zu spät. Und auch zu zweit kann man hervorragend aufeinander achtgeben."

Maro hatte bereits bemerkt, dass Laina mit sich rang, mal ihre Tochter, dann wieder die Männer voller Sorge betrachtend. „Glaubt mir, ich würde mich sofort anschließen, aber Lora ... Ich habe sie doch gerade erst zurückbekommen."

Ihr Bedauern war keinesfalls aufgesetzt, so der Jäger sie inzwischen einzuschätzen glaubte. Ihr entschuldigender Blick galt gerade Levin, der als erster eine Antwort parat hatte.

„Nein, das erwartet auch niemand von dir! Wenn diese zwei Narren gehen wollen, bitteschön, aber deine Tochter hat es wirklich verdient, dass du bei ihr bleibst."

„Wir machen das schon", fügte Maro hinzu. „Und wir werden vorsichtig sein."

„Bitte", entfuhr es Hadmar. „Der Seelenstein ist nicht euer Leben wert – geht keine unnötigen Gewagtheiten ein!"

Damit war es endgültig entschieden. Schweigen senkte sich über des Fürsten gemütliches Zimmer, bis plötzlich Tankred, zuvor nur still lauschend, das Wort ergriff.

„Auch ich werde mich morgen aufmachen, Soldat hin oder her."


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