#65 - Kaninchen mit Selbstbewusstseins-Boost
„Du siehst aus wie ein hypnotisiertes Kaninchen."
Auf diesen qualifizierten Kommentar meines Schwagers-Oder-So gab ich keine Antwort. Wie auch, ich war ja hypnotisiert und schielte durchgehend auf mein Handy, während ich meinen Koffer auspackte.
Ich hatte vorhin den Schlüssel zu meinem Apartment bekommen, das man mir stellte, während wir den Film drehten. Es war in der Nähe der Filmstudios, sodass mein Weg nicht sonderlich weit zu den Dreharbeiten war. Fand ich super, dann musste ich nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehen, weil ich erst einmal noch eine Stunde zum Dreh fahren musste.
Nicht dass ich das schon bei anderen Projekten hatte. Nö nö.
„Wie lang ist es her?", erkundigte Harry sich breit grinsend.
Ich warf ein Paar Socken nach ihm.
„Sieben Minuten."
„Oh mein Gott!" Theatralisch griff er sich ans Herz. „Zwei Minuten über der Zeit! Wie kann er nur! Mach sofort Schluss mit ihm!"
Anstatt einer Antwort warf ich noch ein Sockenpaar nach ihm, allerdings kam eine Hand mit perfekten schwarzen Fingernägeln dazwischen, bevor die Socken Harry am Kopf treffen konnten, und fingen sie gekonnt auf.
„Hauptsache, er ruft an und Jana kommt mal wieder unter von ihrer Palme", murmelte Sam und schmiss das Sockenpaar gekonnt in das unterste Fach des Schrankes. „Ist ja schon schlimm genug, dass er nicht hier ist und erst morgen wieder nach LA kommt."
Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. Noch mehr konnte ich die Nerven eh nicht verlieren, deswegen ließ dieser Seitenhieb meiner Cousine mich vollkommen kalt.
Ich war schon dabei, zu hyperventilieren und mir alle Szenarien auszumalen, wieso er nicht anrief. Vielleicht war Sierra zurückgekehrt oder er hatte eine andere kennengelernt oder die Bedienung im Restaurant war so nett oder die Dame am Empfang ihres Hotels oder die ... –
Bzzz.
Bzzz.
„Na Gott sei Dank!"
Mich interessierte nicht einmal, von wem der sarkastische Ausruf kam – ich war samt Handy schon aus dem Zimmer gefegt und nahm den FaceTime-Anruf an, während ich die Balkontür noch hinter mir zuzog.
„Hi", keuchte ich ein wenig atemlos – und ciaokakao, ich schmolz zu einem Pfützchen zusammen.
Da saß er. Mitten auf meinem Display. – Öh ja, auf der anderen Seite der Leitung, ihr wisst schon.
Aber da saß Luke und sah mich an. Mit einem Lächeln, das sämtlichen Sternen das Leuchten nahm. Ein Lächeln, das sie wie kleine mickrige Ein-Euro-Neon-Sterne aussehen ließ und wahrscheinlich selbst die Sonne vor Neid erblassen lassen würde.
„Hey love", begrüßte er mich leise und die Schmetterlinge in meinem Bauch ... ich wusste nicht, was mit ihnen passierte. Tanzten sie oder erstarrten sie vor lauter Glück und Liebe? Kein Plan. Egal. Er sah mich an. Alles, was er ansah, war ich.
Naja, oder auch nicht, denn jetzt sah er auf, als ich Michaels Stimme im Hintergrund hörte: „Luke, kommst du? Du musst den Refrain bitte nochmal singen!"
„Oh, störe ich?", fragte ich verhalten, und da hatten die Schmetterlinge schon einen Hustenanfall bekommen und wusste nicht mehr, wie man flatterte und das flaue Gefühl in meinem Magen verursachte.
„Nein nein, natürlich nicht", antwortete er, immer noch lächelnd.
Erst da fiel mir auf, dass er ziemlich müde und zermartert aussah.
„Hey, ist bei dir alles in Ordnung?", erkundigte ich mich besorgt mit gerunzelter Stirn, während ich sein Gesicht ganz genau studierte.
„Jaja, alles gut, keine Sorge. Bin nur müde, hab einfach zu wenig Schlaf gekriegt in den letzten Nächten", gab er zurück und zwinkerte mir einmal zu, sodass ich natürlich prompt rot wurde.
„Aber letzte Nacht war ich nicht Schuld, dass du zu wenig Schlaf gekriegt hast", lenkte ich von mir ab und er nickte.
„Stimmt", seufzte er. „Wir haben bis morgens um fünf im Studio gesessen–"
„Um fünf!?"
„– und waren um neun dann wieder im Studio."
Mit leicht geöffnetem Mund starrte ich ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen, der wie mein ehemaliger Nachbar Korbinian aussah.
„Fuck", war alles, was mir dazu einfiel.
Doch Luke tat das Ganze mit einem Schulterzucken ab. „Das ist es das wert."
„Was ist es wert?", hakte ich verwirrt nach, doch bevor er mir eine Antwort geben konnte, erklang wieder eine Stimme – diesmal Ashton: „Luke, bitte komm endlich!"
„Los, Mister Front Singer wird verlangt", sagte ich lächelnd.
„Sorry, dass ich nur so wenig Zeit habe", seufzte er, „aber morgen bin ich wieder da. Da ist ja abends die Party, richtig?"
„Ja, stimmt. Die Opening Party der Dreharbeiten." Ich hielt inne, dann leuchtete mein Gesicht auf. „Warte, seid ihr auch eingeladen?!"
„Luke!"
„Was frage ich eigentlich so blöd", schob ich hinterher, bevor Luke etwas erwidern konnte. „Natürlich seid ihr dabei, schließlich steuert ihr den Titelsong zum Film bei."
„Hemmings!!"
Ups, jetzt klang sogar Calum genervt, und das wollte ich jetzt wirklich nicht riskieren.
„Ich denke, dass das heute noch länger dauert. Wir sehen uns also morgen, baby, alright?"
„Yes", war alles, was ich nach diesem Wort herausbrachte, dann schluckte ich schwer und schob leise hinterher: „Ich vermisse dich."
„Ich dich auch." Lukes Stimme war genauso leise wie meine.
„Und das macht mir bisschen Angst", flüsterte ich, und Luke nickte schon, bevor ich diese Aussage überhaupt erklären konnte.
Er wusste, wie ich es meinte, weil er es genauso fühlte?
„Wenn ich dich nach einem Tag schon so vermisse", wisperte ich, „wie soll ich das denn dann mal ein bisschen länger schaffen, wenn ich arbeite und du auf Tour bist oder so..?"
„Lass uns da noch nicht drüber nachdenken, ich–"
„Jana, ist ja echt süß, dass ihr so aneinander klebt und so", Michaels Gesicht war aufgetaucht und Lukes Handy wackelte, als er es in die Hand nahm und Lukes Proteste ignorierte, „aber wir brauchen den boy jetzt wirklich. Bis morgen!"
Und da hatte Michael auch schon aufgelegt, ohne mir eine Chance zu geben, mich bei ihm geschweige denn bei Luke zu verabschieden.
Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln, auch wenn es mir doch gerade ein wenig das Herz angeknackst hatte.
„Sam?"
Ich hatte die Balkontür aufgestoßen und war wieder hineingefegt. Sam und ihr Göttergatte saßen nebeneinander auf der Couch und unterhielten sich (ich hätte an ihrer Stelle auch nicht meinen Koffer weiter ausgepackt, war ja meine Aufgabe).
„Wie hast du das überlebt?"
„Hä?"
„Wie hast du das überlebt ohne Harry? Anfangs? Frisch verliebt? Frisch zusammen und keine Zeit miteinander verbringend?", stöpselte ich meine Gedankenfetzen heraus.
Harry sah mit großen Augen zwischen uns hin und her, ohne etwas zu verstehen – ich hatte Deutsch gesprochen. Er musste ja nicht alles wissen, pfff.
„Ich bin am Tag ungefähr dreißigmal innerlich gestorben", gab Sam trocken zurück. „Bis es nur noch neunundzwanzigmal waren. Und dann nur noch achtundzwanzig. Bis ich damit leben konnte, weil mir einfach keine andere Möglichkeit blieb."
Das machte es jetzt auch nicht einfacher, aber gut. Ich hatte nach ihrer Erfahrung gefragt und hatte eine präzise ausformulierte, wie immer unverblümte Antwort bekommen.
Zufrieden war ich mit der Antwort – aber nicht zufrieden mit der Tatsache, dass ich nun doch noch weiterleiden musste!?
~
~
~
Und das Leid würde so schnell nicht vorbei sein, Freunde.
Das Schicksal hasste mich schon ein bisschen über dem Durchschnitt, wenn man mich mal nach meiner absolut objektiven Meinung fragte.
Wie Luke schon angekündigt hatte, hörten wir uns nicht mehr. Er schrieb mir zwar nachts eine süße Nachricht, die ich am nächsten Morgen las, aber mehr nicht.
Gut gelaunt war ich trotzdem, denn ich freute mich auf das Table Reading von meinem ersten, richtige Film, in dem ich außerdem die Hauptrolle spielte. Klar machte ich mir Druck ohne Ende, aber ich fühlte mich sicher. Ich hatte Harry, der rund um die Uhr da sein würde, der mich kannte, der mich verstand, der wusste, wie ich tickte. Ich wusste, ich musste abliefern, aber das würde ich schon schaffen.
Fragt mich nicht, woher dieser Selbstbewusstseins-Boost auf einmal kam – aber so lange er anhielt, würde ich ihn schamlos ausnutzen.
Manche Dinge haben ja eh kurze Beine, nicht nur Lügen, sondern auch mein Selbstbewusstsein.
Das Table Reading war super. Ohne Witz. Es machte so Spaß und es war einfach so cool, den gesamten Film einmal mit dem Cast durchzulesen. Die Sätze von den Stimmen gesprochen zu hören, die die Charaktere nun hatten.
In der Mittagspause wurde Essen geliefert und wir mampften fröhlich vor uns hin.
Ich saß zwischen Daria, einer Kamerafrau, und Quila, die eine Mitschülerin von meinem Charakter spielte. Quila sah wunderschön aus, sie hatte vietnamesische Wurzeln – wie Sierra – und hatte total lange schwarze Haare – wie Sierra – und war außerdem zuckersüß – wie Sierra.
Ob mir das ein Schnaufen entlockte?
Ob ich mich dann sofort dämlich fühlte, weil ich alles mit der Exfreundin meines Freundes verband?
Ob ich mich im nächsten Moment fragte, ob ich wirklich richtig gehört hatte, was sie gerade zu mir gesagt hatte?
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