#58 - Das steht so im Skript

„Okay", gab er schlicht zurück und setzte sich auf die breite, schicke, schwarze Couch. Oder welche Farbe sie auch immer hatte, ich konnte es in dieser schummrigen Dunkelheit nicht wirklich erkennen. War ja auch egal. Er saß dort. Und sah perfekt aus wie immer in seinem weißen T-Shirt und der schwarzen Hose.

Luke strich sich eine seiner Haarsträhnen aus der Stirn und sah zu mir hinüber.

Um noch ein wenig Zeit zu schinden und den Mut zu finden, ging ich langsam zu ihm hinüber. Ich blieb zwei Meter von ihm entfernt vor ihm stehen. In meinen Armen trug ich immer noch meine Lederjacke, die ich ja gerade erst ausgezogen hatte.

Er wartete.

Und während er wartete, durchbohrte mich der Blick seiner hellblauen Augen.

Ich atmete tief durch und sah ihn mit ebenso festem Blick an.

„Es tut mir leid."

Stille.

„Und dafür hast du jetzt so viel Mumm gebraucht?", fragte er tonlos und mein Mund klappte auf wie bei einem Tretmülleimer, dem man auf dieses kleine Ding getreten war.

Nur warf man bei mir keinen Müll rein, sondern bei mir kam Müll aus meinem Mund raus.

Oder auch nicht.

Weil ich schon wieder eine halbe Panikattacke hatte und keinen Ton herausbekam.

„Hey Jana. Setz dich doch erstmal hier her."

Lukes Stimme war sanft.

Ihm war mein abgehackter Atem und meine zitternden Arme – nicht nur Hände, Arme! – nicht entgangen.

Und weil Luke einfach Luke und perfekt und amazing war, war er fürsorglich, stand auf und schob mich sanft zur Couch hinüber.

Atmeeeeen.

Ich brauchte ein paar Augenblicke, dann ging es mir wieder besser.

„Danke", flüsterte ich einfach nur, und ich sah, wie er nickte. Selbst in diesem kleinen Wort hatte er all meine Dankbarkeit verstanden.

Und meine Scham.

„Das muss dir nicht peinlich sein, Jana, das weißt du doch", murmelte Luke, der sich neben mich gesetzt hatte.

Ungefähr ein halber Meter trennte unsere Beine voneinander. Viel zu viel Platz. Und gleichzeitig nicht genug Platz.

„Okay, pass auf."

Ich hatte meine Stimme wiedergefunden, hatte meinen Mut aufgetrieben – und eine gehörige Portion Scheißdrauf entwickelt, die ich gerade in diesem Moment nötig hatte.

Ich drehte mich zu Luke, sodass ich im 90-Grad-Winkel zu ihm saß. Das eine Bein hatte ich untergeschlagen und mein Fuß baumelte über den Rand des Sofas, damit ich ihn überhaupt so direkt ansehen konnte.

Schnell sprach ich weiter, bevor das Universum mir schon wieder diese Situation entzog.

„Ich habe keine Ahnung mehr von irgendwas. Ich habe keine Ahnung, wer ich wirklich bin oder was ich im Leben erreichen will. Ich weiß nicht einmal, wo ich mich zu Hause fühle und wo ich hingehöre. Aber eins weiß ich. Und zwar, dass ich damals den größten Fehler meines Lebens gemacht habe, als ich dich ..."

Da stockte ich.

Ich sah hinunter auf meine Finger, die sich in meinem Schoß ineinander gekrallt hatten.

„Soll ich dir soufflieren?", bot Luke mir an. „Das macht man doch so bei Theaterstücken, wenn jemand einen Texthänger hat, oder, Miss Actress?"

Stumm nickte ich.

„Dann würde ich sagen, im Skript stand: Und zwar, dass ich damals den größten Fehler meines Lebens gemacht habe, als ich dich von mir gestoßen und aus meinem Leben verbannt habe. Kommt das hin?"

Lukes Stimme war ruhig. Sie war nicht auf diese gefährliche, schleichende Art ruhig, sie war einfach ... objektiv. So kam sie zumindest für mich rüber.

Ich konnte auch in seinen Augen nicht lesen, was er dachte. Er hatte einen perfekten Vorhang vor seine Emotionen gehängt, sodass er mich wiederum total in der Luft hängen ließ.

Ich musste aber weitermachen. Ich schuldete es nicht nur ihm, ich schuldete es vor allem der sechzehnjährigen Jana, damit die fast zweiundzwanzigjährige Jana mal das Trauma verarbeiten und den Schmerz heilen konnte.

So.

Don't stop.

(Yes, 5SOS-pun intended, thank you very much.)

„Ja. Ja, genau so sollte mein Satz enden, Luke", bestätigte ich und schluckte schwer. „Meine Güte, ich war so jung, Luke! Ich war so jung und so dämlich und so panisch!"

Vor lauter Aufregung sprang ich von der Couch auf, hatte meine Lederjacke über die Armlehne geschmissen und tigerte nun vor Luke auf und ab. Er sah mir stumm hinterher und gab mir Zeit, meine Gedanken zu ordnen.

„Das war damals einfach zu früh", fuhr ich fort. Ich sprach mehr zu mir selbst als zu ihm. Ich starrte vor meinen hin- und herlaufenden Füßen auf den schicken Holzboden und blinzelte kaum, weil ich so sehr in Gedanken und Erinnerungen war. „Ich hatte Angst vor diesen Gefühlen, die ich für dich in so kurzer Zeit entwickelt hatte, dass ich in meiner Unreife das Einzige gemacht habe, was ich am besten konnte: Weglaufen."

Ich blieb stehen, sah ihn an und verzog das Gesicht.

„Ehrlich gesagt kann ich das heute immer noch sehr gut", gab ich zu und glättete dann meine Gesichtszüge, als meine Gedanken wieder zum eigentlichen Thema zurückkehrten.

„Ich bin einfach ein hoffnungsloser Fall", erklärte ich ihm.

„Gewesen. – Naja, eigentlich bin ich es immer noch."

Immer noch hörte Luke mir stumm zu. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass durch sein Schweigen überhaupt mein Redeschwall weiterging. Nur er allein hatte es geschafft, dass ich endlich alles aussprach. Denn wenn er mich auch nur einmal unterbrochen hätte, hätte ich den Pfad meiner Gedanken, Emotionen und Erinnerungen verloren und hätte niemals all das gesagt, was ich ihm sagte.

Bevor ich weitersprach, stieß ich einen tiefen Seufzer aus, hob die Schultern und ließ sie theatralisch wieder sinken.

„Mein Gott, hätten wir uns nur ein oder zwei Jahre später getroffen!", grummelte ich und kratzte mich an der Stirn. „Ich wäre ein komplett anderer Mensch gewesen."

„Wieso?"

Die erste Frage.

„Weil ich mich in der Zeit so weiterentwickelt habe. Dank Sam. Ich war damals viel unterwegs, bin in den Ferien immer dorthin geflogen, wo sie war, und habe einfach die Selbstständigkeit eines jungen erwachsenen Menschen gelernt. Hätte ich das alles niemals erlebt, hätte ich niemals die Eier gehabt, die Schule abzubrechen."

„Du hast die Schule abgebrochen?"

Mensch, Luke, jetzt habe ich dich gerade eben noch so gelobt, dass du mich nicht unterbrichst, und jetzt unterbrichst du mich durchgehend!!

„Unwichtig", gab ich zurück und wedelte mit der Hand. „Mein Punkt ist, dass ich nicht bereit für das war." Ich deutete mit dem Zeigefinger zwischen ihm und mir hin und her. „Für dich. Und das habe ich jahrelang mit mir herumgetragen. – Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich 5 Seconds Of Summer komplett umgangen habe."

„Yep."

Er klang nicht beleidigt oder so. Er klang immer noch ruhig und kontrolliert. Ich verbot meinem Unterbewusstsein nebenbei, sich daran aufzuhängen, denn dafür hatten wir gerade keine Zeit. Ich würde seine Gedanken und seine Reaktion schon noch früh genug zu hören bekommen.

„Irgendwann habe ich geschafft, dich so weit zu vergessen, dass ich wieder anderen Typen eine Chance geben konnte." Meine Gedanken waren inzwischen doch ein wenig verworren, sodass ich innehielt.

„Ich habe das mit uns nie verarbeitet. Ich habe es nur so lange von mir weg geschoben, bis es quasi nicht mehr existiert hat."

Ich blieb wieder stehen und sah ihn an.

„Und dann tauchst du auf einmal wieder in meinem Leben auf." Ich lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Da hat das Universum wieder richtig Shit gemacht. Erst höre ich euren Song unfreiwillig, und dann eröffnet Sam mir, dass ihr zu ihrer Hochzeit eingeladen seid."

Luke zog ein wenig die Augenbrauen zusammen, da er der Aussage mit dem Song natürlich nicht folgen konnte. Es wusste ja niemand, dass ich heulend meinen Burrito auf meinem Balkon in LA gegessen und dabei Lie To Me das erste Mal gehört hatte.

Unwichtig.

Unwichtig, unwichtig, unwichtig.

„Und daaann stehst du vor miiiiir", jammerte ich und vergrub das Gesicht in den Händen. „Und ich hatte eigentlich einen Freund und du Sierra und alles war so schlimm und dann betrügt der Typ mich und du bist weg und ich seh dich wieder und du siehst mich einfach an wie ... genauso, wie du mich gerade ansiehst."

Diese Augen.

Dieses Verständnis. Diese Geborgenheit, die sie ausstrahlten.

Endlich zeigte er Emotionen. Endlich.

Langsam ging ich wieder die paar Schritte zur Couch und ließ mich darauf sinken. Weiterhin darauf bedacht, einen gehörigen Abstand zwischen uns zu lassen. Wenn er mir zu nah war, würde mein Spatzenhirn nicht mehr funktionieren, das war so klar wie das Amen in der Kirche und die Hausaufgaben in der Schule.

„Meine Fresse, und ich bin einfach so in dich verliebt, dass es nicht mehr lustig ist", sagte ich tonlos, während ich hinunter auf meine Schuhe starrte.

Stille.

Absolute Stille für mehrere Herzschläge.

Ich drehte den Kopf in Lukes Richtung – und zog erschrocken die Luft ein, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.

Und die Tränen, die in seinen Augen schwammen.

Und das leichte Lächeln, das an einem seiner Mundwinkel zupfte.

„Hemmings. Ich habe keinen Bock mehr auf Missverständnisse", erklärte ich ihm und verzog das Gesicht zu einer finsteren Miene.

Ich hatte es satt.

Ich hatte keinen Bock mehr.

„Bist du noch mit Sierra zusammen?"

„Nein."

„Okay."

Ich nickte leicht und versuchte, ein Pokerface zu behalten. Und mein Herz davon abzuhalten, aus meiner Brust zu springen und sich fünftausendmal zu überschlagen.

„Bist du noch mit Pierre zusammen?"

„Nein."

„Okay."

„Okay."

„Habe ich das vorhin richtig verstanden, dass er dich betrogen hat?"

„Ja. Wusstest du das noch nicht?"

„Nein."

„Okay."

Kurze Stille.

Ohne, dass wir es gemerkt hatten, hatten wir uns ein wenig näher zueinander herübergelehnt.

Weit war Lukes Gesicht nicht mehr von meinem entfernt.

„Magst du mich?", fragte ich leise, schon beinahe so leise, dass man meine Stimme nicht mehr hören konnte, aber schien mich verstanden zu haben.

„Nein."

„Okay."

„Ich liebe dich."

Jetzt musste ich grinsen.

„Du Spinner."

„Das steht so im Skript, ich kann gar nichts dafür", gab Luke zurück und zuckte gespielt unschuldig mit den Schultern.

„In welchem Skript?"

„In dem vom Universum. Davon sprichst du doch immer."

Ich kniff die Augen leicht zusammen, doch das Grinsen zog sich beinahe von einem zum anderen Ohr über mein Gesicht.

„Spinner", wiederholte ich.

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