#56 - Mit dem UFO

„Du hättest es mir sagen können!"

Ich machte auf den Fersen mitten im Flur kehrt und kam zurück in die Küche geschlittert.

„Ich bin nicht dafür zuständig, dass du dein Leben auf die Reihe kriegst", erklärte Sam mir. Wieder absolut tonlos.

Gott, das war so beängstigend.

„Aber ..."

„Jana. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich dir nicht helfen können. Ich weiß nicht, was du fühlst. Also nicht nur, was du Luke gegenüber fühlst, sondern was du auch sonst so für Emotionen fühlst. Es kann niemand in dich reingucken, deswegen bist du diejenige, die für dein Leben zuständig ist. Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich kann. Nicht. In. Dich. Reinschauen."

Sie wiederholte den letzten Satz, als würde sie unter Wasser sprechen und sich besonders deutlich ausdrücken wollen.

Und erst jetzt kapierte ich, was sie damit meinte. Natürlich. Niemand konnte mir helfen, denn Emotionen fühlte man nur alleine. Selbst wenn man sie in Worte fasste, versuchte, sie schwarz auf weiß auf Papier festzuhalten, niemand würde jemals zu einhundert Prozent nachvollziehen können, welche Mischung an Emotionen man fühlte.

Und dafür musste man sich nicht schämen. Davor musste man keine Angst haben. Denn das war das, was einen ausmachte. Dass war das, was mich ausmachte. Niemand verstand, welche Emotionen mich durchfluteten, wenn Luke mich anblickte. Welche Emotionen meinen Atem hatten stocken lassen, als ich wenige Sekunden vor der Trauung zurück ins Haus gelaufen war, um Rafaels Schmusetüchlein zu holen. Ich allein war die Herrin meines Geistes, meiner Gefühle, meines Körpers.

„Jana?"

„Warte", hauchte ich, ohne zu blinzeln, „ich habe gerade die Erleuchtung des Jahres."

„Okay. Dann leuchte mal schnell fertig und dann los", kommentierte Sam sarkastisch wie eh und je.

Damit holte sie mich auch schon auf den Boden der Realität zurück.

„So. Und jetzt?"

Die Frage kam von Harry, nicht von Sam. Er blickte mich mit seinen großen Augen genauso erwartungsvoll an wie Sam mich ansah.

„Jetzt ... Kannst du mir bitte Lukes Handynummer geben?", fragte ich Harry atemlos, denn mein Herz fing schon wieder an, wie verrückt zu schlagen, als ich nur an ihn dachte.

„Mamma mia, ich dachte schon, das passiert nie", grunzte Sam und verdrehte die Augen.

Grinsend sah Harry zu seiner Göttergattin hinüber und Sam erwiderte seinen Blick mit schelmisch glitzernden Augen.

Grün traf grün.

„Jetzt mach schon, Harold!", forderte ich ihn ungeduldig auf und klopfte mit dem Finger gegen sein Handy, das auf dem Küchentisch lag.

Okay.

Nummer eingespeichert. Viermal abgecheckt, ob ich mich nicht vertippt habe. – Hatte ich natürlich ganz am Anfang, bis Sam mir seufzend das Handy abgenommen und die Nummer richtig eingespeichert hatte.

„Meint ihr, er ist noch im Club?", fragte ich ganz geschäftig.

„Nein."

„Nein?" Ich sah auf.

„Wir sind gleichzeitig gegangen", erklärte Harry mir.

„Und wo ist diese australische Band jetzt?"

„In ihrem Hotel."

„Und wo?"

Harry nannte mir den Namen des Hotels und Lukes Zimmernummer.

Erst einmal fiel mir die Kinnlade hinunter und die Fragen verknoteten sich in meinen Gehirnwindungen.

„Wieso kennst ... was heißt ... warum ... woher ... hä?!"

„Jap, das fasst den Abend ganz gut zusammen", kommentierte Sam trocken und klopfte mir auf den unteren Rücken, damit ich mich in Bewegung setzte. „Jetzt bringe ich dich dorthin, sonst komme ich nämlich nie ins Bett."

„Du bringst mich hin?"

„Ja."

„Wie?"

„Mit dem UFO", antwortete Sam seufzend. Ich war ihr hinaus in den Flur gefolgt, wo sie gerade in ihre Vans schlüpfte, dann sah sie mich wieder an. „Mit dem Auto, Jana, wie denn sonst."

„Bist du fahrtüchtig?", fragte ich – denn ich war es eindeutig nicht.

„Ja. Ich habe nichts getrunken", sagte sie und griff nach dem Autoschlüssel.

„So ein Quatsch", widersprach ich mit gerunzelter Stirn, „du hast doch mitgetrunken in dem Club!"

„Nein."

„Mit diesem Tall Blondie und seinen Freunden?!"

„Nope. Du warst so sehr mit ihm beschäftigt, dass du nicht mitgekriegt hast, dass ich nicht einen Tropfen Alkohol getrunken habe", erklärte Sam mir mit einem halben Grinsen im Gesicht.

„Echt jetzt? Wieso nicht?", fragte ich, und dann zog ich die Luft hektisch ein. „BIST DU SCHWANGER?!"

„Nein man", entgegnete Sam seufzend. Sie bugsierte mich zur Wohnungstür hinaus, natürlich nicht ohne Harry vorher noch einen Abschiedskuss zu geben. „Ich hab mein Tracking an, du kannst also gucken, wo ich bin, baby – erstens nehme ich die Pille und zweitens habe ich vorgestern meine Tage gekriegt."

„Schade", war alles, was mir dazu einfiel.

„Honey, ich bin knapp 25 Jahre alt, ich hab ja wohl noch ein wenig Zeit", sagte Sam, und damit war das Thema erledigt.

„Jajajaja, ist ja gut, jetzt lass uns losfahren!!"

Auf einmal war ich wieder ganz bei Luke in Gedanken und wollte so schnell es ging zu ihm.

Ich lief auf das schnieke schwarze Auto zu, kaum dass die Fahrstuhltür sich auch nur ein Stück geöffnet hatte, und riss die Beifahrertür auf.

„Jana."

„Was?"

„Das ist die Fahrerseite."

„Was?"

„Das ist die Fahrerseite", wiederholte Sam lachend. „Wir sind nicht mehr in England."

„Oh. Wenn ich sonst mit dir Auto fahre, ist das immer in London...!", verteidigte ich mich, doch kaum dass wir beide im Auto saßen, fingen wir schallend an zu lachen.

Mir tat schon der Bauch weh und die Tränen liefen mir über die Wangen, als Sam die Rampe aus der Tiefgarage nach oben fuhr.

„Okay", japste sie und versuchte, wieder zu atmen. Sie musste sich schließlich auf den nächtlichen New Yorker Verkehr konzentrieren. „Rufst du ihn an und sagst ihm, dass du kommst?"

„Nein."

„Wieso nicht?", fragte Sam erstaunt.

„Ich traue mich nicht", gab ich kleinlaut zu und rechnete schon mit dem nächsten Augenrollen, doch Sam ließ ein kleines Lachen verlauten.

„Wieso wundert mich das grad herzlich wenig", murmelte sie, dann streckte sie die Hand aus und griff nach meiner. Sie drückte meine Finger leicht, dann sagte sie: „Sich jemandem zu öffnen, ist nie einfach, Jana. Da muss man viel Mut mit sich bringen. Ich verstehe dich bestens, dass du Angst vor Zurückweisung hast. Ich kann dir nur raten – tu es. Sag es ihm. Und wenn er dich zurückweist" – daran wollte ich gar nicht denken, aber ich unterbrach sie nicht – „dann weißt du wenigstens Bescheid." Ihre Stimme war ganz leise und sanft. „Dann tut es scheißweh und es wird ewig dauern, bis du dich davon erholst, aber wenigstens bist du dann nicht mehr ahnungslos und fragst dich immer, was wäre gewesen wenn."

Sie drückte meine Finger wieder.

„Das wird schon. Mach dir da mal keine Sorgen."

„Deine Worte in des Universums Ohren", murmelte ich in meiner typischen Art, schmerzhafte und ernste Angelegenheiten ins Lächerliche zu ziehen.

„Sag mal – woher weiß Harry jetzt eigentlich Lukes Hotelzimmernummer?", wechselte ich abrupt das Thema und Sam fing wieder an zu lachen, da sie wohl damit nicht gerechnet hatte.

„Harry hat sie vorhin abgeholt, beziehungsweise war bei den Jungs im Hotel. Und damit man nach oben fahren kann, braucht man die Zimmernummer und einen dreistelligen Code. Sonst bewegt sich der Fahrstuhl nicht", erklärte sie mir.

„Ah", machte ich.

Ich starrte hinunter auf mein Handy. Dort hatte ich die Nachricht geöffnet, die Harry mir vor zwei Minuten geschickt hatte.

Jetzt ergaben auch die sechs Zahlen Sinn. Die ersten drei waren die Zimmernummer, dann kam ein Leerzeichen, und dann kam der Code.

„Ist doch eigentlich ganz süß, wenn du ihn überrascht", gab Sam gerade von sich und zuckte mit den Schultern. „Eine Frau würde dich dafür killen, aber ein Mann kann das schon ab", fügte sie grinsend hinzu.

Ich wusste, dass sie mich beruhigen und zum Lachen bringen wollte, denn die Anspannung und die unfassbar riesige Angst – man konnte es eigentlich schon Panik nennen – standen mir ins Gesicht geschrieben.

Was, wenn er überhaupt keinen Bock mehr auf mich hatte?

Was, wenn er mich eigentlich inzwischen total scheiße fand?

Was, wenn ich echt nur ein Spiel für ihn war?

Was, wenn er ein Arsch geworden ist und es ihm Spaß gemacht hat, Sierra zu betrügen?

... halt. Er hat sie nicht betrogen. Er hat sie nicht betrogen, sie waren nicht mehr zusammen, erinnerte ich mich selbst.

Meine Fresse, war ich krank im Schädel. Ich konnte mir nicht einmal solche Sachen mehr merken. Es wurde Zeit, dass ich mal wieder an meiner mentalen Gesundheit arbeitete.

Sam hielt an.

OH GOTT, wir sind da!!

„Ich bleibe hier eine Viertelstunde stehen, und wenn du nicht wiederkommst, dann gehe ich von einer positiven Wendung aus und ich fahre heim, okay?", erklärte Sam mir und ich nickte stumm, ohne sie anzusehen.

„Hey. Jana. Sieh mich bitte an."

Ich gehorchte und blickte in die mir so unglaublich vertrauten, grünen Augen.

„Ich verspreche dir, dass alles gut wird. Es wird alles gut."

„Wieso bist du dir da so sicher?", flüsterte ich.

Ein Grinsen zupfte an Sams Mundwinkeln. Oh oh.

„Du weißt schon wieder mehr, als du zugibst", schlussfolgerte ich und musste automatisch auch grinsen.

Fuck, mein Herz würde gleich den Geist aufgeben, so schnell galoppierte es durch meinen Brustkorb.

„Jetzt geh schon."

„Was weißt du? Hat er Harry was erzählt? Er hat Harry was erzählt!", bohrte ich aufgeregt nach, doch Sam schüttelte leicht den Kopf und lachte.

„Ich sage dir absolut nichts. Das kann Hemmings schön selbst machen."

In diesem Moment fing mein Handy, das auf meinem Schoß lag, an zu klingeln.

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