#5 - (Don't) Lie To Me

Jeder normale Mensch wäre jetzt wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, hätte sein Handy panisch so lange bearbeitet, bis es stumm war und der Radiosender ausgeschaltet.

Panisch war ich auch.

Nur den Rest tat ich nicht.

Scheiße. Vier verdammte Jahre hatte ich es geschafft, einen kompletten Bogen um ihn zu machen. Vier Jahre! Sogar mehr als vier Jahre! Ohne Unterbrechung!

Und jetzt erzählte dieser Typ aus diesem kalifornischen Radiosender mir, dass er jetzt Lie To Me von ... oh Gott, ich brachte den Namen ihrer Band nicht einmal über die Lippen.

Dass er jetzt diesen Song spielen würde.

Ich hatte kapituliert und kauerte zusammengesunken auf meinem Balkonstuhl.

„Viel Spaß mit Lie To Me von 5 Seconds of Summer!", frohlockte der Radio-Typ und ich zuckte zusammen, als die ersten Töne der Gitarre zu hören waren.

Das klang ja mal ganz anders als früher, schoss mir unwillkürlich durch den Kopf. – Naja, ich hatte ja auch seit knapp fünf Jahren nichts mehr von ihnen angehört...

Und da fing er an zu singen.

Kaum dass ich seine Stimme hörte, schloss ich die Augen.

Es schmerzte. Es schmerzte physisch in meiner Brust, als ich den Songtext hörte.

Flashing back to New York City, changing flights so you stay with me. Remember thinking that I got this right", sang Luke.

New York City. Das erste Mal, als wir uns getroffen hatten beim Stars4Hope-Konzert, wo Sam getanzt hatte.

Und ja, ich dachte auch, dass das klappte.

Now I wish we never met 'cause you're too hard to forget. While I'm cleaning up your mess ..."

„Oh man, hör auf!", rief ich auf einmal laut und starrte mein Handy wütend an.

I know that you don't, but if I ask you if you love me, I hope you li-lii-li-lie lie to me", klang weiterhin unbarmherzig aus dem kleinen Lautsprecher, der auf dem Tisch stand.

„Im Ernst, Hemmings? Im Ernst? Du hast alles in Frage gestellt und alles in einen Song gepackt und so und ich höre das erst jetzt?", fragte ich zornig mein Handy und hätte es am liebsten über das Geländer des Balkons nach unten auf die Straße geworfen.

Endlich durchfuhr mich ein Ruck und ich schloss kurzerhand diese blöde Radio-App.

Die Stille legte sich schwer auf meine Ohren und alles, was ich hörte, war mein lautes Atmen, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen.

Ich hatte es. so. gut. hinbekommen, dass ich nicht mehr jede Nacht von ihm träumte. Dass ich nicht mehr von meinen Schuldgefühlen gefressen wurde. Endlich hatte ich es geschafft, dass ich den größten Fehler meines Lebens vergaß – und dann tauchte dieser blöde Song auf und machte alles wieder kaputt?!

Nein, Das würde ich nicht zulassen. Auf keinen Fall.

Wütend starrte ich mein Handy an, als wäre es alleine Schuld, dass ich gerade in die Vergangenheit katapultiert worden war.

Ich fischte es vom Tisch und schaltete irgendeine meiner Spotify-Playlists ein, nur damit irgendetwas lief, was mich nicht mehr an seine Stimme und an diese Melodie und an diesen Songtext und an überhaupt irgendwas denken ließ.

Mann, ich musste mit Sam reden! Ob sie den Song kannte?

Doch ich zögerte. Bevor ich ihren Chat antippte, drückte ich den Knopf an der Seite meines Handys und der Bildschirm wurde schwarz, als die Tastensperre aktiviert wurde.

Nein.

Ich wollte nicht mit Sam über ihn reden. Ich durfte mich jetzt nicht durcheinander bringen lassen. Jetzt hatte ich meine Unsicherheit doch gerade so gut im Griff gehabt, jetzt konnte nicht er wieder um die Ecke kommen und alles in Stücke reißen!

Wow, war mir jetzt schlecht. Panikattacken waren echt scheiße, Herrgott nochmal.

Für einen Moment starrte ich auf meinen Burrito, dann rollte ich ihn kurzerhand in die Alufolie ein, ging in die Wohnung und beförderte ihn in den Müll. Nach kurzem Zögern zog ich ihn wieder heraus – keine Sorge, mein Mülleimer ist ein ganz Lieber und Sauberer – und entschied mich dazu, dass ich mir durch diesen unschönen Vorfall nicht mein Essen versauen ließ.

Ja, genau das war es. Nur ein unschöner Vorfall.

Nichts weiter.

Morgen würde ich den Song schon wieder vergessen haben.

Und dass ich seinen Namen nach über vier Jahren das erste Mal wieder laut ausgesprochen gehört hatte.

Und dass ich seine Stimme gehört hatte und es sich so angefühlt hatte, als würde er direkt hier neben mir auf meinem Balkon sitzen und mich mit seinen blauen Augen ansehen und ...

Okay, STOPP, Jana.

Himmel nochmal!

Beherzt biss ich in den Burrito.

~

~

~

Wenn sie mich das noch einmal fragen würde, würde ich losschreien!

„Nein, ich fliege nicht nach München, Mama!", schnaufte ich genervt und verdrehte die Augen.

Seit über zwei Stunden gammelte ich am Gate herum und hatte noch mehr als zwei Stunden vor mir, bis ich endlich in den Flieger konnte.

Ich zerpflückte mein Schokocroissant mit meinen Fingern und musste wirklich aufpassen, dass ich nicht die Nerven verlor und das Ding durch die Gegend warf.

Ich hatte gerade eine wunderbare Schimpftirade über mich ergehen lassen müssen. Ja, da habt ihr richtig gehört. Eine Schimpftirade von meiner Frau Mutter. Ganz egal, dass ich 21 Jahre alt war und seit vier Jahren nicht mehr zu Hause wohnte, meine eigene Schauspielkarriere (mehr oder weniger gut) aufrecht erhielt, gerade in Amerika, also am anderen Ende der Welt, gelebt hatte – das hielt diese gute Frau nicht auf, mich trotzdem lautstark zusammenzustauchen, weil ich es wieder nicht geschafft hatte, mir eine große Rolle zu angeln und nun nach Hause geflogen kam.

„Ich fliege nach Hause, Mama. Nach Hause. Nach Berlin", erklärte ich ihr zum vierten Mal innerhalb anderthalb Minuten und ich massierte mir jetzt die Schläfe. (Dass ich mir dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Brösel meines Essens in die Haare schmierte, war mir herzlich schnuppe.)

„Dann fliegst du eben morgen nach München. Ist mir egal. Aber du kommst hierher", ordnete sie mir an und ich konnte quasi durchs Handy sehen, wie sie ihre Hand, die nicht das Handy hielt, in die Seite stemmte, und wie ihre hellblauen Augen, die die gleiche Farbe wie meine hatten, gefährlich funkelten. Früher hatte das noch eine gewaltige Wirkung bei mir gehabt.

Heute beeindruckte mich das aber herzlich wenig.

„Nö", gab ich zurück, „wenn, dann fliege ich nach London. Ciao, Mama, ich melde mich, wenn ich in Berlin bin."

„Du legst jetzt nicht auf, Jana!"

Wollte sie meine Nerven wirklich so austesten?!

„Doch, Mama, ich bin eh schon scheiße drauf", gab ich offen und direkt zu. „Da brauch ich nicht auch noch die ganzen verbalen Hiebe, die du mir gerade versetzt. Ich könnte stattdessen deine Unterstützung brauchen, denn ich sitze hier und würde am liebsten nur heulen", sagte ich und automatisch stiegen mir die Tränen in die Augen.

„Du weißt genau, dass du immer meine Unterstützung hast, Schatz", seufzte meine Mom und ja, da hatte sie Recht.

„Trotzdem werde ich jetzt auflegen", meinte ich stur, wie ich eben war, und tat dann auch genau das.

Manchmal war ich schon ein echtes Arschloch.

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