#42 - S.?

Er antwortete nicht, aber von mir abrücken tat er auch nicht.

Ganze vier Sekunden hielt ich es aus, dann schoss ich in die Höhe und starrte ihn in dem schummrigen Licht seiner Nachttischlampe an.

Gott, ich hatte zu viel Zeit an Filmsets verbracht, denn für eine Sekunde konnte ich nichts sagen, ich bewunderte einfach nur das Licht. Das warme Licht, das perfekt in einem Neunzig-Grad-Winkel auf sein Gesicht fiel und nur eine Hälfte ins Licht tauchte. Ein jeder Regisseur hätte vor Entzücken geseufzt, wie schön die Lichtsetzung war.

Ich hätte gerne vor Entzücken geseufzt, wie schön das Objekt in der perfekten Lichtsetzung war.

Aber gerade durchfluteten mich ganz andere Emotionen. Ich hatte seine Hand abgeschüttelt und starrte ihn verbissen an.

Wut war einfacher als Enttäuschung. Wegstoßen war einfacher als verarbeiten.

„Dir muss überhaupt nichts leid tun", erklärte ich ihm und meinte das auch so, „denn du hast nichts falsch gemacht. Wir wissen beide, dass ich schuld bin, und ich habe mich entschuldigt, wieso kannst du es dann einfach nicht lassen."

„Jana, ich –"

„Leg dich bitte einfach schlafen und lass mich in Ruhe, Luke", schnaufte ich.

Dann schien die gesamte Wut aus mir verpufft zu sein. Ich sackte ein wenig in mich zusammen und atmete tief durch.

Es tat mir wirklich leid. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen. Ich wünschte, wir wären damals richtig zusammen gekommen. Vielleicht würde dann auch schon ein Ring an meinem Finger stecken.

Aber nein, ich hatte alles kaputt machen müssen, bevor es jemals überhaupt gestartet war.

Luke starrte mich einfach nur aus großen Augen an. Er saß immer noch direkt vor mir. Direkt.

Natürlich sprang mein Blick zu seinen leicht geöffneten Lippen. Natürlich.

Okay, okay, okay, reiß dich zusammen, Jana.

Gerade in diesem Moment, in diesem beschissenen Moment in diesem beknackten Hotelzimmer in dieser blöden Stadt (eigentlich war New York nicht blöd, es war alles andere als blöd, nämlich eigentlich ziemlich fancy, but you get the point), genau in diesem Moment wollte ich einfach nichts anderes als Luke küssen.

Ich wollte seine Lippen auf meinen spüren.

Ich wollte alles sein, an das er dachte.

Ich wollte, dass mein Wesen seinen gesamten Geist ausfüllte, dass sein Herz nur schlug, um ihn mich küssen zu lassen, um ...

Wie vom Blitz getroffen sprang ich vom Bett auf und presste den Rücken gegen die Wand. Schwer atmend sah ich ihn für einen Moment an, dann hastete ich am Bett vorbei ins Bad.

Mit Schwung schmiss ich die Tür hinter mir ins Schloss und lehnte mich von innen dagegen. In der Eile und in der emotionalen Verwirrung vergaß ich, abzusperren, doch Luke versuchte nicht einmal, hereinzukommen.

Er klopfte weder an noch fragte er nach mir.

Er tat einfach gar nichts. Es war, als wäre er überhaupt nicht hier.

Fand ich das gut, fand ich das nicht gut? Wollte ich, dass er mich in Ruhe ließ, wollte ich, dass er mir folgte?

Ich war so verwirrt. So unfassbar verwirrt.

Ich sank zu Boden und vergrub den Kopf in den Händen.

„Jana, beruhig dich", flüsterte ich mir selbst zu und klopfte mir sanft rechts und links mit den Fingern gegen die Wangen. „Das hat doch alles keinen Sinn, Jana, er hat eine Freundin. Jana, er ist ein Typ aus einem vergangenen Abschnitt deines Lebens. Lass ihn hinter dir. Das Kapitel ist mit Absicht vorbei."

Ich atmete zitternd ein und redete weiter, denn mein Herzschlag hatte sich noch kein bisschen beruhigt.

„Das Kapitel ist vorbei und..."

Und dann stoppte ich mitten im Satz.

Ich richtete mich auf und wischte mir die Träne von der Wange.

„Ist es vorbei? Du weißt ganz genau, dass du das nicht willst, Jana", wisperte ich.

Sierra.

Sierra. Er hat Sierra. Er ist vergeben, Jana.

Also richtete ich mich auf und gab mir zehn Sekunden, um einfach nur zu atmen. Ich hatte die Augen geschlossen und meine Nerven beruhigten sich tatsächlich ein wenig.

Mit wackeligen Beinen stand ich auf und starrte die Klinke der Badtür an. Dann griff ich danach und zog die Tür auf. Ich überlegte mir schon, was ich Luke sagen sollte, wenn ich ihm gegenüber stand –

Da sah ich erschrocken auf und blickte in sein Gesicht.

Er stand direkt vor der Tür.

Er war mir so nahe, dass ich das Glitzern in seinen Augen sehen konnte.

Und bevor ich irgendetwas durch meine halb geöffneten Lippen blubbern konnte, küsste er mich schon.

Für den Bruchteil einer Sekunde tat ich überhaupt nichts, dann schlossen sich meine Augen automatisch und ich zog die Luft scharf ein.

Oh

Mein

Gott.

Und in der nächsten Sekunde riss ich meinen Kopf zurück. Mein Unterbewusstsein flippte aus, riss alles in Stücke und erinnerte mich daran, dass...

„Wir sollten nicht", flüsterte ich.

Lukes Nasenspitze berührte fast meine. Seine Finger gruben sich ein wenig schmerzhaft in meine Taille.

Er hielt sich an mir fest, wie Jack sich an dem Stück Holz festgehalten hatte, während Rose ihm beim Erfrieren zugeschaut hatte.

Nur dass er weder fror noch ertrank oder Rose ansah.

Er sah mich an. Mich. Mit einem so intensiven Blick, dass ich schon wieder vergessen hatte, was ich zu ihm gesagt hatte.

„Nein, wir sollten nicht", gab er leise zurück.

Ah. Ja. Das hatte ich gesagt.

Es tat so weh. Leute, es tat so weh. Ich konnte es nicht einmal in Worte fassen.

Ich musste weg von ihm.

Also schob ich mich an ihm vorbei und schlüpfte zurück ins Bett. Die Tränen liefen über meine Wange ins Kopfkissen und ich zog die Decke bis hinauf zu meiner Nase. Zitternd presste ich sie gegen meinen Mund, um mein Schluchzen zu unterdrücken.

Immer noch konnte ich sie spüren.

Die Weichheit seiner Lippen, die meine berührt hatten.

Bitte.

Jemand musste mich umbringen.

Ich konnte so nicht weiterleben.

Angestrengt schloss ich die Augen und versuchte, meinem Atem zu lauschen und nicht hinzuhören, wenn er unter die Decke – unsere gemeinsame – Decke schlüpfte und sich neben mich legte.

Es war immer noch über ein Meter zwischen uns, doch das war mir echt zu nah. Ich rutschte bis an den Rand hinaus, um so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen.



~

~

~



Lukes Sicht.


Wir sollten nicht.

Wir sollten nicht.

Sie hat mich weggeschoben.

Wir sollten nicht. Da stimmte ich ihr nicht zu. Absolut nicht. Wieso nicht? Wieso zum Teufel nicht?

In der schummrigen Dunkelheit konnte ich die Silhouette ihrer Figur unter der Decke erkennen.

Sie atmete ganz langsam. Also war sie endlich eingeschlafen.

Ich war hellwach.

Das würde ich wahrscheinlich auch den Rest der Nacht bleiben.



~

~

~



Janas Sicht.


Wir sollten nicht.

Nein, wir sollten nicht.

Er hatte mir zugestimmt. Er wusste, dass es falsch war. Es hatte sowieso keinen Sinn. Das hatten wir beide kapiert.

Ich konzentrierte mich seit mindestens zwei Stunden auf meine Atmung, damit ich möglichst ruhig atmete und endlich einschlief.

Doch der Schlaf ließ auf sich warten.

Und warten.

Und warten.

Ich konnte nicht mehr auf der linken Seite liegen. Meine Schulter war schon ganz taub und meine Hüfte fing an zu kribbeln.

Ich musste mich umdrehen, auch wenn ich mich dann in seine Richtung drehen musste.

Also wagte ich es. Ich drehte mich um, mit weiterhin geschlossenen Augen.

Dann blinzelte ich vorsichtig unter meinen flatternden Lidern.

Und im nächsten Moment riss ich sie auf.

Luke sah mich an. Selbst in dieser Dunkelheit konnte ich das erkennen. Er sah mich an und beobachtete mich, obwohl er wohl ebenso gemerkt hatte, dass ich wach war. Es störte ihn nicht, dass ich ihn dabei erwischt hatte.

Gott, er war so schön. Nicht nur optisch, sein gesamtes Wesen war so schön.

Er hatte sich keinen Millimeter bewegt, seit ich mich umgedreht hatte. Alles, was er tat, war atmen und blinzeln.

Ich öffnete den Mund leicht, um etwas zu sagen, dabei war mein Hirn wie leer gepustet. Ein Osterei. Oder Kylie Jenners Hirn.

Keine Ahnung, welcher Teufel mir da gerade ins Ohr flüsterte, aber ich rutschte näher zu ihm herüber. Immer noch bewegte er sich nicht. Wenn er nicht atmen würde, hätte ich schon längst gedacht, dass er tot war. Doch das war er nicht. Er war very much alive und wusste genau, wie nah wir uns jetzt waren.

Im nächsten Moment konnte mich nichts mehr zurückhalten.

Ich stützte mich auf dem Ellbogen ab und küsste ihn.

Scheißegal.

Egal.

EGAL.

Ich spürte seine Lippen auf meinen, seinen Atem auf meinen Wangen, seine Hand in meinen Haaren.

Dann zuckte ich wieder zurück.

„Aber Sierra..."

Es war nur ein Hauchen, was ich hervorbrachte zwischen zwei Küssen.

Er antwortete nicht.

Also riss ich den Kopf zurück und sah ihn an.

Doch er rückte nach und küsste mich wieder. Fordernd. Verhungernd. Verzweifelt.

„Luke."

Auf einmal hielt ich sein Gesicht zwischen den Händen und starrte in seine mitternachtsblauen Augen (also in dieser Dunkelheit).

„Sierra."

„Denk nicht an Sierra", war alles, was er zurückgab.

Denk nicht an Sierra?

Ich löste mich von ihm und rückte zurück.

Nein.

Nein.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top