#37 - Babysitter

„Findest du wirklich, dass der Song gut ist?"

Überrascht hob ich den Blick.

„Ja, natürlich", bestätigte ich ihm nickend. „Er ist mega. Die Melodie geht total ins Ohr und bleibt im Kopf hängen, und der Beat holt einen total ab."

Luke nickte langsam vor sich hin, sodass ich mich insgeheim wunderte, was diese Frage wirklich auf sich hatte.

„Du...", fing ich an und stockte dann, weil der Mut mich für einen Moment verließ.

„Hm?", machte er und lächelte mich an. Gott, es war so entwaffnend, wenn er mich so ansah. Da lockerte sich meine Angstbarriere und ich haute einfach raus, was mir auf der Seele lag.

„Können wir nochmal zu diesen Songs zurückkommen?"

„Zu was für welchen Songs?", hakte er verwirrt nach und schob sich ein paar seiner langen Haarsträhnen, die sich ein wenig undefiniert lockten, aus der Stirn.

„Diese Songs, die du über mich geschrieben hast", half ich ihm auf die Sprünge.

„Ah. Diese Songs." Er biss sich auf die Unterlippe, um sein Schmunzeln zu verstecken. „Was ist mit denen?"

„Kriege ich sie zu hören?"

„Nein."

Schmollend schob ich eine Unterlippe vor. Ehrlich gesagt hatte ich mit keiner anderen Antwort gerechnet, aber man musste es ja wenigstens versuchen, oder?

„Naja, außer ..."

„Außer?" Erwartungsvoll sah ich Luke an, und er zuckte leicht mit den Schultern.

„Außer sie landen irgendwann einmal auf einem unserer Alben. Oder einem Solo-Album. Genug Songs hätte ich für so eins."

Er zwinkerte mir spielerisch zu und ich verdrehte die Augen, nur um den Blickkontakt zu unterbrechen, denn der wurde mir zu intensiv, Leute, wenn das so weiterging, musste ich bald meinen Pulli ausziehen.

It's getting hot in here.

Bevor ich ihn jedoch weiter löchern oder mir meine Klamotten vom Leib reißen konnte, wurde ich beinahe gegen meinen Fernseher geschleudert.

Die Ruhe vor dem Sturm – nach dem Sturm? Während der Pause des Sturms? – war vorbei.

Die Turbulenzen gingen wieder los.

Und zwar heftig.

Auf einen Schlag gingen alle Lichter an, wir mussten uns anschnallen, die erste Kotztüten wurden lautstark gefüllt, und ich wollte einfach nur sterben.

So schnell kam man von der Wolke 7 in den Wolkenbruch.

Ich wollte. Einfach. Nur. Sterben.

Wie lang konnten zwei Stunden sein?

Seit 92 Minuten beobachtete ich die Zeitanzeige auf meinem Fernseher. Wie viel Flugzeit wir noch bis Chicago hatten und wie viel wir schon seit London hinter uns gebracht hatten.

Ich konnte nicht mehr.

Die Beine hatte ich inzwischen auf den Sitz gezogen, die Decke hatte ich um mich geschlungen wie ein Kokon, und Luke hatte ich seit 91 Minuten nicht mehr gesehen.

Er saß jetzt wieder auf seinem Platz direkt hinter mir an meiner Rückenlehne, während Ashton auf seinen Platz zurückgekehrt war.

Immerhin hatte ich mich noch nicht übergeben müssen.

Meine Nase hatte ich unter dem Kragen meines Sweatshirts vergraben, um den Geruch der gefüllten Kotztüten nicht riechen zu müssen.

Habt ihr schon mal Todesangst erlitten? Und das nicht nur für den Bruchteil einer Sekunde oder für einen Herzschlag, sondern für mehrere Stunden? Es war absolut zum Kotzen. Wirklich.

(Kein Wunder, dass jeder zweite schon gereihert hatte, höhö. – Wenn ich nicht mehr denkfähig war, wusste mein niveauloser Humor keine Grenzen mehr.)

Die nächste Durchsage.

Ich konnte nichts hören, mein Kopf summte zu laut.

Geholper, Geklapper, Geschrei.

Die nächste Durchsage.

Zwischenlandung.

Bitte was? Mein Kopf schoss in die Höhe. Zwischenlandung?

„Was hat sie gesagt?", rief ich panisch hinüber zu Ashton, der so weiß im Gesicht war, dass er auch als Geist hätte durchgehen können.

„Zwischenlandung in New York", sagte er tonlos und atmete dann tief aus und wieder ein, weil ihn das Reden wohl zu viel Kraft gekostet hatte.

Oh, dem Himmel sei Dank, dann würden wir wenigstens endlich hinunter zur Erdoberfläche kommen, bevor wir draufgingen. Mir war es so egal, ob das den Zeitplan zerstörte. Wenn wir starben, war der Zeitplan sowieso ... hinfällig.

Vor meinen Augen änderte sich das Reiseziel des Fluges zu New York City, und auch die verbleibende Flugzeit ging drastisch runter. Nämlich ganze 50 Minuten.

Aber hey, eine knappe Stunde weniger in dieser Hölle über der Erde gefangen zu sein, war ein Lichtblick.

Dafür hatten wir immer noch knappe zwei Stunden vor uns.

Ergeben schloss ich die Augen. Vielleicht wurde ja alles ertragbarer, wenn ich die Turbulenzen nur noch spürte und aber nicht mehr das Elend um mich herum sah.



~

~

~



Es klappte kein bisschen.

Der Flug war mit Abstand der schlimmste überhaupt.

Wir mussten dann auch noch durch den peitschenden Regen über New York kreiseln, weil wir erst einmal nicht landen konnten.

Irgendwann schafften wir es aber dann hinunter auf den Boden.

Ich heulte. Ich heulte einfach wie ein Schlosshund, als das Flugzeug hart aufsetzte und ich mir deswegen auf die Zunge biss.

Da war ich allerdings nicht die einzige, denn überall konnte man Menschen schluchzen, rufen und klatschen hören. Selbst die nette Flugbegleiterin, die vorhin noch so tough herumgelaufen und Fragen beantwortet hatte, wischte sich mit dem Handrücken über die Wange, als sie an mir vorbeieilte.

Ich verließ als allerletzte das Flugzeug.

Ashton war schon längst aufgestanden, hatte mich aber nicht zum Gehen bewegen können, also hatte er sich wieder auf seinen Sitz plumpsen lassen.

„Miss, ist bei Ihnen alles in Ordnung?", hörte ich eine freundliche Stimme neben mir.

Mit glasigen Augen und verschleiertem Blick sah ich auf. Es war die besagte Flugbegleiterin.

Stumm nickte ich, auch wenn das natürlich nicht der Wahrheit entsprach, denn es war absolut nichts in Ordnung bei mir.

Ich wusste nicht, was ich fühlte. Ich hatte immer noch Angst, ich war erleichtert, ich war eingeschüchtert von Lukes selbstbewusstem Auftreten und seinem Erfolg (ich Niete), ich war überfordert von dieser Zwischenlandung, ich war total schwach, emotional und physisch, und jetzt sollte ich hier irgendwie in New York zurechtkommen?

Am liebsten hätte ich mich in diesem Sitz zusammengerollt und hätte einfach nur geschlafen, bis das Flugzeug wieder abhob und ... ja, und was dann?

Eine Hand griff sanft nach meinem Ellbogen und bugsierte mich genauso behutsam in die Höhe.

„Jana, bitte lass uns gehen. Wir müssen schauen, dass wir ein Hotelzimmer bekommen", hörte ich die schönste Stimme der Welt sagen.

Ohne mich zu wehren, ließ ich mich von Luke aus dem Flugzeug ziehen. Er hatte nach meiner Hand gegriffen und seine Finger mit meinen verschränkt. Sie passte perfekt in meine. Es war schrecklich, einfach nur schrecklich.

Ich hörte Ashton einen überschwänglichen Dank der Flugbegleiterin zumurmeln, und dann sah ich Calums schwarzen Haarschopf, der an der Tür vorne bei der anderen Flugbegleiterin auf uns wartete.

Wie ein Roboter folgte ich den Jungs, weiterhin meine Hand in Lukes.

Ängstlich, erleichtert, eingeschüchtert, überfordert.

Luke. Luke. Luke.

Chaos.

Im New Yorker JFK-Flughafen war reinstes Chaos ausgebrochen.

„Niemals kriegen wir hier irgendwo ein Hotelzimmer", murmelte ich immer wieder vor mich hin. „Niemals kriegen wir ein Hotelzimmer. Niemals."

Meine Hand hatte Luke inzwischen losgelassen.

Ein Arm legte sich um mich und jemand umarmte mich fest.

„Alles wird gut, Jana", wisperte Calum in mein Ohr und ich vergrub das Gesicht in dem warmen Stoff seines Pullovers. „Du solltest heute Nacht nicht alleine in einem Zimmer schlafen."

Ich reagierte nicht.

Da hatte er wahrscheinlich ziemlich recht. Nach ungefähr zweieinhalb Minuten Alleinsein würde ich höchstwahrscheinlich durchdrehen.

Jemand musste heute Nacht also Babysitter für mich spielen.

Und wer war dazu natürlich besser geeignet als ...

„Seid ihr euch sicher, dass das so eine gute Idee ist?", hakte Ashton nach. Er hatte gerade mit ihrem Management telefoniert, die ihnen auf die Schnelle zwei Hotelzimmer in einem der Hotels hier direkt am Flughafen gebucht hatten. „Ich kann auch mit Jana in einem Zimmer schlafen", bot er an, doch Calum, der immer noch den Arm um mich gelegt hatte, schüttelte leicht den Kopf.

Und Luke zuckte nur mit den Schultern.

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