#34 - Letztes halbes Jahrzehnt
Na klar. Na klar. Natürlich musste er auftauchen, wenn ich gerade den Tiefpunkt meines Tages erreicht hatte. Natürlich. Was sonst! Das Schicksal musste mir ja immer wieder beweisen, dass wir aus einem mir unbekannten Grund auf Kriegsfuß miteinander standen.
Ergeben schloss ich die Augen für einen Moment und wartete auf Lukes Antwort. Darauf, seine Stimme zu hören. Seine ätzend perfekte Stimme.
Darauf, dass er einen Witz abgeben würde, dass er mich begrüßen würde, als wären wir alte Freunde, oder dass er mich ignorieren würde, darauf dass ich sein Gesicht gleich sehen würde, darauf dass ...
Halt, Moment? Hatte er schon etwas gesagt und ich hatte mit meinen lauten Gedanken seine Antwort übertönt? Nein, er hatte noch nichts gesagt. Und ... es passierte auch nichts. Stille. Bis auf das übliche Boarding-Gemurmel und -Geklapper. Aber keine Interaktion zwischen Ashton und Luke.
Verwirrt öffnete ich ein Auge und spähte schräg über meine Schulter – ich saß nämlich mit dem Rücken zur Flugrichtung –, verrenkte mir dabei halb den Hals und konnte Luke nirgends entdecken. Außer einer aufgetakelten Dame, 60+, die sich auf den Platz vor Ashton setzte, war niemand in dem schmalen Flur zu sehen.
Mein Kopf schnellte in Ashtons Richtung zurück.
„Hast du gerade mit einem Geist gesprochen?", fragte ich sarkastisch. „Denn ich sehe keinen Hemmings."
„Ja, wir sind neuerdings eine Geister-Band. Sorry, du kannst leider nur noch mich sehen", antwortete Ashton schulterzuckend.
Genau in diesem Moment schob sich Calum in mein Blickfeld, den ich hinter der unauffällig auffälligen Dame nicht gesehen hatte – oder der gerade erst das Flugzeug betreten hatte –, schenkte mir ein kleines Lächeln, murmelte „hi Jana" und ließ sich dann totaaal motiviert auf den Platz hinter Ashton plumpsen, sodass ich nur noch seine graue Jogginghose und seine schwarzen Vans sehen konnte.
Mein Blick wanderte zurück zu Ashton und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Geister also, hm?"
Grinsend zuckte er nur mit den Schultern, dann zwinkerte er mir übertrieben zu.
Er gab sich so sehr Mühe, mich aufzubauen und abzulenken, und es klappte tatsächlich überraschend gut.
Ich hatte meine Panikattacke schon beinahe vergessen, aber wirklich nur beinahe. Dass wir immer noch in einem Gewitter starten und den Ozean überqueren würden, konnte nicht einmal Ash ändern oder mich vergessen lassen.
Und blöderweise interessierte mich immer noch, wo dieser andere Typ, ihr wisst schon wer, nicht Calum, auch nicht Michael, sondern der andere sich hingesetzt hatte. – Oh halt, war es möglich, dass er exakt hinter mir saß? Beziehungsweise vor mir. Aber doch hinter mir. Mein Sitz war ja um 180 Grad gedreht, und deswegen saß er gleichzeitig hinter und vor mir.
Okay, das schmerzte gerade in meinem Spatzenhirn, also kam ich einfach zu dem Schluss, dass er dort auf diesem Sitz saß, der an meine Lehne angrenzte.
Na, immerhin saß er nicht dort, wo Ashton saß, sonst würde ich ihn die ganze Zeit sehen müssen. Oder wo Calum saß. Dann würde ich ständig sein Bein und seine Hand anstarren müssen.
Ich hatte das unbändige Bedürfnis, Sam anzurufen und ihr zu sagen, dass sie ihrem Ehemann ausrichten sollte, dass er die Rolle doch einfach selbst spielen sollte (ich meine, er hatte inzwischen längere Haare als ich, das würde also sowieso niemandem auffallen, besser als ich sah er sowieso aus), denn ich war nicht in der Lage, dieses Musikvideo mit dieser Band zu drehen, nope nope nope.
Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, über mein Leben zu sinnieren und zu überlegen, ob ich meiner Mom noch schrieb, was ich auf meinem Grabstein stehen haben wollte, doch als die nette Flugbegleiterin, die ich vorhin nur gehört, aber nicht gesehen hatte, den Flur zurückkam, hielt Ashton sie auf und fragte sie nach der Sicherheit des Flugs.
Die Gute war diese Frage in den letzten zehn Minuten bestimmt schon dreißigmal gefragt worden und ich hätte mich nicht als Einunddreißigste eingereiht, doch Ashton zeigte keine Scham, als er ihr mit einem breiten und absolut entwaffnenden Lächeln, das seine Grübchen natürlich zum Vorschein brachte, diese Frage stellte.
„Sie brauchen sich keine Sorgen machen, Sir", antwortete sie freundlich mit einem professionellen Lächeln, das nicht verriet, ob sie genervt war oder die stärksten Nerven der Welt hatte. Ich tippte auf beides. „Wenn es nicht sicher wäre, würden wir nicht starten, glauben Sie mir. Wir wissen allerdings noch nicht, ob wir wirklich nach Chicago fliegen oder ob wir noch eine Zwischenlandung an der Ostküste einlegen müssen. Da warten wir noch auf Informationen vom Bodenpersonal in Chicago, aber machen Sie sich bitte keine Sorgen, es wird wenn dann nur ein kurzer Zwischenstopp sein."
Oh Sweet Jesus, das wurde ja immer besser.
Ashton schien allerdings zufrieden mit dieser Antwort. Entspannt lehnte er sich in seinem Erste-Klasse-Sessel zurück, zog sich die Kapuze von seinem schwarzen Sweatshirt über seine knallroten Haare und zuckte mit den Schultern.
„Wir können es sowieso nicht ändern, Miss Ferroni, so let's roll with it."
Ja, wenn es exakt so einfach wäre, Ängste, Beklemmungen und Panik auszuschalten, na dann happy Birthday.
Ging es aber nicht, liebe Leute, also saß ich weiterhin hier und starb ungefähr 4189373 Tode, bis das Flugzeug überhaupt abhob.
Die Turbulenzen dabei hielten sich laut des Piloten in Grenzen. Haha. Dass ich mir den Kopf am Fernseher anschlug, weil ich mich vorbeugte und meinen Rucksack, der durch die Turbulenzen unter meinem Sitz hervorgerutscht war, zurückschieben wollte, konnte er vorne in seinem bequemen Cockpit ja nicht sehen.
Als wir ein paar Minuten geflogen waren, wurden die Turbulenzen ertragbarer – immer noch schrecklich, aber immerhin waren wir noch nicht abgestürzt und gestorben – und ich blickte zu Ashton, der gedankenversunken aus dem Fenster sah.
„Wo ist eigentlich Michael?"
Wenn ich mich richtig erinnerte und meine Panik seine Anwesenheit nicht verschluckt hatte, war er nicht an Bord dieses Flugzeugs gekommen.
„Der ist in New York."
Okay?
„Crystal ist dort und die beiden halten es zu lange nicht ohneeinander aus, also ist er gestern dorthin geflogen und kommt dann zeitgleich mit uns in Chicago an."
Grinsend schüttelte er den Kopf, während ich den Mund zu einer Schnute verzog. Wie süß die beiden doch waren. Es wurde Zeit, dass er ihr mal einen Ring an den Finger steckte.
Ich lehnte mich in meinem breiten Sessel zurück und zog mir die Fleece-Decke, die ich in dem Fach unter meinem Fernseher gefunden hatte, höher über die Schultern.
Keine Ahnung, wann ich endlich eingedöst war, keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte, keine Ahnung, wieso ich auf einmal so Kopfschmerzen hatte.
Als ich aufwachte und gequält die Augen fester zusammenkniff, weil ich eigentlich nicht aufwachen wollte, seufzte ich und kuschelte mich noch tiefer in den Sitz. Verdammt, meine Kopfhörer waren in meinem Rucksack, der sich ja unter meinem Sitz befand. Wenn ich sie also haben wollte, und das wollte ich, denn ich musste mir die Kopfschmerzen mit Musik aus dem Hirn pusten, dann bedeutete das, dass ich mich aus meinem Kokon rauswinden musste, und das gefiel mir überhaupt nicht.
Ich öffnete die Augen und sah Ashton, der sich gerade aus seinem Stuhl erhob. Das wäre meine Chance! Ich könnte ihn jetzt fragen, dass er mir meinen Rucksack gibt, dann ...
Tja, und da war der Sessel auch schon leer und Mister Irwin war nach hinten Richtung Toilette oder wohin auch immer gegangen. Wenn ich nicht so viel denken würde, würde ich auch ab und zu mal ein wenig meiner Intelligenz nutzen können. Aber wir sind ja auf diesem Planeten, um zu lernen, nicht wahr?
Ergeben schloss ich also wieder die Augen. Ich stellte mir vor, wie ich die Decke von meinen Schultern schob, ein kühler Windzug der Klimaanlage meinen Kragen hinunterfuhr und ich erzitterte unwillkürlich.
Ich könnte auch einfach warten, bis Ashton wiederkam, und ihn dann bitten, ob er mir meinen Rucksack gab.
Oder ich könnte aufhören, so eine kleine Loserin zu sein, und einfach selbst meinen Rucksack holen, Herrgott nochmal.
Mit gerunzelter Stirn öffnete ich die Augen – und schnappte im nächsten Moment nach Luft. Ich richtete mich kerzengerade auf, wobei die Decke von meinen Schultern hinunter auf meinen Schoß plumpste. So viel zum Thema Kokon und so.
Ich blickte in die blausten Augen des Universums, die mich träge anblinzelten.
„Hey", sagte Luke, und seine Stimme klang so, als hätte er sie schon seit längerem nicht mehr benutzt. Sie klang rau. Sehr rau, was eine Gänsehaut über meine Unterarme schickte. Gott sei Dank trug ich ein Sweatshirt (Sams Sweatshirt, um genau zu sein) mit langen Ärmeln, sodass niemand Zeuge dieser Peinlichkeit wurde.
Luke saß auf Ashtons Platz, der ja gerade frei geworden war, und hatte sich mit seinem gesamten Körper seitlich gedreht, sodass seine langen Beine über den schmalen Flur hinweg bis unter meinen Sitz reichten. Er hatte den Kopf seitlich an den Sessel gelehnt und stützte das Kinn aber trotzdem in seine Hand, den Ellbogen auf der Armlehne platziert.
„Trägst du einen Pullover von deinem eigenen Merch?", hörte ich mich selbst fragen.
Während meines kurzen 5SOS-Stalking-Vorgangs letztens hatte ich auch ihren Merch ausgecheckt und mir noch gedacht, wie cool diese Sweatshirts mit den drei Streifen auf der Brust waren.
Genau so eins trug Luke gerade, in schwarz.
Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, er kratzte sich für einen Moment an der Stirn, als würde er darüber nachdenken müssen, was er antworten sollte, und ließ die Hand mit den zwei Ringen an den Fingern wieder sinken.
„Ich mag unsere Klamotten. Ist das verwerflich, seine eigenen Sachen zu tragen?" Er runzelte die Stirn, weil er wohl darüber noch nie nachgedacht hatte. „Ist das ... selbstverliebt?"
„Nein, das ist cool", meinte ich und zuckte mit den Schultern. „Du stehst hinter den Sachen, die ihr produziert, besser geht das doch gar nicht. Eine gute Freundin von mir hat jahrelang auf einem Weihnachtsmarkt an einem Essensstand gearbeitet, und wenn sie dort stand und ihre eigenen Crêpes gegessen hat, ihre Chefin hat immer gesagt, sie soll niemals damit aufhören, denn schließlich ist es die beste Werbung, wenn die Angestellten das eigene Zeug essen, stimmt's?"
Gott, wieso laberte ich ihn so zu?! Was interessierte ihn Miriams Weihnachts-Gemampfe?
„Absolut! Das ist die beste Antwort, die man auf die Frage geben kann. Das werde ich ab jetzt immer sagen, wenn jemand fragen sollte", grinste er, „Sie finden es eingebildet, wenn ich 5SOS-Pullis trage? Pfff, das Zeug muss doch so super sein, wenn ich es sogar selbst anziehe!"
Er verstellte die Stimme, als er das sagte, und gegen meinen Willen musste ich laut auflachen.
„Pschhhttt!!", kam von irgendwo und ich schlug mir die Hand vor den Mund, um mein grunzendes Lachen zu unterdrücken.
Luke hatte sich von innen auf beide Lippen gebissen und schob nun Kinn, Mund und Nase unter den Rand seines Pullis, um sein Lachen zu verstecken.
In diesem Moment tauchte Ashton vor uns auf. Er blickte von Luke zu mir und wieder zurück, nickte und sagte nur: „Aha. Aaaaaha."
Über Luke hinweg griff er nach seinem Handy und dem Case seiner AirPods, stieg über Lukes Beine hinweg und ließ sich ohne einen weiteren Kommentar auf Lukes Sitz plumpsen.
Ich hatte Ashton vergnügt nachgeschaut, jetzt drehte ich mich wieder nach vorne und bemerkte, dass Lukes Blick auf mir lag. Wieder hatte er das Kinn in die Hand gestützt und blickte mich einfach nur an.
Für einen Moment starrte ich zurück, dann schaute ich nach links zum Fenster, dann hinunter zu seinen langen Beinen, die er ausgestreckt hatte und die bis unter meinen Sitz reichten, und dann wieder zu ihm.
„Was?", fragte ich leise und schlug für einen Moment wieder die Augen nieder, nur um ihn dann sofort wieder anzublicken.
Ich konnte einfach nicht anders, ich wurde quasi magisch von diesen unglaublich blauen Augen angezogen.
„Nichts", meinte er leichthin. Dann schob er hinterher: „Ich find's nur krass, was das Schicksal irgendwie so ... macht manchmal."
„Das Schicksal namens Harry Styles?", fragte ich schnaubend, doch Luke schüttelte den Kopf.
„Nein, ich meine, dass ... ach, egal. Nicht so wichtig." Er richtete sich auf und beugte sich nach vorne, sodass er mir um einiges näher war, als mir lieb war. Ohne dass ich es gemerkt hatte, hatte ich mich nämlich auch in seine Richtung gelehnt.
„Also, wie waren deine letzten ... fünf? Fünf, oder?"
Ich nickte stumm. Fast sechs.
„Wie war dein letztes halbes Jahrzehnt so?"
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