#33 - Hellrot

Bis zum Flughafen zu kommen, war kein Problem. Nicht einmal für Jana Hirni Ferroni.

Sollte man zumindest meinen.

Ein wenig zu schlecht gelaunt schob ich meinen Koffer vor mir her und verfluchte mich selbst dafür, dass ich das doofe Drehbuch gelesen hatte anstatt einfach wie ein normaler Mensch nachts zu schlafen. Wieso hatte ich mir das nicht für den Flug aufgehoben?! Dann hätte ich da jetzt wenigstens etwas zu tun und hätte die Nacht normal schlafen können (dass das Gewitter mich wahrscheinlich trotzdem wach gehalten hätte, versuchte ich mir selbst auszureden). Manchmal wünschte ich mir, ich hätte ein wenig mehr Hirn und ein bisschen weniger warme Luft in meinem Oberstübchen.

Ausnahmsweise hatte ich mal ganz klassisch die Metro nehmen wollen, um zum Flughafen zu kommen, doch als ich den Fuß aus Sams und Harrys Haus gesetzt und meinen Koffer die vier Stufen nach unten geschleppt hatte, war ich innerhalb von 4,3 Sekunden klatschnass gewesen, und so wie ich das Haus verlassen hatte, hatte ich mich wieder umgedreht, den Koffer wieder hochgezerrt und war wieder wie ein kleiner dämlicher begossener Pudel hineingegangen.

"Was für eine Scheiße!", war mir wütend entfahren, und ich hatte erst einmal meine Klamotten wechseln müssen. Mann, dabei hatte ich unbedingt dieses Sweatshirt tragen wollen! Es war so schön weich und groß und toll und Mann, was für ein Dummbatschmist. Ich hatte jetzt schon keinen Bock mehr gehabt.

Ich war also gezwungen gewesen, einen Uber zu bestellen – was mir gar nicht gefiel. Ich hasste es, bei Wildfremden ins Auto steigen zu müssen. Jaja, das sei alles so sicher und so weiter, aber wohl fühlte ich mich trotzdem nicht.

Nun stand ich also am Gate.

Direktflug.

London Heathrow nach Chicago.

Zumindest in der Theorie.

Denn ob ich jemals den Londoner Flughafen überhaupt verlassen würde, wussten nur die Götter, und da ich an keinerlei Götter glaube, war wohl nun mein endgültiges Schicksal, für immer auf diesem Fleck zu stehen und auf die Anzeigetafel an meinem Gate zu starren und diese neun äußerst hässlichen Buchstaben anzustarren.


CANCELLED


Kein Witz, das stand da wirklich. In knallrot.

"Ich flipp aus, ich flippe nicht aus, ich flipp aus, ich kann nicht ausflippen, ich flipp aber aus ...", murmelte ich in einem ewigen Mantra vor mich hin, während ich auf meinen Fußsohlen nach vorne und hinten wippte und dabei rhythmisch wie eine Gestörte mit dem Kopf nickte.

Gestrichen. Sie hatten meinen Flug gestrichen.

Wunderte es mich? Wenn ich ehrlich war, nein. Wenn man das Wetter dort draußen betrachtete, dann war ich eher froh, dass ich in diesen Regenmassen nicht in die Luft aufsteigen musste und mein Schicksal anderen, noch dazu wildfremden Menschen in die Hände legte. Ich wollte mir gar nicht die Turbulenzen ausmalen, die einen da oben gerade erwarten würden. Uff.

Tja, und hier stand ich nun. Ich hatte keinerlei Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Hektisch band ich mir meinen unordentlichen Pferdeschwanz zu einem noch unordentlicheren Dutt zusammen, indem ich meine Haare eindrehte und unter dieses Telefonkabel-Haargummi stopfte. Dass es rechts und links und überall ziepte, interessierte mich gerade herzlich wenig, denn ich hatte gerade gravierendere Probleme.

Langsam wurde mein Puls nämlich ungemütlich und ich spürte, wie eine Panikattacke sachte, aber bestimmt an meinen Schläfen anklopfte und meinen Hals langsam zusammenschnürte.

Okay, Jana, cool down. Das wird alles gut.

Und als hätten diese nichtexistierenden Götter mich erhört, verschwand auf einmal dieses schreckliche Wort mit C. Die Anzeige flimmerte für einen Moment, dann zeigte sie an, dass das Boarding in wenigen Minuten losgehen sollte.

Misstrauisch beäugte ich diese Information, dann wanderte mein Blick durch die riesige Glasfront nach draußen. Ich konnte nicht einmal erkennen, ob schon ein Flugzeug an diesem Gate stand. Der peitschende Regen hatte sich in den letzten Minuten kein bisschen geändert, wieso waren sie also auf einmal der Meinung, wir könnten sicher starten?

Geheuer war mir das nicht, und den restlichen Fluggästen auch nicht, wie der Tumult hinter mir deutlich bestätigte.

Leute regten sich auf, Kinder weinten, Empörungen wurden geäußert, Angestellte wurden beleidigt, Durchsagen wurden gemacht, nur ich, ich stand hier und starrte einfach nur auf die Leuchttafel.

Das erste Mal in meinem Leben spürte ich, dass ich vor einer Entscheidung stand, die mich mein Leben kosten konnte. Ohne Witz jetzt mal, wer garantierte mir, dass wir nicht abstürzten in diesem abartigen Wetter und alle starben?!

Sollte ich in dieses Flugzeug einsteigen?

Oder besser nicht?

Ich stieg ein.

Ich stieg ein und setzte mich auf meinen Platz in der Ersten Klasse. Selbst als mein Hintern auf diesem unfassbar weichen Sitz Platz genommen hatte, löste sich die Verkrampfung meiner Muskeln nicht. Immer noch blickte ich durch einen Tunnelblick. Ich konnte nichts wahrnehmen, nur Schatten und Schemen.

Grau, weiß, grau, schwarz, dunkelgrau, weiß.

Grau.

Erschreckend viel schwarz.

Grau.

Hellrot.

„Hey."

Schwarz.

Hellrot.

Hellrot.

Hellrot.

„Hey Jana?"

Und dann schnappte ich nach Luft, als hätte jemand meinen Kopf zu lange unter Wasser gedrückt und mich nun endlich wieder zu Atem kommen lassen.

Ashton.

Vor mir saß Ashton Irwin, der hellrot gefärbte Haare hatte und mich beinahe schon blendeten.

„Wow, du siehst aus wie eine Tomate", hörte ich mich selbst sagen.

„Aber eine äußerst attraktive Tomate, findest du nicht?"

Er grinste mich an und präsentierte mir seine Grübchen. Das erinnerte mich an Harry. Und dann an diesen Film, und dann an das Musikvideo, und dann an den Flug, und dann an seine australische Band, und dann daran, dass ich hier saß und er vor mir kniete und dass die anderen drei der Band nicht weit sein konnten – und dann wollte ich einfach nur im Erdboden versinken.

„Okay, Jana, okay, ganz tief durchatmen, es wird alles gut", murmelte Ashton und rieb mir beruhigend über den Oberarm. Er ließ seine Hand an meinem Ellbogen liegen und komischerweise half mir der Druck seiner Finger, mich wieder auf meine Atmung konzentrieren zu können.

Gott, ich war so unfassbar erbärmlich.

Bekam eine Panikattacke nach der nächsten und wusste mir selbst einfach nicht mehr zu helfen.

„Geht es wieder?", fragte er leise.

Ich war nicht in der Lage zu antworten.

Also kauerten wir einfach weiterhin schweigend nebeneinander, er direkt neben meinem fetten Erste-Klasse-Sessel, den man zu einem Bett zurückfahren konnte, mit Abtrennwand und Fernseher und so weiter, und ich auf diesem fetten Erste-Klasse-Sessel, die Stirn beinahe auf den Knien, weil mein Kopf und Nacken so sehr pochten, dass ich nicht mehr aufrecht sitzen konnte.

„Jana, das muss dir nicht peinlich sein", murmelte Ashton, als hätte er meine Gedanken gelesen. Vorsichtig strich er mir eine Haarsträhne aus den Augen, dann verzog er den Mund leicht. „Du würdest erstaunt sein, wie viele Menschen in Wirklichkeit psychische Hürden meistern müssen, ohne dass man ihnen das anmerkt. Ich allen voran."

Ich konnte nicht antworten.

Und selbst wenn ich gekonnt hätte, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen.

„Sir, würden Sie sich bitte auf Ihren Platz setzen?"

Die freundliche Stimme mit dem New Yorker Akzent gehörte sicher zu einer Flugbegleiterin, die außerhalb meines Sichtfeldes neben Ashton stand.

„Nein, tut mir leid, ich werde hier gebraucht", gab Ashton freundlich zurück, und ich hörte die Flugbegleiterin davon stöckeln, nachdem sie ein freundliches, zustimmendes Gemurmel von sich gegeben hatte.

„Geht es jetzt wieder?", fragte er nochmals.

Ich nickte und ließ zu, dass er mir half, mich aufzusetzen.

Ich bin so erbärmlich, ich bin so erbärmlich, ich bin so erbärmlich, ...

„Hör auf, dich selbst zu bestrafen."

„Hm?!"

Mit großen Augen sah ich zu Ashton auf. Was hatte er gerade gesagt?

„Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du dich innerlich gerade dafür knechtest, dass du Schwäche zeigst", sagte er sanft.

Er ließ sich auf dem Sitz auf der anderen Seite des schmalen Ganges nieder. Diese krassen Erste-Klasse-Sitze waren im Wechsel angeordnet – der eine flog mit Blickrichtung zur Flugrichtung, der nächste mit dem Rücken zur Flugrichtung. Das hieß aber auch, dass immer zwei Leute sich ansehen konnten, vorausgesetzt man fuhr diese Trennwand nicht einfach nach oben, um seine Privatsphäre zu haben.

„Das Leben kickt einem schon genug in den Arsch, da brauchst du dir nicht auch noch selbst in den Arsch kicken", sagte er schulterzuckend.

„Sehr poetisch."

„Hätte ich lieber sagen sollen, dass du zu dir selbst nett sein sollst, wenn deine Emotionen deinem Hirn in den Arsch treten?"

„Pfff, mindestens genauso poetisch."

„Wenigstens lächelst du wieder", stellte er grinsend fest und stützte das Kinn in die Hand. „Ich glaube, ungefähr neunzig Prozent der Passagiere haben innerlich einen Panikanfall erlitten, als sie gesehen haben, dass wir doch fliegen."

„Meinst du?"

„Klar doch. Keiner hat sonderlich Bock zu sterben, oder was meinst du, Hemmings?"

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