#32 - Die Unsicherheit und Blamage auf zwei Beinen

Ich saß auf dem weichen Bett, in das man schier hineinsank und eins mit ihm wurde, und starrte auf meine nackten Zehen. In meiner Hand hielt ich mein Handy, immer noch die Spotify-Seite geöffnet.

Den letzten Song, den ich gehört hatte, bevor ich das eiskalte Wasser verlassen hatte, hatte ich gestoppt.

Jetzt drückte ich wieder auf den Play-Button und lauschte seiner ekelhaft perfekten Stimme weiter.

Der Vibe des Songs hatte mich sofort gecatched.

Yeah when the doors are all closing, it's bound to get loud,

'cause all these bodies are hoping to get addicted to sound."

Ich schnaubte. Ja. Das klang nach ihm, das klang nach mir. Sobald alles in einem dicht machte, war das Einzige, das einem noch helfen konnte, die Musik. Und dabei konnte ich weder singen noch ein Instrument spielen. Ich war musikalisch einfach komplett unbegabt, ich konnte nicht einmal im Takt tanzen, aber Musik war für mich einfach Balsam für die Seele.

Und wenn sie dann auch noch von dieser Stimme gesungen wurde, dann ... - ich richtete mich kerzengerade auf, schüttelte kurz den Kopf und schimpfte mich selbst.

„Wenn diese Stimme singt, dann ist das Folter für dich, Jana. Folter", knurrte ich.

„If these walls coud talk,

I'd hope they wouldn't say anything

Because they've seen way too many things."

Ich wusste, dass der Song nicht zwingend über wirkliche Wände und Räume ging. Meiner Meinung nach. Dieser Song ging um die eigenen vier Wände, die sich im eigenen Kopf befanden.

Wenn diese Wände dort oben in meinem Schädel sprechen konnten – und ja, ich weiß, dass meine Birne auf meinem Hals nicht rechteckig ist, thank you very much – dann würde sie in die Welt hinausschreien, dass Jana Ferroni ziemliche Probleme hatte und die Unsicherheit auf zwei Beinen war.

„Oh man", grummelte ich.

Ich ließ mich rückwärts umkippen und plumpste in die schrecklich weiche Decke und schloss die Augen. Ungewollt sprang mein Hirn zurück zu Sams und Harrys Hochzeit.

Luke in diesem Anzug. Später nur noch im weißen Hemd mit hochgerollten Ärmeln. Langen Haaren. Breites Lachen.

So unglaublich selbstbewusst und im Gleichgewicht mit sich selbst.

Das absolute Gegenteil von mir.

Ich konnte kaum unzufriedener mit mir sein. Ich hasste alles an mir, selbst die Tatsache, dass ich diese blöde Netflix-Rolle bekommen hatte. Wieso ich? Ich hatte sie nicht verdient. Jemand, der wirklich gut war, hatte sie verdient und sollte neben Nick auf dem Bildschirm zu sehen sein, aber nein, ich hatte sie dank Mister Styles überhaupt bekommen.

Ich richtete mich wieder auf.

Ohne, dass ich den Kopf bewegte, wanderte mein Blick hinüber zu meinem Nachttisch. Dort lag mein Laptop. Ich wusste, dass ich irgendwo in den Tiefen des Download-Ordners Screenshots hatte.

Screenshots von den Nachrichten zwischen Luke und mir. Von 2013. Als die Welt noch rosa und wunderschön und sonnig und blumig und all das ekelige Zeug war.

Als Jana noch happy verliebt war, und nicht verwirrt, weil sie ihn nach so vielen Jahren wieder getroffen hatte.

Sollte ich mir wirklich jetzt auch noch diese Screenshots reinziehen? Anschauen, was Luke mir für Sachen geschrieben hatte?

Besser nicht.

Ich sollte wenigstens ein einziges Mal meine Würde behalten. Oder zumindest das, was davon noch übrig war.

Seufzend sah ich hinunter auf mein Handy und schloss Spotify, dann rief ich Matilda an.

„Hey. Warte mal kurz", wurde ich nach gefühlt hundertmal Klingeln begrüßt.

Ich hörte mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen, wie eine Tür zugeschlagen wurde, dann hörte ich jemanden schreien, erneut würde eine Tür zugeschmissen und ein Motorrad fuhr laut knatternd vorbei.

Matilda arbeitete momentan in einem Theater, sie hatte nur eine kleine Nebenrolle, war aber gleichzeitig Regieassistentin. Wir hatten uns in der Schauspielausbildung kennengelernt und hatten den Kontakt nie zueinander verloren. Selbst als ich in LA gelebt hatte, hatte ich mit ihr regelmäßig telefoniert. Öfter als mit Pierre, aber an diesen Idioten wollten wir jetzt nicht auch noch denken.

Dann erklang Matildas Stimme endlich wieder.

„Hey Ferry!", begrüßte sie mich gut gelaunt. Unwillkürlich verdrehte ich die Augen, als sie mich bei diesem verhassten Spitznamen nannte.

Wir quatschten ein wenig, ich erzählte ihr, dass ich die Rolle bekommen hatte, und dann kam ich endlich zu dem Thema, weswegen ich sie eigentlich anrief.

„Kannst du mir einen Gefallen tun?"

„Immer."

„Kannst du bitte in meine Wohnung gehen und nachsehen, ob Pierre ausgezogen ist?", bat ich sie seufzend. „Und wenn nicht, ihm Beine machen?"

„Nichts lieber als das", grunzte sie begeistert und ich lachte. Das erste Mal, dass ich in den letzten 24 Stunden endlich mal wieder aus vollem Herzen lachte.

Wie traurig.

Passt auf, Leute, demnächst ertrinke ich im Selbstmitleid...

Gott, ich war so erbärmlich.

„Das schaffe ich aber nicht mehr heute, Jani, das muss leider bis morgen warten, ich weiß nicht genau, wann ich hier rauskomme", meinte sie, doch das war mir ehrlich gesagt egal.

Ich konnte es sowieso nicht ändern, ob er noch in der Wohnung war oder nicht, also war es auch schon total piepegal, ob er mir noch einen Tag länger auf meinen nicht vorhandenen Sack ging oder nicht.

Hauptsache, er baute keine Scheiße in meiner Wohnung.


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Ich tat kein Auge zu.

Einerseits weil es gewitterte und stürmte, als würde die Welt gleich untergehen, und ich verdammt Schiss vor Gewitter hatte, und andererseits weil ich das Drehbuch las, das sie mir heute gegeben hatten. Ich musste mich schließlich auf die Rolle und das bevorstehende Musikvideo vorbereiten.

Sie hatten mir alle gesagt, dass das Video zum Film passte und künstlerisch anspruchsvoll war – und langsam fühlte ich mich echt unter Druck gesetzt, wenn ich ehrlich war. Nicht nur, weil die ganze Welt am Ende zusehen würde, sondern auch weil der Ehemann meiner Lieblingscousine diesen Streifen produzierte und ich ihn nicht blamieren wollte.

„Hah, wir wissen alle, dass du dich blamieren und somit auch ihn und Sam und den Rest deiner Familie blamieren wirst, einfach weil du manchmal ganz schön hirnlos sein kannst und dann die dümmsten Unfälle veranstaltest", erklärte ich meinem Spiegelbild, als ich irgendwann gegen halb fünf mal morgens wieder im Badezimmer stand und Zähne putzte, weil ich schon wieder Chips nebenbei gefuttert hatte.

Das Drehbuch gefiel mir ehrlich gesagt überraschend gut. Für eine Romanze war es erstaunlich erfrischend und gleichzeitig echt deprimierend, eine äußerst gewagte und gewöhnungsbedürftige Kombination.

Ich musste wohl doch irgendwann eingenickt sein, denn ich schreckte auf, als mein Handy, das auf meinem Bauch lag, vibrierte.

„Mhhh?", machte ich und versuchte, die Augen aufzukriegen, während ich mir das Handy ans Ohr drückte.

Ich gehörte so sehr in die technikbesessene Gen Z, dass ich nicht einmal hinschauen musste, um einen Anruf anzunehmen, ich hatte einfach im Blut, wo genau ich auf diesem Bildschirm tippen musste, damit ich ihn annahm.

„Jana? Ich kann dich nicht hören? Jana?"

„Ich bin hier, Sam", seufzte ich und richtete mich schwankend auf.

„Heeey Cutie!", lachte sie jetzt am anderen Ende. „Das ist ein FaceTime-Anruf, du brauchst dir das Handy also nicht ans Ohr drücken."

„Oh."

Ich rieb mir noch ungefähr fünfundachtzigmal über die Augen, bis ich endlich das strahlende Gesicht meiner Cousine sehen konnte.

„Hi", murmelte ich und gähnte ausgiebig.

„Ist alles in Ordnung bei dir?", erkundigte Sam sich. Das breite Grinsen war durch eine besorgte Miene mit zusammengezogenen Augenbrauen ersetzt worden.

„Jaja, alles gut. Bei euch? Wie ist Mykonos? Paradies auf Erden?"

„Jap, so ziemlich, aber jetzt erzähl doch mal, wie geht's dir, wie ist's so?", fragte Sam und ich verfluchte sie innerlich für ihre Fürsorge, die ich eigentlich so sehr an ihr schätzte, aber nicht jetzt an diesem Mittwochmorgen.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viel Uhr es ist?", murmelte ich. „Wieso bist du denn schon so munter?"

„So früh ist es nicht mehr", gab sie zurück und zuckte mit den Schultern, „hier ist es kurz nach neun, also ist es bei dir kurz nach sieben."

Ach ja. Zeitzonen und sowas. Mein zermartertes Hirn kam eindeutig nicht mehr hinterher.

„Du siehst nicht so aus, als hättest du so viel geschlafen."

„Ich hab die gesamte Nacht das Drehbuch gelesen."

„Oh wow", Sam war sichtlich beeindruckt, „Respekt! Das nennt man Engagement und Einsatz! Echt mega, Jana, das find ich toll."

Das erste Mal lehnte Sam sich nach hinten und ich konnte die Umgebung sehen, in der sie sich befand (bisher hatte ich nur ihr wunderschönes Gesicht und ihre schwarze Lockenmähne gesehen, die einfach den gesamten Raum eingenommen hatten).

Sie saß auf einer sonnigen Terrasse, hinter ihr das Meer. Unwillkürlich stöhnte ich auf.

„Mein Gott, ist das schön bei euch", seufzte ich, „und hier hat es die gesamte Nacht gestürmt."

„Oh Gott, ja, das habe ich gelesen!", sagte Sam. „Das geht auch noch so weiter! Anscheinend zieht sich dieses Unwetter über den Atlantik bis an die Ostküste Amerikas. Wie geht es dir? Hattest du sehr Schiss?"

„Zwischendrin hab ich gedacht, ich mach mir gleich in die Hose", grunzte ich ehrlich und schob langsam die Beine aus dem Bett, um endlich aufzustehen.

Schließlich würde das Flugzeug nicht auf mich warten.


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Wenn ich gewusst hätte, was für einen Flug ich vor mir hatte, hätte ich diese besagten Füße wahrscheinlich ganz schnell zurück unter die Decke geschoben und wäre nie, nie, nie niemals aus dem Bett aufgestanden.

Gut, dass mir in diesem Moment noch niemand von dem Horror, der mir bevorstand, erzählen konnte.

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