#31 - Von vorne bis hinten
Langsam machten sie mich beide so nervös, dass ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt wissen wollte, was sie – entschuldigt: was Harry ausgeheckt hatte! Am besten ging ich einfach zurück ins Bett und damit hatte sich der Fall.
„Raus mit der Sprache", forderte ich und sah Harry mit leicht zusammen gekniffenen Augen an.
Ein spitzbübisches Grinsen zierte seine perfekten Gesichtszüge.
„Du hast übermorgen eine Audition", platzte es aus Sam heraus. Sie hatte genauso wenig Geduld wie ich – nah, Sam hatte noch viel weniger Geduld als ich – und konnte wohl nicht abwarten, wie mein Gesicht gleich aussehen würde.
Es war kalkweiß.
Und ich konnte nicht so ganz glauben, was sie jetzt noch sagte.
„Für den nächsten großen Netflix-Film."
„Was?!", war alles, was mir einfiel.
„Jap", sagte nun Harry und übernahm die Erklärung, während ich wie paralysiert vor ihm saß und ihn mit riesigen Augen anstarrte. „Eigentlich hatte Chloe Grace Moretz zugesagt, jetzt ist sie uns aber doch abgesprungen..."
„Uns?!", echote ich alarmiert und mein Blick wanderte zu meiner Cousine, die sofort wieder abwehrend die Hände in die Luft warf.
„Ich bin unschuldig! Guck mich nicht so an!", verteidigte sie sich schnell.
Meine Augen fixierten also wieder ihren Göttergatten, der – seines Gesichtsausdrucks nach zu urteilen – einen Heidenspaß gerade hatte.
„Ich werde den Film produzieren."
Ich konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. „Ach, in dieser Ecke des Show-Biz hast du dich noch nicht ausgetobt, nicht wahr? Darf natürlich im Lebenslauf nicht fehlen."
„Richtig", grinste er. „Aber lenk nicht vom Thema ab. Ich habe dir alles ausgedruckt und es auf den Tisch in der Küche gelegt."
„Auf welchen? Es gibt zwei", kommentierte ich trocken und Sam, die hinter Harry stand, verdrehte nur die Augen. Sie wusste genau, dass wenn ich mit einer Situation nicht klarkam, mich erst einmal in Sarkasmus flüchtete.
„Auf dem kleineren in der Ecke. Das siehst du dann schon."
Harry sah mich nun mit schräg gelegtem Kopf an und lächelte leicht.
„Versau es nicht. Sonst muss ich meinen Kopf hinhalten."
„Haha", machte ich und verdrehte theatralisch die Augen.
„Das ist echt eine krasse Sache, Jana", schaltete sich nun Sam ernst ein. Sie sah mich mit ihren katzengrünen Augen durchdringend an. „Der Film wird so richtig gepushed und überall beworben. Und außerdem gehen die Dreharbeiten in anderthalb Wochen los."
„WAS?!"
„Ja... Chloe ist uns echt jetzt auf den letzten Drücker abgesprungen", seufzte Harry. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, dann schüttelte er den Kopf. „Die externe Produktionsfirma wollte das Projekt schon absagen, aber Netflix und ich waren uns einig, dass wir jemanden finden. Natürlich haben wir die Absage vor drei Tagen bekommen, also kurz vor unserer Hochzeit, deswegen musste das noch ein wenig warten, bis wir dich zur Audition bringen können. Jana." Er legte eine Hand auf meine Schulter. „Du machst das schon. Ich weiß, dass du das hinkriegst und dass dir die Rolle außerdem liegen wird."
Ich sah ihn einfach nur wortlos an, denn den Wirbelsturm, der gerade in meinem Kopf herrschte, konnte ich nicht in Worte fassen.
Alles wirbelte durcheinander. Alles. Ich konnte nicht einmal klar denken.
„Und da wäre noch etwas..."
Sam zögerte und brach ab. Ihr Blick wanderte zu Harry, der sie mit Absicht nicht anzusehen schien, und dann wanderte er wieder zu mir.
Ich schluckte schwer.
Oh oh.
Was kam jetzt?
„Das Musikvideo des Titelsongs für den Film wird vorher gedreht", sagte Sam. Ihre Stimme klang ein wenig zurückhaltend.
Sie ließ sich neben mir auf dem Bett nieder.
„Es wird in Chicago gedreht, der Film selbst in Los Angeles."
Na super. Dann musste ich wieder in diese blöde Fake-Stadt zurück.
Sam hielt wieder inne, und ich sah sie misstrauisch an.
„Moment", sagte ich, „das sind nicht die schlechten Neuigkeiten?"
Sam verzog ihren Mund nur für ein paar Millimeter und jedem anderen wäre es sicher nicht aufgefallen, doch ich kannte sie so gut, dass ich genau wusste, was in ihrem Kopf abging und was diese minimale Muskelbewegung hieß.
Sie hieß, dass es richtig scheiße für mich wurde.
„Hau's raus", forderte ich sie auf und schloss die Augen. Als ob es das auf irgendeine Art einfacher machen würde. ...nicht.
„Du bist natürlich die Hauptrolle des Musikvideos, weil die auch die Hauptrolle spielst, und das Video wird total cool und künstlerisch und da wird ein Stilmittel aus dem Film aufgegriffen, wenn die Gedanken der Protagonistin für den Zuschauer zu hören und sehen sind, und das wird aufwendig und wird aber Spaß machen", Sam verhaspelte sich mehrfach, weil sie in der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs sprach, „...und außerdem singen 5 Seconds Of Summer den Song."
Meine Augenlider flogen auf und ich starrte sie an.
Der Sturm in meinem Kopf hatte sich von eine auf die nächste Sekunde gelegt. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt und den Wind ausgeschaltet.
Ich atmete tief ein, und dann atmete ich tief wieder aus. Und dann stand ich auf und verließ den Raum.
„Jana!"
Sam und auch Harry liefen mir durch den hellen Flur hinterher. Sam griff nach meinem Arm, als ich gerade im Wohnzimmer war, und ich ließ mich auf die Couch plumpsen. Keine Ahnung, warum ich einfach aufgestanden und weggelaufen war. Was das für einen Sinn hatte. Als würde ich einfach davon laufen und das Haus verlassen und nie wieder zurückkommen?
Manchmal taten der Körper und das Hirn wirklich komische Dinge.
Sam setzte sich neben mich und zog mich in eine Umarmung.
„Ich weiß, das ist echt krass, aber so eine Rolle aufgeben, wäre echt dämlich!"
„Ich habe die Rolle noch überhaupt nicht", erinnerte ich sie mit hohler Stimme. „Erst einmal muss ich die Rolle bekommen. Dann mache ich mir über alles Andere Sorgen."
~~~
Ich bekam die Rolle natürlich.
Energisch stieß ich die Glastür auf, und nun musste ich mir über alles Andere Sorgen machen.
Mein Kopf schwirrte, mein Herz raste, meine Knie zitterten.
Anderthalb Stunden war ich dort oben gewesen, und dann hatte ich erfahren, dass ich die Rolle hatte. Und dann war ich sofort in ein Meeting gestopft worden, in dem man mir alles und noch viel mehr erklärt hatte. Wow.
Es war – natürlich – eine Lovestory, aber es ging um noch so viel mehr in diesem Film. Außerdem war der andere Protagonist, also der männliche, meine ich, echt eine coole Socke. Nick. Genauso neu wie ich in der Netflix- und Große-Filme-Branche, was mich wirklich erleichtert hatte.
So.
Und damit war klar – morgen flog ich nach Chicago und würde das Musikvideo mit dieser australischen Band drehen, die ich nie wieder in meinem Leben eigentlich sehen wollte.
Es regnete aus allen Poren, die der Himmel aufweisen konnte, und ich zog mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht, als ich zur nächsten U-Bahn-Station hetzte.
Sam und Harry waren seit zwei Tagen weg, aber es fühlte sich an, als wären es schon Wochen. Hauptsache, sie würden ihre Flitterwochen nicht verlängern, aber da fiel mir ein, dass Harry ja zu den Dreharbeiten unseres Films erscheinen und Sam zu ihren Dance Rehearsals auftauchen mussten. Wenigstens auf ihre Terminkalender konnte ich mich verlassen.
„So eine Scheiße", fluchte ich, als ich die Haustür mit der schnieken silbernen Schlüsselkarte öffnete und mich durch den Schlitz schob. Ich war klatschnass. So richtig klatschnass. Es stürmte nicht nur hier in England, sondern wohl auch in Nordeuropa und über dem Atlantik! Bald würde dieses Unwetter wohl auch in den USA ankommen. Gott sei Dank nicht in Los Angeles, sonst wäre der Dreh wohl ins Wasser gefallen. Wortwörtlich.
Nicht dass ich das schade finden würde oder so, ne ne...
Kurzerhand ließ ich mir die riesige Badewanne mit heißem Wasser volllaufen und hatte währenddessen eine Tiefkühlpizza aufgebacken (ich weiß, sehr gesund, aber ich hatte grade zu nichts Anderem Bock, vergebt mir).
Samt Pizza auf einem Brett quer über der Badewanne ließ ich mich nun also ins Wasser plumpsen – Jana halt, elegant wie eh und je – und fischte nach meinem Handy, das neben der Badewanne auf meinem Handtuch lag. Ich stellte die Connection zum Lautsprecher neben der Tür her und tippte die Spotify-App an.
Dann zögerte ich.
Ich nippte an meinem Rotweinglas und seufzte.
„Okay, Jana", sagte ich zu mir selbst, „dann ziehen wir uns eben die 5SOS-Songs der letzten fünf Jahre rein."
Ich rief ihre Spotify-Seite auf und staunte noch einmal.
Sie hatten drei Alben rausgebracht. 2014 ihr erstes, das nächste war 2015 gefolgt und das aktuellste war von 2018.
Und dann zog ich mir ihre Musik rein. Von vorne bis hinten.
Bis mein Wasser kalt, die Pizza aufgefuttert, die Weinflasche leergetrunken und ich verschrumpelt wie ein 17-jähriger Pfirsich war.
Ob ich bei diversen Songs das Gefühl hatte, sie waren eventuell über mich?
Ob ich bei diversen Songs tatsächlich geheult hatte?
Ob ich mich gefreut hatte, wenn endlich mal Calum oder Ashton mehr gesungen hatten?
Ob sie einfach immer noch zu 100 Prozent meinen Musikgeschmack trafen?
Ob ich mich jetzt noch beschissener fühlte, als ich mich elegant wie eine Seekuh schlotternd aus dem Wasser erhob und mich in meinem Handtuch einwickelte?
Man möge drüber streiten.
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