#27 - Tanz mit mir

Oh nein.

Natürlich war mir trotz meines angesoffenen Hirns nicht entgangen, wie Sams Augenbrauen nach oben gesprungen waren und nun beinahe an ihrem Haaransatz saßen. Sie raffte ihr Brautkleid zusammen und schob sich zwischen den Stühlen zu mir durch, bis sie sich auf dem Barhocker neben mir niederlassen konnte.

„Ich will ja nicht die Spaßbremse sein, aber eventuell solltest du aufhören, quer zu saufen, sonst hängst du später im Badezimmer über der Toilette", eröffnete Sam mir in ihrer frischen und herzlich trockenen Art.

„Ich hab jeden Grund, mich zu besaufen."

„Ja?", hakte sie nach, und bevor ich mich zurückhalten konnte, sprudelte schon aus mir heraus: „Ja, Samantha Styles, denn ich habe vorhin mit einem Baby auf dem Arm Lukes Freundin kennengelernt und ihn dann anschließend auch noch getroffen."

Für einen Moment schwieg Sam und beobachtete das Getümmel ihrer Hochzeit, dann sah sie mich betroffen an und verzog das Gesicht.

„Scheiße."

„Ja, das kannst du laut sagen", pflichtete ich ihr schnaubend bei. „Ich kann dir gar nicht sagen, was mich mehr beschäftigt: Dass Luke mich nach über fünf Jahren immer noch aus den Latschen hebt, dass er eine Freundin hat, mit der er wohl glücklich ist, dass seine Freundin ein unfassbar netter Mensch ist – ich mein, das ist Sierra Deaton! – oder dass Lottie sich an meinen Freund, von dem ich mich morgen eigentlich trennen wollte, ranmacht. Ich hab schlichtweg keinen. Plan. Was. In. Meinem. Hirn. Abgeht."

„Tut mir Leid..."

„Du brauchst dich für nichts entschuldigen", unterbrach ich sie unwirsch und wedelte mit meinem leeren Sektglas vor ihrer Nase herum. „Ich hätte dich ja fragen können, ob er kommt. Hab ich aber nicht. Und ganz ehrlich, Sam, selbst wenn ich gewusst hätte, dass er kommt, wär es für mich nicht anders gewesen, ihn zu sehen. Das hätte daran rein gar nichts geändert. So, und jetzt geh zu deinem Göttergatten, der schaut dich schon ganz sehnsüchtig an."

Ich nickte grinsend mit dem Kopf Richtung Tanzfläche, wo Harry stand und sich eigentlich gerade mit Ed Sheeran und Anne-Marie unterhielt, dabei allerdings die ganze Zeit zu uns – beziehungsweise zu Sam natürlich – herübersah.

Gott, den beiden floss die Liebe für einander ja schon beinahe aus den Ohren.

Sam drückte mir einen Kuss auf die Wange und blieb vor mir stehen. Mit ihren hohen Schuhen war sie im Stehen größer als ich Sitzen. Sie hatte eine Hand an meinen Hinterkopf gelegt und sah mich durchdringend an.

„Mach heute keine Dummheiten, die du morgen bereust, okay?"

„Jaja."

„Ich meine das ernst, Jana. Sowohl auf Luke bezogen als auch auf Pierre. Lass uns die Sachen morgen mit klarem, nüchternen Kopf angehen, ja?"

„Was auch immer Ihr wünscht, Eure Hoheit", sagte ich nasal und neigte den Kopf vor ihr.

„Manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich dich betrunken lustig oder nervig finde."

„Beides?", schlug ich vor. „Aber das bin ich nüchtern auch."

Sam schüttelte lachend den Kopf, sah mich einen Moment noch kommentarlos an, bevor sie sich umdrehte und zu Harry hinüberging, der sofort den Arm um sie legte und ihr einen Kuss auf die Wange gab.

Am liebsten würde ich kotzen vor lauter Liebe. Aber wenn ich ehrlich war, war ich einfach nur neidisch.

Mein Blick wanderte zu meinem Freund hinüber. Schließlich bekam ich von ihm nicht einmal halb so viel Aufmerksamkeit, wie Sam von Harry bekam.

Da bekam ich ja von diesem australischen Idioten noch mehr Aufmerksamkeit, bemerkte ich gerade, als einer der Kellner mir mein Sektglas lächelnd wieder auffüllte. Luke sah mich mal wieder an. Mein Blick durchbohrte ihn, doch das schien ihn herzlich wenig zu stören, denn er sah nicht weg, obwohl ich ihn beim Starren erwischt hatte.

Er stand zwei Meter von Sam entfernt und drehte einen Cocktail in seinen Händen, während Leo und Ashton sich neben ihm angeregt unterhielten.

Genervt sah ich weg und kippte den Sekt runter.

Er konnte mich mal. Und zwar kreuzweise.

~

~

~

Die nächsten Stunden vergingen und ich hielt meinen Pegel konstant. Die Hochzeit war der reinste Traum. Je später es wurde, umso mehr Lichter gingen im Garten an, und irgendwann war ich mir nicht mehr sicher, ob ich in einer Traumwelt war oder in der Realität, so wunderschön war es hier.

Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich die meiste Zeit mit Rafael auf einer kleinen Decke am Rand der Tanzfläche verbracht. Ich hatte mehr mit seinen Sachen gespielt als er, aber es war auch total witzig, mit diesen Rasseldingern rumzufuchteln!?

Irgendwann gesellten sich die Tomlinson-Zwillinge zu uns, die natürlich – wie jeder auf diesem Planeten, der dieses Kind kennenlerne – sofort einen Narren an Rafael gefressen hatten.

„Guck mal, Raf!", sagte Phoebe gerade und rollte dem Kleinen einen Ball zwischen die speckigen Babybeinchen. Rafael quiekte begeistert und fegte den Ball mit einer erstaunlich starken Handbewegung mitten auf die Tanzfläche.

„Oh oh", rief Daisy lachend und eilte dem Ball hinterher, bevor jemand drüber stolpern konnte.

Ich rappelte mich auf, weil sich der Sekt doch inzwischen mal wieder in meiner Blase zu Wort meldete. Langsam sollte ich auch mal wieder was trinken, sonst verlor ich meinen Pegel noch.

Während ich mich durch die Stuhlreihen schob, bemerkte ich mit einem Seitenblick, dass Lottie schon wieder neben Pierre stand, der auf dem Barhocker saß, auf dem ich vorhin gesessen und mit Sam gesprochen hatte.

Na super. Schön, dass er sie wohl interessanter fand als mich.

„Hoppla", sagte auf einmal eine Stimme und im nächsten Moment hielt mich jemand an den Oberarmen fest, damit ich nicht zu Boden ging. Abrupt blieb ich stehen und blickte nach oben.

„Sorry, wollte dich nicht umrennen, Leo", nuschelte ich und wollte mich an meinem Cousin vorbeischieben, was dieser aber nicht zuließ.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Jana?"

„Jaja, sowieso, ich muss nur echt dringend aufs Klo, sonst setze ich hier eine Pfütze hin."

Und schon war ich in Richtung Villa verschwunden.

Genervt vor mich hin murmelnd schloss ich die Badtür hinter mir und verriegelte sie.

„Bin ich froh, wenn diese blöde Hochzeit zu Ende ist", grummelte ich, als ich mir die Hände gewaschen hatte und die Tür gerade wieder öffnete.

Und vor dieser Tür stand niemand Anderes als Luke, der am Treppengeländer lehnte und auf seinem Handy herumtippte.

„Jap, eindeutig werde ich mich darüber freuen", bestätigte ich meine Meinung noch einmal. – Ups, hatte ich das gerade laut gesagt?

Anscheinend schon, denn Luke sah überrascht von seinem Handy auf.

„Was?", fragte er erstaunt, denn schließlich hatte ich auf Deutsch gesprochen.

„Nichts."

Wieso war ich denn jetzt wieder so schlecht gelaunt? Nur weil Pierre mit Lottie sprach?

Nein. Weil du einfach scheiß unzufrieden mit ALLEM bist, flüsterte mein Unterbewusstsein, das ich aber dank meines Schluckaufs, den ich gerade bekommen hatte, nicht gehört hatte.

„Wenn du mit mir sprechen möchtest, dann musst du bitte Englisch reden", sagte Luke leicht grinsend.

„Ich möchte nicht mit dir sprechen", antwortete ich – diesmal auf Englisch – und ging an ihm vorbei, ohne auch nur Anstalten zu machen, stehen zu bleiben.

Das hielt aber Luke nicht auf, mir in die Küche zu folgen. Er hatte sein Handy in seine Hosentasche geschoben und ging direkt neben mir, selbst als ich das Tempo anzog, war das für ein kein Problem, schließlich waren seine Beine eh fast doppelt so lang wie meine.

„Ja, das habe ich schon gemerkt, dass du nicht mit mir sprechen möchtest", sagte er jetzt und sah mir dabei zu, wie ein Glas aus einem der großen Hängeschränke holte und es mir mit Leitungswasser füllte.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kippte ich das Wasser hinunter und füllte das Glas wieder auf. Wieder kippte ich es in mich hinein.

„Okay, schon kapiert. Du willst wirklich nicht mit mir sprechen. Dabei warst du diejenige, die mich abserviert hat und nicht ich dich."

Ich hustete, weil ich mich bei seinen Worten verschluckt hatte, und starrte ihn dann finster an.

„Pass mal auf", ich hob den Zeigefinger in die Höhe, „ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung, mit dir zu reden. Außerdem bin ich alkoholisiert, und ich gebe gerne dummes Zeug von mir, wenn ich Alkohol im Blut hab."

„Damals warst du aber nicht betrunken, als du mir diesen langen Text geschrieben hast?", grinste Luke mich an.

Das machte mich wütender, als es sollte. Ich knallte das Glas neben mich auf die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. Für ihn war das lustig, ja? Es war lustig, dass ich litt?

„Du bist echt bescheuert! Ich war 15, man!", rief ich aufgebracht.

„16."

„Was?!"

„Du warst 16", wiederholte er ruhig und ließ sich auf einem der edlen Küchenstühle sinken. Der Blick seiner hellblauen Augen lag auf mir und ich konnte das Funkeln erkennen, das ich mehr vermisste hatte, als mir klar gewesen war.

„Das spielt absolut keine Rolle, auf alle Fälle war ich nicht alkoholisiert. Ich hab dich damals abserviert, weil ..." Ich hielt inne.

„Ich weiß wieso." Seine Stimme war immer noch ganz ruhig.

„Guck mal in der Küche, Caro!", hörte ich eine Stimme, und schon stand Caro in der Tür. Sie hatte den Mund geöffnet, um der Stimme – die eindeutig übrigens die meines Bruders war – zu antworten, doch die Antwort war ihr im Hals stecken geblieben, als sie uns erblickt hatte.

„Ähm..." Mehr bekam sie nicht raus.

Gut, das war mein Stichwort.

„Jap, sehe ich genauso, Caro", sagte ich und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei durch die Tür.

„Jana!", rief Luke mir nach, doch ich blieb nicht stehen. Ich würde nie wieder stehen bleiben, wenn er meinen Namen rief.

„Jana, warte!"

Nope. Not gonna happen.

„Jana?"

Auf einmal stand ich Calum gegenüber, der mich verwirrt ansah. Er hielt mir die Eingangstür auf und ich sah ihn durchdringend an.

„Halt ihn bitte von mir fern, Calum", sagte ich einfach nur, bevor ich nach draußen eilte.

Du bist so eine abartige Schisserin, Jana. Ich konnte über mich selbst nur wieder den Kopf schütteln. Nicht einmal ein normales Gespräch konnte ich mit ihm führen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte nicht.

Ich musste mir einfach langsam mal selbst eingestehen, dass er doch immer noch in meinem Kopf war. In meinem Herzen. In meiner Seele.

Und genau das passierte so selten im Leben. Es gab Menschen, die in deinem Kopf und deinem Herzen einen Platz hatten. Die du niemals vergessen würdest. Doch jemand, der einen Platz in deiner Seele hatte, der deine Seele berührt hatte, sie respektiert und verstanden hatte – solche Menschen waren selten. Man konnte jemanden lieben und in sein Herz schließen, und irgendwann kam man über denjenigen hinweg. Aber hatte derjenige erst einmal Kontakt mit deiner Seele gehabt ... Prost Mahlzeit, dann war es vorbei. Dann konnten Jahrzehnte vergehen, und man würde denjenigen niemals vergessen können oder über ihn hinweg kommen.

Tja, das hatte Luke geschafft. Und genau deswegen war ich damals so durchgedreht. Weil ich mit 15 (beziehungsweise 16, dieser Klugscheißer) nicht verstanden hatte, was ich für ihn gefühlt hatte.

Aber jetzt mit fast 22, jetzt hatte ich es endlich kapiert. Aber nun war es zu spät.

„Denkst du ernsthaft, du kannst vor mir weglaufen?"

Abrupt aus den Gedanken meiner Erkenntnis gerissen sah ich zu Luke auf, der vor mir stand. Ich hatte mich auf einem der Stühle im hinteren Bereich gesetzt. Der Schein der Kerzen auf dem Tisch tauchte sein Licht in einen warmen Goldton und seine Haare schimmerten, sodass ich am liebsten meine Finger darin vergraben hätte.

Er hielt mir seine Hand hin.

„Tanz mit mir."

„Niemals."

Er hob eine Augenbraue und ich sah ihn verschmitzt grinsen.

„Wie, du willst nicht zu dem Song mit mir tanzen, zu dem du mich inspiriert hast?", fragte er.

Ich horchte auf und hörte die Gitarrentöne, bevor seine Stimme aus den Lautsprechern ertönte.

„I saw you looking brand new overnight.

I caught you looking, too, but you didn't look twice."

„Als hätte ich damals gewusst, was heute passiert", kommentierte er die ersten Zeilen seines eigenen Songtextes.

Finster starrte ich ihn mit verschränkten Armen an und machte keine Anstalten, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

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