#26 - Nie wieder wird jemand so für mich sein, wie du es bist.

Nun fiel Lukes Blick auf die Person, mit der Sierra sprach: Mich.

Der Ausdruck in seinen Augen änderte sich kaum merklich, aber doch änderte er sich. Ich konnte nur nicht sagen, inwiefern. Sah ich da Erstaunen? Schmerz? Freude? Unsicherheit? Ich konnte es nicht definieren.

Luke öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, doch Sierra kam ihm zuvor. Sie hatte sich wieder mir zugedreht und meinte entschuldigend: „Mensch, ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt! Ich bin Sierra."

„Deaton, ich weiß", rutschte mir heraus, als ich ihre Hand ergriff und sie schüttelte. Ich grinste. „Sorry, aber ich liebe deine und Alex' Audition. Ich bin übrigens Jana."

„Hi Jana", sagte Luke (nicht Sierra).

Okay, Erde, bitte tu dich auf und verschlucke mich.

Für einen Moment konnte ich nicht atmen, als ich meinen Namen aus seinem Mund hörte. Mein Blick hatte sich in seinem verfangen, und erst nach einer gefühlten Ewigkeit sagte ich: „Hi Luke."

„Sierra? Dein Handy klingelt!" Auf einmal stand eine weitere Frau neben Sierra und hielt ihr das besagte Handy hin. „Hi", begrüßte die Neue mich lächelnd, dann drehte sie sich wieder Sierra zu. Luke starrte mich die ganze Zeit über an und dachte wohl, dass ich das nicht bemerkte.

„Das ist dein Agent."

Sierra grummelte und drückte ihn kurzerhand weg. „Ich muss aufs Klo, Mensch, ich rufe ihn gleich zurück."

Sie warf mir noch einen freundlichen Blick zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Die andere Frau zuckte mit den Schultern, steckte das Handy wieder in ihr kleines Glitzertäschchen und verließ das Haus wieder.

Somit standen Luke und ich hier nun alleine. Nur eine Tür trennte uns von seiner Freundin im Badezimmer.

„Starr mich nicht so an", murmelte ich, denn ich wusste nicht, wie hellhörig die Tür war und ob Sierra uns hören konnte. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass sie wusste, wer ich war.

„Ich starre dich nicht an."

„Doch, das tust du."

„Nein."

„Doch."

„Okay, vielleicht schon."

Ich verdrehte die Augen, genau in diesem Moment quäkte Rafael, den ich ja immer noch auf meinem linken Hüftknochen sitzen hatte und mit meinem linken Arm festhielt.

„Der ist echt süß", meinte Luke lächelnd und streckte Rafael seine Hand entgegen und kitzelte ihn ein wenig. Rafi lachte und griff dann nach Lukes Zeigefinger, den er erst einmal festhielt.

Sodass Luke näher als nötig vor mir stand.

Ich kämpfte immer noch mit dem Schmerz in meiner Brust. Und außerdem auch mit der Tatsache, dass ich kaum atmen konnte.

„Wie heißt er?"

„Rafael."

„Einfach echt goldig", kommentierte Luke und löste seinen Finger aus Rafaels Klammergriff.

Da er seine Aufmerksamkeit jetzt wieder zurückhatte, fiel dem Kleinen wieder ein, wohin er ja eigentlich wollte.

„Maa", sagte er nachdrücklich und sah mich schon fast ein wenig anklagend aus seinen großen schokoladenbraunen Augen an, weil wir immer noch nicht zu Caro zurückgekehrt waren.

„Jaja, ist ja gut", meinte ich und stupste ihm gegen die Nasenspitze. „Wir gehen jetzt die Mama suchen. Die sucht uns sicher auch schon und schimpft Tante Jana, dass sie dich einfach entführt hat."

„Mama? Ach, das ist gar nicht dein Kind?"

Ich starrte in seine verboten hellen Augen und im nächsten Moment musste ich gegen meinen Willen laut loslachen.

„Wie, du dachtest, das ist mein Sohn?!" Mein schallendes Gelächter war bestimmt im gesamten Herrenhaus zu hören, und selbst Sierra fragte sich sicher beim Pipimachen, was in die Irre mit dem kaputten Reißverschluss und dem Baby gefahren war. „Nein, das ist Caros und Leos Kind. Also Caro ist Sams beste Freundin und Leo ist Sams Bruder."

„Ach so. Sorry."

„Brauchst dich doch nicht entschuldigen, kannst du doch nicht wissen", sagte ich schulterzuckend.

Dann schwiegen wir beide für einen Moment. Es war unangenehm. Sehr. Aber ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Ich meine, ja, er war ein ziemlich großer Teil meines Lebens gewesen, obwohl er nicht einmal anwesend gewesen war. Aber ich war mir zu 99,89 Prozent sicher, dass ich in seinem Leben absolut keine Rolle mehr spielte. Und auch schon seit Jahren keine mehr gespielt hatte. Hatte ich überhaupt wirklich jemals eine große Rolle gespielt? Also nicht dass ich ihm unterstellen wollte, dass er sich damals nicht in mich verliebt hatte, aber das war sicher ziemlich schnell auch wieder vergangen.

„Wie geht's dir?"

Ich musste meine ganzen Gedanken und Gefühle ja nicht auf ihn spiegeln und davon ausgehen, dass es ihn genauso wie mich aus den Latschen gehoben hatte, als er mich vorhin das erste Mal seit fünfeinhalb Jahren wieder ges–

„Jana?"

„Hm?", machte ich ein wenig peinlich berührt, denn ich hatte nicht mitgekriegt, dass er mit mir gesprochen hatte.

„Ich hab dich gefragt, wie es dir geht."

„Gut geht's mir, danke, und dir?"

Gott, ich hasste Smalltalk. Diese Frage war sowas von unnötig gewesen.

Bevor er mir überhaupt antworten konnte, sagte ich schon: „Du, sorry, ich muss echt Caro suchen gehen, damit Rafi zu seiner Mama zurück kann. War nett, dich wieder gesehen zu haben."

Und dann eilte ich den Flur entlang zur Tür und nach draußen. Dort blieb ich nicht einmal stehen, sondern lief zur Hochzeits-Location hinten im Garten, fand Caro auf Anhieb, drückte ihr kommentarlos ihren Sohn in den Arm und drehte mich auf der Ferse wieder um.

Ich ging zurück zur Terrasse, bevor mich auch nur jemand aufhalten konnte, bog um die Ecke und ließ mich dort in die Hängematte sinken, die in der Ecke hing.

Okay. Atmen, Jana.

Wieso hatte ich eigentlich so die Nerven verloren? Es war doch egal, dass er hier war. Er hatte eine Freundin, ich hatte einen Freund, unsere Lebenswege hatten sich seit über einem halben Jahrzehnt nicht mehr gekreuzt und deswegen war das auch gut so. Es war gut so und es würde so bleiben. Vielleicht sollte einfach alles so bleiben, wie es war, und ich sollte einfach mit Pierre zusammen bleiben?

Ich hatte Luke damals in die Flucht geschlagen. Ich hatte ihn verloren und im Nachhinein hatte ich gewusst, es war der größte Fehler überhaupt gewesen.

Wer garantierte mir, dass das mit Pierre nicht so war? Dass wenn ich ihn abservierte, dass ich dann erst merkte, wie sehr ich ihn brauchte und liebte?

Es hieß doch, man wusste das, was man hatte, erst zu schätzen, wenn es weg war. Ich konnte es nicht noch einmal riskieren, dass ich jemanden verlor und dann stellte ich fest, hey Jana, du bist die dümmste Nudel auf der Welt.

Ich konnte diesen Fehler nicht zweimal begehen. Ich musste endlich draus lernen und mich zusammenreißen und einfach mal an mir und an der Beziehung arbeiten.

Ich atmete tief durch.

„Ist alles okay bei dir?"

Ich blickte zu Leo auf, der vor mir aufgetaucht war, ohne dass ich es gemerkte hatte.

„Bestens", antwortete ich und stand auf, „lass uns zurück zur Party gehen."

~

~

~

[2013]

„Ich kann das nicht."

„Wieso nicht."

„Ich ... ich ... ich kann damit nicht umgehen, Sam."

„Womit."

„Dass ich den ganzen Tag nur an ihn denke. Ich kann nicht den ganzen Tag an ihn denken und dieses schreckliche Gefühl von Sehnsucht in mir haben! Scheiße, ich bin 15, man, ich fühle mich, als wäre ich 25 und würde an meinen Verlobten denken und nicht an einen Sänger einer Band vom anderen Ende der Welt, den ich einmal geküsst habe und jetzt nur noch mit ihm schreibe!"

Das One Direction-Konzert, auf dem Luke und ich uns das erste und letzte Mal geküsst hatten, war exakt 3 Wochen, 2 Tage und 19 Stunden her.

„Du hast Angst. Du fühlst Gefühle für ihn, von denen du nicht gedacht hättest, dass du fähig für sie bist in so einem jungen Alter."

„Ja. Und was mache ich jetzt?"

„Das musst du ganz alleine entscheiden."

Sams katzengrüne Augen hatten einen Ausdruck in ihnen, der mir eine einsame Träne über die Wange laufen ließ. Ich wusste genau, was ich entscheiden musste. Ich konnte nicht anders. Ich war nicht bereit. Himmel, ich wusste überhaupt nicht, wie ich all das in mir in Worte fassen sollte! Konnte man sowas mit 15 überhaupt fühlen!? Oder war das alles Einbildung?

Ich verließ kommentarlos die Küche und schlurfte nach oben in mein Zimmer. Als ich die Tür hinter mir zugeschmissen hatte, ließ ich mich auf mein Bett fallen.

Vor lauter Tränen konnte ich mein Handy überhaupt nicht sehen, während ich tippte.

Ich tippte eine ewig lange Nachricht. Dann löschte ich sie wieder. Dann schwebte mein Finger auf dem Anrufsymbol bei seinem Kontakt. Dann öffnete ich wieder Whatsapp. Dann schloss ich es wieder. Dann öffnete ich es wieder.

Und dann tippte ich wieder.

‚Ich kann es nicht, Luke.'

Die Nachricht wurde länger und länger. Sie wurde ...sie wurde das, was sicher das Schmerzhafteste überhaupt in meinem Leben sein würde. Falls das irgendwie Sinn ergab.

Ich schickte sie ab, ohne zu zögern, denn wenn ich zögern würde, würde ich sie nur wieder löschen.

Er kam sofort online. Ich blockierte ihn, während er die Nachricht las.

Dann löschte ich die Blockierung wieder.

Dann sah ich, dass er tippte.

‚Mach das nicht, Jana. Bitte. Jana, das kannst du mir nicht antun.'

Ich schloss die Augen für einen Moment, weil sie so sehr schmerzten. Meine Augen, seine Worte, alles.

Ich hatte das Gefühl, jemand würde mir die Seele aus dem Körper ziehen. Als würde ich all mein Lebensglück, all die Freude verlieren. Als würde ich das Wissen, dass ich nie wieder so lieben würde, durch meine Adern pochen spüren.

‚Ich weiß, dass ich dich nicht von deiner Entscheidung abbringen kann. Aber bitte... ich weiß irgendwie auch, dass nach dir nie wieder jemand kommen wird, der mich so berühren kann wie du. Selbst aus der Ferne. Nie wieder wird jemand so für mich sein, wie du es bist...'

‚Sag das nicht', antwortete ich.

‚Es ist aber so. Frag mich in fünf Jahren, in zehn Jahren, und ich werde dir genau diese Antwort geben. Nie wieder wird jemand so für mich sein, wie du es bist.'

Und dann blockierte ich ihn. Seine Nummer, seinen Instagram-Account, alle anderen 5SOS-Accounts, Twitter, Facebook, alles.

Ich beseitigte ihn aus meinem Leben und gab ihm nie wieder die Chance, mich irgendwie zu kontaktieren.

Und so hatte ich den größten Fehler überhaupt begangen.

Denn wenn es nicht der größte Fehler meines Lebens war, wieso stand ich dann hier und betrank mich innerhalb von 24 Stunden das zweite Mal mit meinem Bruder, während ich meiner verflossenen Nicht-einmal-jemals-Liebe-gewesen-Liebe dabei zusah, wie er mit seiner langjährigen Freundin (jap, ich hatte gegoogelt, wie lange die beiden schon zusammen waren) sprach und lachte?

Gott, ich war so erbärmlich.

Und gleichzeitig ließ ich mich von meinem Freund küssen, der an mir hing wie eine kleine Klette. Schlimmer als Rafi an Caro hing.

Immerhin konnte ich inzwischen nicht einmal mehr richtig denken, so schummrig war mir dank des ganzen Alkohols, den Manu mir schon wieder verabreicht hatte. Immerhin tranken unsere Eltern mit uns (und der Rest der Gesellschaft), sodass mich niemand verurteilen konnte.

Wäre mir sowieso egal gewesen.

Umso mehr störte mich jetzt aber, dass Lottie Tomlinson, Louis' jüngere Schwester, nun schon seit einer halben Stunde neben Pierre saß und sich mit ihm unterhielt. Er hatte mir die ganze Zeit seine Aufmerksamkeit geschenkt, doch seit diese blonde Britin hier saß, war ich ihm wieder einmal egal.

Wieso nervte es mich? War doch auch schon egal. Oder etwa nicht?

Ich kippte mein Sektglas, das neben meinem Tequila-Shot-Glas stand, in mich hinein und warf Sam ein Luftküsschen zu, die sich nach mir umgedreht hatte.

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