#18 - Ein weißes Herz

„Wenn du weiterhin so abgehackt atmest, kriegt dein Gehirn nicht mehr genug Sauerstoff und du kippst gleich um – ich brauche dich morgen noch, also komm mal bitte wieder runter, kapiert?"

Ich blickte verwirrt auf und begegnete dem Blick aus den grünen Augen meiner Cousine.

Es war Freitagmittag und ich saß mit Sam auf der großen Terrasse des Anwesens auf zwei der wunderbaren Liegen mit den weißen Überwürfen, die aussahen, als kämen sie direkt aus der Renaissance. Oder welche Epoche auch immer. Schön waren sie auf alle Fälle, und sie dufteten noch dazu herrlich. Ich fühlte mich wie in einem Märchen. Die Sonne schien diese Woche jeden Tag und auch für morgen waren die Wettervorhersagen fantastisch.

Die Wettervorhersagen für meine Laune waren aber ... regnerisch. Mit Graupelschauern. Oder Hagel. Gewitter. Blitz und Donner. Und das holte mich aus meinen Märchenträumen schnell wieder auf den Teppich der Realität.

„Sorry...", murmelte ich niedergeschlagen und schob meine Sonnenbrille wieder die Nase hoch. Ich betrachtete das Stück Schokoladentorte auf dem kleinen schwarzweiß gemusterten Teller, den ich unangerührt auf den kleinen Beistelltisch neben meiner Liege hingestellt hatte, als Sam ihn mir vor einer Viertelstunde mitgebracht hatte.

„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll... Die ganze Woche war so cool, einfach weil ich abgelenkt war und ich mich nicht mit meinem eigenen Leben befassen musste. Jetzt kommt Pierre her und all die sorgenlosen Tage werden weggewischt, als wären sie niemals passiert."

„Hör einfach drauf, was dein Gefühl dir sagt." Sam sah mich ernst an und lehnte sich ein Stück nach vorne. „Wirklich, Jana. Hör drauf, was dein Herz und dein Bauch sagen. Merkst du später, dass alles in dir durchdreht und du nicht aufhören kannst zu lächeln, weil du ihn endlich wieder bei dir hast, nachdem du ihn so vermisst hast, dann weißt du Bescheid. Wenn du ihn aber siehst und dir unwillkürlich denkst – oh Gott, kann er bitte wieder verschwinden" – sie zuckte mit den Schultern – „dann weißt du ebenso Bescheid."

Ich wusste wirklich nicht, wie ich reagieren würde. Und ich hatte Angst. Sowohl vor der einen Reaktion als auch vor der anderen.

In dem Moment kam Caro auf die Terrasse geschlappt. Sie war ungeschminkt und sah verschlafen aus. Sie rieb sich als Bestätigung für diese Mutmaßung die Augen und ließ sich ans Fußende von Sams Liege plumpsen, die als sofortige Reaktion die Beine anzog, um Caro Platz zu machen.

„Hi", gähnte sie und lehnte die Wange auf Sams Knie.

„Hey." Sam streichelte über den Hinterkopf ihrer besten Freundin. „Alles in Ordnung bei dir?"

„Ja. Hab grad Mittagschlaf mit Rafi gemacht. Naja, er pennt immer noch. Gott sei Dank. Später müssen wir ihn beschäftigen, damit er heute Abend schön müde ist und früh schlafen gehen kann", sagte Caro und grinste mich an.

Das wäre dann mal wieder mein Part: das Kind so lange bespaßen, bis es müde in meinen Armen hing und nur noch ins Bett gehörte. Ich lächelte beim Gedanken an gestern Abend, als ich Rafael zu Leo gebracht hatte, der mit Harry auf der Dachterrasse gesessen hatte, nachdem ich so lange mit dem Kleinen gespielt hatte, bis er direkt auf Leos Schoß eingeschlafen war.

„Das kriege ich hin", meinte ich schulterzuckend und Sam lachte. „Das bezweifelt keiner."

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, um die Sonne in vollen Zügen genießen zu können. Erst hörte ich Sam und Caro noch zu, dann schweifte ich ab und meine Gedanken waren wieder beim morgigen Tag angekommen.

The big fat wedding.

So ganz realisiert hatte ich es, glaube ich, immer noch nicht.

Mit Sicherheit würde sie als die schönste Hochzeit in die Geschichte eingehen, da war ich mir absolut sicher. Sams Kleid war der pure Hammer. Es war – natürlich – weiß, schulterfrei und umfloss ihren Körper, als hätte jemand Wasser zu Stoff verzaubert. Sie würde morgen aussehen wie eine Prinzessin, die aus einem Disneyfilm geflohen war, um ihren Superstar zu heiraten. Hach, das war so kitschig-romantisch, dass ich am liebsten eine Fanfiction drüber schreiben würde.

Ich hatte mit Alessandra heute Morgen schon den Aufbau der Stuhlreihen und der kleinen Bühne beaufsichtigt. Die beiden würden sich nämlich das Jawort hinten zwischen den Bäumen im Rosengarten geben. Der Boden war komplett mit Moos überwuchert, die Rosen blühten gerade in ihrer vollen Pracht und es duftete wie in einem Einhornpopo. Zumindest stellte ich es mir so vor.

Die lange Tafel für das Essen und die Feier waren auch schon ein Stück weiter im Garten unter den großen alten Eichen aufgebaut, ringsherum um die runde Tanzfläche. Und alles befand sich unter einem kreisrunden Dach aus Lichterketten.

Ich sagte doch: die schönste Hochzeit überhaupt.

Und dann wollte ich vom Brautpaar überhaupt nicht anfangen. Amen.

Nebenbei bekam ich mit, dass Caro wieder reinging, um nach ihrem Kind zu gucken – ich hätte ihr sagen können, dass Rafael noch schlief, das hätten wir nämlich sonst lautstark mitbekommen, wenn er es nicht mehr täte, denn Rafi fand es gar nicht witzig, mit seiner Mama zusammen einzuschlafen, aber ohne sie aufwachen zu müssen – und Sam stand nach kurzer Zeit ebenso auf und ging in das Landhaus hinein.

Jetzt, da ich alleine war (und eh wieder hier angekommen), öffnete ich seufzend die Augen wieder und griff nach meinem Handy. Nach kurzem Zögern öffnete ich meine Notizen-App. Wieso das kurze Zögern? Weil ich einfach dumm war, das schon wieder zu tun. Dumm und masochistisch.

Sam hatte mir die Gästeliste per AirDrop geschickt und ich hatte seitdem stundenlang auf die Liste gestarrt.

Wer einen grünen Haken vor seinem Namen hatte, hatte bestätigt zu kommen. Wer einen schwarzen Kreis hatte, hatte abgesagt. Und wer ein weißes Herz hatte, hatte weder ab- noch zugesagt, sondern sich bisher noch nicht auf die Einladung gemeldet.

Und ich konnte nicht anders, als die ganze Zeit auf diesen einen verdammten Namen zu starren.

Er stand unter Ashton Irwin und vor Calum Hood und Michael Clifford.

Luke Hemmings.

Ich blickte auf in die Ferne und runzelte die Stirn. Sam hatte mir die Gästeliste geschickt, aber hatte rein gar nichts dazu gesagt. Weder zu der Tatsache, dass sie komplett One Direction – inklusive Mr Malik, Ladies and Gentlemen! – eingeladen hatten, noch dazu, dass sie 5 Seconds of Summer eingeladen hatten.

Bisher befand sich jeweils ein weißes Herz vor den vier Namen der australischen Band – was hieß, dass sie sich auf die Hochzeitseinladung noch nicht gemeldet hatten, falls ihr süßen Spatzenhirne das schon wieder vergessen haben solltet – , doch das hatte sich ja in den letzten anderthalb Tagen ändern können?

Seufzend starrte ich wieder seinen Namen an. Ich traute mich nicht, Sam zu fragen, ob sie kamen. Ich wusste, dass ich das besser tun sollte, damit ich, falls er kam, vorbereitet war – aber dann dachte ich mir wieder: Was würde es mir denn bringen, wenn ich es wusste?! Rein gar nichts. Nichts Positives zumindest, denn wenn ich ehrlich war, würde ich sicher nur durchdrehen. Falls er kam. Und wenn er nicht kam, dann würde ich nur enttäuscht sein.

Man konnte es also drehen und wenden, wie man lustig war, ich sollte besser einfach unwissend bleiben. Ich konnte es eh nicht ändern.

Genervt von mir selbst drückte ich die kleine Taste an der Seite meines Handys, damit der Bildschirm schwarz wurde und ich seinen Namen nicht mehr sehen konnte.

Theoretisch war es sowieso egal. Ich hatte ihm nichts zu sagen, und er hatte mir sicher auch nichts zu sagen. Selbst wenn er also hier morgen auftauchte, änderte sich rein gar nichts für mich.

Ich sah auf die Uhr meines Handys und rappelte mich auf, um mich auf die Suche nach meinem Cousin zu machen. Leo war nämlich so lieb und hatte sich bereit erklärt, mit mir nach Heathrow zu fahren, um Pierre abzuholen.

~

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Und da stand ich nun. Die Hände in den hinteren Hosentaschen meiner ausgebeulten Mom-Jeans vergraben und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen wippend.

Der Flug aus Tegel war schon länger gelandet, doch weit und breit war nichts von Pierre zu sehen.

„Er ist immer noch nicht da", informierte ich Leo, der draußen im Auto wartete und Runde um Runde drehte, damit wir keinen sündhaft teuren Parkplatz zahlen mussten. Ich presste mir das Handy fester ans Ohr, als eine Familie mit zwei schreienden Kindern an mir vorbeilief.

„Macht nichts. Ob ich jetzt noch einmal im Kreis fahren oder viermal, ist auch schon egal, Jana, wir haben doch Zeit", meinte Leo lachend.

Na, wer sagte es denn, genau in diesem Moment gingen die Schiebetüren hinter der Absperrung auf und die ersten Leute kamen und hievten ihr Gepäck, während sie nach ihren Liebsten Ausschau hielten.

„Ah, jetzt kommen Menschen. Bis gleich", sagte ich und legte auf.

Mein Blick sprang von Gesicht zu Gesicht, während ich mein Handy in meine Hosentasche verfrachtete, doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich Pierres dunklen Haarschopf endlich zwischen all den anderen Passagieren sah.

Da kam er.

Geschickt schlängelte er sich durch die Leute und suchte mit den Augen die Ankunftshalle nach mir ab. Gut, dass ich so klein war, denn das gab mir ein paar kostbare Sekunden, ihn mit gerunzelter Stirn ungestört betrachten zu können.

Hochgewachsen wie er war, hätte er mich eigentlich gleich entdecken müssen, doch das tat er nicht, weil ich nämlich so klein war, dass ich in der Menge der Wartenden unterging. Einer der vielen Unterschiede zwischen uns beiden, und das war nur aufs Äußerliche bezogen. Wenn man uns als Menschen betrachtete, hätte man kaum unterschiedlichere finden können.

Er war ... ambitioniert, immer pünktlich, stets korrekt in seiner Wortwahl, ordentlich, hatte seine Gefühle absolut unter Kontrolle, hatte seine Ziele immer im Blick, studiert, geordnet (und das in jederlei Hinsicht).

Und ich war ein emotionsgebeutelte, bipolare, mal introvertiert, mal extrovertierte, spontane Idiotin, die erst sprach und dann nachdachte, gerne mal explodierte, sarkastisch war und absolut unordentlich – und die sich langsam ganz schön eingeengt und missverstanden von ihm fühlte.

Normalerweise war es spannend, wenn zwei so unterschiedliche Menschen aufeinander trafen – bestes Bespiel: Sam und Harry – , doch nicht in unserem Fall. Sam und Harry waren so unterschiedlich, und doch waren sie sich in so vielerlei Hinsichten so ähnlich und ergänzten sich perfekt.

Wir waren aber so verschieden, dass wir uns gegenseitig nicht verstanden und den anderen nicht so hinnehmen konnten, wie er aber eben nun einmal war.

Während ich ihn nun also betrachtete und darüber nachgrübelte, was mit uns war, erinnerte ich mich an Sams Worte – dass ich darauf achten sollte, was ich in dem Moment des Wiedersehens fühlte.

Und ich fühlte dabei ...nichts.

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