#14 - Kanarienvogel
„Ich kann dir nur den Tipp geben, dir selbst Zeit zu geben", meinte Sam. „Solche Entscheidungen sollte man nicht von heute auf morgen treffen. Und dich selbst unter Druck setzen, macht jetzt alles nur noch schlimmer."
Ich warf ihr einen bedeutsamen und vorwurfsvollen Blick zu, denn ich hatte diesen Satz ganz genau so kapiert, wie sie ihn auch gemeint hatte. Denn ja, ich setzte mich selbst grad unter Druck. Immens.
Remember to treat yourself kindly when your emotions are beating up your brain.
Jap, immer schön lieb zu sich selbst sein. Stimmt schon.
War aber auch einfacher gesagt als getan, wenn man absolut keinen Millimeter des Geduldfadens mehr übrig hatte, um sich damit zu befassen. Ich mein, ich hatte kapiert, dass ich was ändern musste, aber kapieren und umsetzen, oh man, das war ein gewaltiger Unterschied.
„Hat sich Pierre schon bei dir gemeldet? – Sag nicht, du hast dein Handy versteckt?"
Sams Augenbraue war nach oben gewandert, nachdem sie sich mit zwei kurzen Blicken in ihrem Wohnzimmer nach meinem Handy umgesehen hatte.
Schnell stopfte ich mir ein riesiges Stück Lachs in den Mund und sah sie mit großen, unschuldigen Augen an, während ich akribisch kaute und leider, leeeider den Mund voll hatte und ihr nicht antworten konnte. Ups.
Kurzerhand sprang Sam schnaubend auf und pflückte mein Handy aus der Vordertasche meines Rucksacks, den ich neben die Couch hatte fallen lassen. Ich hielt sie nicht davon ab. Brachte doch eh nichts.
Sam tippte meinen Pincode ein und ich beobachtete ängstlich, wie sich ihre Mundwinkel leicht nach unten zogen, als sie meine Benachrichtigungen inspizierte.
Kommentarlos wollte sie mir mein Handy reichen. Ich wollte es eigentlich nicht einmal haben, also ließ ich es auf meinem Schoß liegen, wohin Sam es platziert hatte, nachdem ich es nicht entgegen genommen hatte.
„Jetzt schau dir schon an, wie oft er dich angerufen hat."
„Fünfmal? Zwanzigmal? Keinmal?", riet ich seufzend und fuhr mir mit der Hand durch die verwuschelten Haare. „Ist doch eigentlich vollkommen egal. Er hat kapiert, dass ich abgehauen bin und vor ihm geflohen bin."
„Ja, das wird er kapiert haben, aber deswegen macht er sich trotzdem Sorgen um dich und er weiß nicht einmal, ob es dir gut geht, du Vogel!", schimpfte Sam mich und deutete mit dem Finger auf mein Handy: „Schreib ihm und sag ihm, dir geht's gut und du bist bei mir und du brauchst ein bisschen Ruhe. Du meldest dich dann wieder bei ihm."
„Okay, Sir."
„Das ist nicht witzig!"
„Ich weiß, aber was soll ich denn sonst machen?", jammerte ich und tippte auf Pierres Chat. „Ich kann nicht mehr nur rumheulen und einen Blues schieben, sonst wird das ja nie besser..."
~~~
Tja, und dass ich nicht schlafen konnte, machte es auch nicht besser. Verdammter Jetlag.
Die meiste Zeit der Nacht saß ich in der Küche auf dem Fußboden und scrollte kilometerweit durch Instagram und Pinterest. Sam wollte ich auf keinen Fall stören und wecken, schließlich hatte sie ihren Videodreh morgen (heute, wie auch immer) und musste fit sein.
Ich erspare euch jetzt diese Nacht der Depressionen, überspringen wir sie einfach.
Irgendwann krabbelte ich dann doch endlich mal zurück in mein wunderschönes, weiches Bett in einem der Gästezimmer und schlief erschöpft ein.
Tja, es war nur leider eine halbe Stunde, bevor Sam aufstehen musste. Den Videodreh konnte ich somit knicken.
Ich hatte ihr also einen Zettel auf den Nachttisch gelegt, dass sie mich bitte nicht wecken sollte, um mit zum Videodreh zu kommen, da ich das niemals packen würde. Vielleicht konnte George mich ja abholen und hinfahren. Keine Ahnung, wie streng die bei solchen Drehs waren. Ob man da überhaupt zuschauen durfte. Ich meine, wir sprachen von niemand Geringerem als Camila Cabello, deren Video da gedreht wurde. Sie selbst war sicher total chillig, aber niemals ihr Management.
Gegen halb drei wachte ich wieder auf. Halb drei nachmittags. Ups.
Ich stöhnte, als ich mich auf den Rücken drehte, nachdem ich die Uhrzeit auf meinem Handy gecheckt hatte.
„Oh man..."
Benommen setzte ich mich auf und gähnte erst einmal ausgiebig. Was machte ich jetzt? Verschlafen starrte ich auf die weiche Bettdecke, ohne zu blinzeln.
Naja, Sam kontaktieren brauchte ich wirklich nicht mehr, der Zug war eindeutig abgefahren. Und ich wollte sie wirklich nicht stören.
Seufzend ließ ich mich wieder nach hinten plumpsen und seufzte erst einmal tief.
Nun meldete mein Magen sich zu Wort. Oh wow, ich hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen. Das Sushi war das Letzte, was ich zu mir genommen hatte.
Also überzeugte ich mich innerlich erst einmal, aus diesem verdammt unverschämt weichen Bett aufzustehen.
Erst duschen und dann essen?
Während ich Zähne putzte, betrachtete ich mich nachdenklich im Spiegel. (Die Entscheidung erst duschen, dann essen war übrigens schon gefallen, denn so wie ich aussah, wollte ich nicht einmal rumlaufen, auch wenn niemand außer mir hier war.)
Scheiße, ich sah wirklich ...beschissen aus. Kalkweiß. Augenringe. Säcke unter den Augen, die diese wunderbaren Augenringe also ausfüllten. Eine schräge Falte auf der Stirn. Absolut stumpfe und verwuschelte Haare. Zusammengesackte Schultern.
Und von einem Lächeln auf den Lippen konnte ich nur träumen.
Wenigstens nach der Dusche fühlte ich mich ein wenig menschlicher. Ich war so frech und hatte mich an Sams Beautyschrank bedient. Sie bekam viel zu oft Werbeprodukte zugeschickt, und jedes Mal, wenn ich hier war, wollte sie mir etliche Shampoos und Conditioner mitgeben – die ich natürlich alle nicht mit nach Hause nehmen konnte, da man im Handgepäck keine Flüssigkeiten mit sich führen durfte. Tja.
Ich dankte im Geiste der Beautyfirma, die gerade meine Haare durch ihr Wundershampoo und diese unfassbar gut riechende Spülung wieder zum Glänzen gebracht hatte.
Ich fühlte mich schon fast wieder ein bisschen normaler, als ich in die Küche ging und vor Hunger fast starb.
Ich öffnete gerade den riesigen Kühlschrank, als ich die Haustür hörte.
„Sam?", rief ich ein wenig verwirrt. „Was machst du denn schon hier?"
„50 Prozent Trefferchance und du tippst genau auf die falschen 50 Prozent!", ertönte eine Stimme hinter mir und ich quiekte, wirbelte herum und fiel Harry erst einmal um den Hals.
„Oh mein Gott! Hi! Ich wusste gar nicht, dass du im Lande bist! Ich dachte, du bist gerade in den USA oder so, Sam hat gar nichts gesagt, okay, ich hab auch nicht gefragt, aber, oh man, oh wie cool!", sprudelte aus mir heraus und ich strahlte Harry an.
„Schön, dich zu sehen, Jana", sagte er mit seiner ruhigen Stimme und grinste mich breit an, wodurch seine Grübchen zum Vorschein kamen.
„Machst du dir jetzt was zu essen?", fragte er, als er den halb offenen Kühlschrank hinter mir sah. Er ging wieder hinaus und sicher Richtung Flur, um sich die Schuhe und die Lederjacke auszuziehen.
„Ja", rief ich, „bin grad erst aufgestanden..."
„Da haut der Jetlag wohl richtig rein, oder?", gab Harry verständnisvoll zurück, als er wieder in die Küche kam. Er trug ein weißes T-Shirt und eine schwarze Jeans.
Ich betrachtete ihn von oben bis unten und musste gegen meinen Willen grinsen.
„Was ist mit Ihnen passiert, Mister Styles?", fragte ich ironisch. „Keine bunten Klamotten mehr im Schrank?"
Er sah an sich herunter und schien nicht zu kapieren, was ich meinte.
„Also das letzte Mal hab ich dich Kanarienvogel in diesem Schwarzweiß-Aufzug gesehen, als es noch One Direction gab!", erklärte ich ihm lachend.
Nun schien es endlich angekommen zu sein, was ich meinte. Er verdrehte gespielt kokett die Augen und meinte: „Auch meine Kanarienvogelkarriere braucht mal eine Auszeit, weißt du."
Ich schnaubte, als ich mich wieder dem Kühlschrank zuwandte.
„Nein, Spaß. Ich weiß, dass Sam es mag, wenn ich weiß trage, also ..."
Ich sah ihn wieder an und sah gerade noch, wie er leicht lächelnd mit den Schultern zuckte.
„Oh Gott, ihr seid so süß, da muss ich gleich kotzen", informierte ich ihn und würgte gespielt.
Harry stieß mir den Ellbogen in die Seite und schob mich vom Kühlschrank weg. „Geh weg von meinem Kühlschrank, du bist hier nur Gast. Also, auf was hast du Bock? Rührei? Honigpfannkuchen? Spaghetti? Suppe? Wir haben alles da, was das Herz begehrt."
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