#10 - War ich die Motte?

„Bitte was?!"

Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit musste ich grinsen. Geflissentlich ignorierte ich die Tatsache, dass es physisch wehtat zu lächeln. Meine Wangenmuskeln waren so außer Übung. Traurig.

„Jipp, ich bin schon am Gate in Tegel", eröffnete ich Sam und sah in ihr erstauntes Gesicht. Ich lief auf den weißen Kacheln auf und ab und hielt mir dabei mein Handy vors Gesicht, damit ich meine Cousine sehen konnte und sie mich.

„Du verarscht mich doch grad!"

Ich drehte die Kamera um und zeigte ihr den Flughafen. Ich beobachtete durch den Bildschirm meinen eigenen Finger, der auf ein Flugzeug zeigte, und sagte mit kindlicher Stimme: „Guck, daaa steht ein Flugzeug", mein Finger wanderte weiter und deutete auf das nächste und ich sagte wieder quäkend: „Und daaa steht noch eins –"

„Jaja, ist schon okay, du Clown", unterbrach mich Sam und schüttelte ungläubig den Kopf. „Na dann, schwing dich in den Flieger und komm her. Ich kann dich aber leider nicht abholen, ich hab rehearsals bis halb sechs."

„Macht nichts", meinte ich schulterzuckend und ließ mich auf einem der Metallstühle nieder. Ich rückte meine Kopfhörer zurecht und fragte: „Kann ich denn einfach zu dir kommen? Oder soll ich vor eurem Haus auf dich warten?"

„Ne ne, ich sag der Security, dass du kommst. Dann ist das kein Thema", meinte Sam und zuckte mit den Schultern. „Da steht, glaube ich, jetzt eh Benjamin, aber keine Ahnung, ich geh das abchecken. Ich muss nur jetzt echt wieder rein, der Choreograf ist ein sehr ...eigener Mensch." Sie verdrehte die Augen und strich sich eine kleine Locke, die sich aus ihren zwei geflochtenen Zöpfen gestohlen hatte, aus der Stirn. „Das ist so blöd gelaufen, dass ich vorher noch die ... äh... die Sitzung für den Film hatte, sonst hätte ich die Choreo selbst machen können, aber nein, es musste sich alles mal wieder so dämlich überschneiden ..."

„Ja, manchmal kommt's eben nicht so, wie man es gerne hätte", stimmte ich ihr zu und merkte erst jetzt, wie man meine Aussage auch anders interpretieren konnte.

Sam hatte das auch gecheckt, sie sah mich nämlich mitfühlend an. Oh Gott, und schon waren da wieder die Tränen, die mir in die Augen stiegen, aahh, neeeein!

„Okay, Sammy, ich leg jetzt auf, sonst fang ich hier noch in der Öffentlichkeit an zu heulen", informierte ich sie, ehrlich wie ich zu ihr war (wenigstens zu Sam war ich ehrlich), „und das möchte niemand, nein nein nein, keiner möchte das sehen. Also. Ich schreib dir, sobald ich gelandet bin, und du schickst mir die Adresse, wo du grad bist, okay?"

„Alles klaro. Ich freu mich auf dich! Bis später und pass auf dich auf, Cutie!"

Ja, ich gab mir Mühe. Beinahe hätte ich laut geschnaubt, nachdem ich aufgelegt hatte, aber ich konnte mich gerade noch zusammenreißen. Oftmals war ich ja nicht mal Schuld, wenn mir irgendetwas passierte. Ich zog die Probleme einfach an wie das Licht die Motten. Oder war eher ich die Motte und die Probleme waren das Licht und ich rannte blindlings immer schön in die hellste Richtung in der Hoffnung, dass dann alles gut wurde, aber das war dann doch meistens die falsche?

Wow, jetzt wurde es hier aber deep. Nicht, dass du noch einen Knoten im Hirn kriegst, Jana Ferroni. Dass deine dreieinhalb Gehirnzellen sich noch einen Muskelkater holen.

Es wunderte mich schon beinahe, dass ich so ruhig war. Dass ich mich relativ gut fühlte. Im Gegensatz zu gestern und heute Nacht und so, ihr wisst schon.

Ich spürte einfach, dass jetzt endlich etwas in meinem Leben geschah. Wochenlang, ach was, monatelang hatte ich in dieser unglücklichen Lage verharrt und nie hatte ich etwas unternommen gegen mein fehlendes Lebensglück. Und nun hatte ich endlich den Arsch hochgekriegt. Dass ich Pierre jetzt einfach links liegen ließ, tat mir irgendwie nur am Rande leid. Das klang böse, ich weiß, aber wie gesagt ich war mir gerade wirklich selbst die Nächste. Ich kannte zu viele Leute, die an ihren psychischen Problemen kaputt gegangen waren, und darauf konnte ich getrost verzichten.

Ich wollte weder das Licht noch die Motten sein. Ich wollte einfach wieder zu diesem Quatschkopf Jana werden, der ich immer gewesen war, doch diese Jana musste ich erst einmal wiederfinden.

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‚Du spinnst doch! Das hätte echt nicht sein müssen, Sam!'

Wild tippte ich auf meinem Handy herum, um meine Cousine zu überzeugen, dass ich auch einen Uber nehmen konnte und dass sie mir nicht ihren Chauffeur schicken musste, um mich vom Flughafen abzuholen.

‚Nichts da. In deiner momentanen Verfassung lasse ich dich nicht alleine durch London gurken. Kommt überhaupt nicht in Frage. George wartet in der Halle auf dich :*', schrieb sie zurück und ich verdrehte einfach nur die Augen.

Jaja, gegen ihren Dickschädel hatte ich eh keine Chance, egal wie groß mein Dickschädel war, Sams Dickschädel war größer.

„Hiii Georgie!", rief ich, als ich den netten, gelassenen Briten sah, der mit in den Jackentaschen vergrabenen Händen an der Seite der Ankunftshalle stand und mir entgegenlächelte. Die Fältchen um seine Augen hatten sich vertieft und das kurze, schüttere graue Haar war sorgsam gestylt.

„Hallo Jana, my dear, schön dich zu sehen. Geht es dir gut?", erkundigte er sich höflich und nahm mir meinen Koffer ab.

„Danke." Dann dachte ich über seine Frage nach und zuckte nur mit den Schultern und rückte meinen Rucksack zurecht. „Naja, wie man es nimmt", antwortete ich ihm nuschelnd und er warf mir ein Lächeln zu.

„Das wird schon. Nimm dir ein wenig Zeit und sei nicht zu hart zu dir selbst. Du bist jung, du darfst auch mal unglücklich sein. So ist das, wenn man sich selbst sucht und findet. Ein ganz natürlicher Prozess", teilte er mir weise mit und öffnete mir die Tür des schwarzen Wagens mit den dunkel getönten Scheiben.

Ich sagte nichts auf seine Aussage, denn dass er Recht hatte, wusste er sicher sowieso. Er hatte so richtig ins Schwarze getroffen. Ja, wenn man jung war, war man mal unglücklich. Und man durfte nicht zu hart zu sich selbst sein. Allerdings machte es das auch nicht einfacher für mich. Im Gegenteil, dadurch dass ich mir so sehr bewusst war, wie es mir ging, ging es mir nur noch schlechter. Total bescheuert.

George führte ein wenig Smalltalk mit mir, während er mich zu Sams rehearsals-Location fuhr. Ich achtete nicht einmal darauf, wo wir hinfuhren, so sehr war ich mit meinen Problemen und Gedanken beschäftigt.

„Alright, love, wir sind da", eröffnete George mir und hielt an. Er stieg aus und öffnete mir die Tür. „Ich behalte deinen Koffer hier im Wagen und bringe ihn später mit, wenn ich Sam und dich abhole, in Ordnung?"

„Oh man, du bist einfach zu nett für diese Welt, George. Danke."

„Für die Ferronis alles!", sagte er mit einem leichten Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, und deutete nun mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung. „Geh dort den geteerten Weg entlang, dann triffst du auf einen der Securities, der dich dann reinbringt. Viel Spaß und bis später, Jana."

„Danke, George. Bis dann", verabschiedete ich mich und trottete in die von ihm angegebene Richtung.

Hauptsache, ich wurde jetzt hier nicht im Regen stehen gelassen.

Denn genau in diesem Moment fing es an zu nieseln.

Geil.

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