8. Dezember
10 Jahre lang waren sie nicht mehr alle versammelt gewesen.
Zumindest fühlte es sich so an.
Durch die ganzen Arbeiten und die Erkältungswelle war es einfach nicht möglich gewesen, sich als Gruppe zu treffen. Erst heute hatten alle fünf Zeit gefunden.
Neben Louise auf dessen Bett saß Tamika im Schneidersitz. Sie lachte - ach, wie hatte sie das vermisst!
Adrian lachte ebenfalls. Es schallte in ihren Ohren und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn ebenfalls vermisst hatte. Nur konnte sie das schlecht zugeben, immerhin war sie diejenige, die Schluss gemacht hatte.
„Jeff Bezos, Leute“, sagte Olivia gerade, „den Typ würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, heiraten!“
„Was an ihm findest du denn so attraktiv? Seine Glatze?“, spottete Adrian.
Olivia rollte mit den Augen. „Ich finde ihn doch nicht attraktiv, ich bitte dich. Aber er ist reich und das ist wichtiger als heiß zu sein.“
„Kein Wunder, dass du so denkst“, sagte Tamika ernst, „so wie du aussiehst.“
„PFFT-AHAHA BURNNN“, lachte Seth, ehe es in einen leiseren Hustenanfall überging.
Olivia protestierte lautstark, Louise seufzte.
Adrian versuchte, sein Schmunzeln zu verstecken, indem er sich die Chipstüte schnappte und die Krümel rauszuklopfen versuchte. Durch das simultane Lachen und Chipskrümel-Inhalieren, verschluckte er sich, weshalb bald beide Jungs gleichzeitig lachten und husteten, was den Rest ebenfalls zum Lachen brachte.
Als sich alle so langsam wieder einbekommen hatten, nahm Olivia den Faden wieder auf. „Tja, glücklicherweise werde ich nie darauf angewiesen sein, jemanden wie Jeff Bezos zu heiraten.“ Sie warf Tamika einen überheblichen Seitenblick zu. Diese schluckte ihre Wut runter - sie war es nicht wert. Währenddessen fuhr Olivia fort: „Ich könnte mir jetzt schon eine Villa kaufen.“
Niemand sonst schien das zu kümmern.
„Ich besorg' uns mal eben mehr Knabbereien“, sagte Louise und hüpfte schnell vom Bett.
„Danke“, antwortete Seth leise.
Es hatte Tamika ewig gebraucht, ihn in die Gruppe zu integrieren. Obwohl er mittlerweile von der Gruppe akzeptiert wurde, so merkte man doch, dass er das selbst noch nicht realisiert hatte. Er war noch immer schüchterner als die Violetta aus Die Unglaublichen, war ein Ja-Sager und begann nie eine Konversation von sich aus.
Dabei gab sie wirklich ihr Bestes, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Sie wusste ja, dass er es in sich hatte, laut, lustig oder einfach er selbst zu sein, denn er war so, wenn sie alleine waren. Nur irgendwie funktionierte es in der Gruppe nie.
Erst jetzt fiel Tamika auf, dass Seth mal wieder auf der Armlehne, statt auf einem der Polster des Sofas saß. Die Ursache war das Monstrum, das sich neben ihm breit machte: Olivia. Tamika verzog den Mund. War ja mal wieder klar.
„Olivia?“
Ihr Kopf ruckte hoch, wodurch ihre dunkelbraunen Haare durch die Luft peitschten. „Ja, Tami?“ Sie grinste, denn sie wusste, wie sehr Tamika diesen Namen hasste.
„Mach' dich nicht so breit und mach' Seth Platz“, verlangte sie. Sofort sprang Adrian von der Couch auf. „Schon gut, Via, ich mache Platz!“, rief er und lief zügig auf Tamika zu.
„Und wo willst du sit-“ Die Jugendliche brach ab, denn er hatte sich schon neben ihr auf der Matratze niedergelassen. Er ließ ihr etwas persönlichen Raum, saß aber trotzdem nahe bei ihr.
„Wo ich sitzen werde ist genau hier“, antwortete er unnötigerweise, „aber wo ich sitzen will wäre näher bei dir.“ Er stellte seine Zähne und Grübchen zur Schau .
„Ugh, kitschig“, merkte Olivia an. Louise kam gerade rein. Ein Blick in Richtung ihrer zwei Freunde und sie stimmte ihr zu. Die Snacks stellte sie auf einen kleinen Tisch, dann setzte sie sich zwischen Olivia und Seth auf die Couch. Es schien, als wollten sie ihnen etwas Platz geben, so als seien sie noch immer ein Paar. Demonstrativ rückte sie ein Stück von ihrem Ex ab.
„Wusstet ihr schon, dass Finn gestern wegen Mordes verhaftet wurde?“, fragte Olivia plötzlich süffisant.
Louise schnappte nach Luft. „Ernsthaft?“
Olivia meinte: „Wurde auch mal Zeit.“
Mit großen Augen sah Seth zwischen den Mädchen hin und her.
„Bullshit“, kommentierte Tamika, „er wurde bloß verhört, das ist alles.“
Olivia sah nicht überzeugt aus. „Achja? Hast du ihn denn seitdem gesehen?“
Die Waisin stöhnte. „Mh-hm. Beim Abendessen gestern.“
Stirnrunzelnd hakte Adrian nach: „Beim Frühstück heute morgen nicht?“
Sie überlegte. Tatsächlich konnte sie sich nicht erinnern, ihn beim Frühstück gesehen zu haben...
„Manchmal lässt er eben das Essen ausfallen, das ist nicht unbedingt selten“, erklärte sie und machte eine wegwerfende Bewegung.
Louise schüttelte den Kopf. „Verrückt, warum das denn?“
Tamika zuckte mit den Schultern.
„Merkwürdiger Typ“, stimmte selbst Seth zu.
„Hey, was habt ihr denn? Kann euch doch egal sein, ob und wann er isst. Oder allgemein, was er macht“, stand Tamika für Finn ein. Dadurch, dass beide im Waisenhaus lebten, waren sie sowas wie Geschwister - und so wenig sie ihn auch verstand, so konnte sie trotzdem nicht zulassen, dass man schlecht über ihn redete.
Hilfesuchend sah sie zu Adrian, doch dieser sah angestrengt weg.
„Tami, das ist doch wirklich das Letzte. Du suchst dir bei deinem Ex Hilfe, um deinen neuen Lover zu verteidigen?“
Ihr Kopf fuhr zu Olivia herum. Das war nicht das erste Mal, das sie Streit suchte - genau genommen tat sie das dauernd. Glücklicherweise hatte Tamika gelernt, damit umzugehen.
„Finn ist nicht mein Lover. Das ist absurd und nicht witzig“, sagte sie daher ruhig.
Olivia schmunzelte süffisant. „Klar, wenn du meinst. Das glauben wir natürlich alle... so oft wie du ihn verteidigst.“ Ihrem Blick standhaltend, nahm sie sich einen Chip und biss hinein. Tamika würdigte diese Provokation nicht weiter mit einer Reaktion.
„Und was genau war nun mit Finn?“, hakte Adrian nach.
Tamika erwiderte, sie wissen nur dass er verhört worden war. „Können wir jetzt das Thema wechseln?“
Als habe Louise darauf gewartet, schoss sie los: „Klar! Habe ich euch schon von dieser supertollen neuen Abnehmmethode erzählt? Das muss ich probieren. Also, das funktioniert so,... “
❆
Es war gerade mal 15 Uhr, als Louises Vater ins Zimmer kam. Er war genauso gut gekleidet wie seine Tochter, nur trug er eine konstante Strenge und Arroganz auf seinem Gesicht. Wann immer er in das Zimmer seiner Tochter kam, wussten ihre Freunde, dass es Zeit war, zu gehen. Normalerweise ließ er sie bis kurz vor dem Abendessen bleiben.
„Seth, Tamika, hättet ihr einen Moment, in dem ich euch sprechen könnte?“, erkundigte er sich. Die beiden tauschten einen verwunderten Blick. Das Einzige, was er je zu ihnen sagte, war „Hallo“ und „Auf Wiedersehen“.
Als er den Raum verließ, folgten sie ihm und warteten gespannt, doch verwundert, dass er zu sprechen beginne.
„Ich wurde soeben informiert, dass ein weiteres Kind aus eurem Dorf verschwunden sei“, berichtete er, „und es wurde darum gebeten, alle Informationen, die man habe, an die örtliche Polizei weiterzugeben. Deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr etwas darüber wisst.“
Tamika zuckte mit den Schultern und erklärte sie ihm, dass sie zumindest den Namen des Kindes bräuchten.
Das schien den älteren Mann bereits zu überfordern.
„Sein Name? Hm, das war... Fjodor. Nein, Fanny. Volker? Nein... Fritz!“
„Finn?“, schlug Seth vor.
Er nickte eifrig. „Fink, genau, Fink Förster!“
Tamika sank das Herz in die Hose. Finn wurde entführt?
Sie bekam kaum mit, was Seth Louises Vater antwortete, nur, dass sie in ihr Zimmer zurückgingen. Dort verkündigte sie die Neuigkeiten erstmal. Alle schienen besorgt, selbst Olivia.
„Und wir haben noch über ihn gelästert... ich fühle mich jetzt unglaublich schlecht“, meinte Louise. Adrian und Seth hingegen sagten nichts, dafür man sah die Sorge in ihren Gesichtern.
„Scheiß auf Finn, wisst ihr überhaupt, was das bedeutet?“, meldete sich Olivia zu Wort. Seth neigte den Kopf, Tamika schüttelte ihren.
Sie sagte: „Das bedeutet, dass wir auch potenziell in Gefahr sind. Davor war in der Zielgruppe bloß kleine, dumme Kinder. Jetzt sind es auch große, dumme Teenager!
Ich hätte gedacht, dass Finns Größe sowas verhindert, aber offenbar reicht seine Dummheit, um das auszugleichen.“
Unruhig rutschten die Freunde auf ihren Plätzen. Adrian versuchte, die anderen Vier zu beruhigen: „Leute, bedenkt, dass Finn andauernd alleine rumläuft. Auch Nachts. Vielleicht wurde er nicht einmal entführt, sondern streift nur draußen herum.“
„Könnte man ihn denn nicht einfach anrufen, um rauszufinden, was Sache ist?“, zweifelte Louise.
Adrian zuckte hilflos mit den Schultern. „Er könnte sein Handy zuhause vergessen haben.“
Luise war nicht die einzige, die Adrians Theorie bezweifelte; Tamika war auch nicht sonderlich überzeugt. Auch wenn Finn manchmal lange umherwanderte oder das Essen ausfallen ließ, so kam er doch immer wieder nach Hause. Klar es waren erst... Sie wusste nicht genau, wie lange er bereits als vermisst galt. Seit gestern? Heute morgen? Seit Mittag? Wer wusste schon, ob er zwölf Stunden oder erst zwei Stunden weg war?
Wo sie so drüber nachdachte, hatte Adrian vielleicht recht. Da immernoch die Ausgangssperre, wenn man alleine war, galt, konnte es ebenso gut sein, dass nur deshalb Alarm geschlagen wurde, weil Finn alleine war.
Olivia stöhnte. „Jetzt kann man nicht einmal mehr hoffen. Wenn er entführt wurde, muss ich wenigstens seine ekelerregende Emo-Visage nicht mehr sehen.“
Tamika verzog den Mund.
„Möchtet ihr etwas spielen?“, wechselte Louise eilig das Thema.
Olivia sprang sofort darauf an: „Klar. Ich fange an: Adrian, Wahrheit oder Pflicht?“
Louise murmelte etwas von Monopoly, was jedoch in Adrians Antwort unterging. „Äh, ... Wahrheit?“
Olivia grinste schelmisch und ließ dabei ihre Zähne aufblitzen. „Was hälst du davon, dass Finn endlich weg ist? Super, oder?“
Adrian verzog kaum merklich die Lippen, bevor er antwortete: „Es geht ihm vermutlich gut... das hoffe ich zumindest. Dementsprechend ist es...es ist mir egal.“ Er räusperte sich und nahm sich sein Glas mit Wasser.
Olivia schien nicht vollends zufrieden mit dieser Antwort und bohrte nach, um ihm eine negativere Aussage zu entlocken.
Tamika ärgerte sich. Warum konnte sie es nicht einfach lassen?, dachte sie sich genervt, immer sucht sie Stress und Drama! Nur konnte sie das nicht sagen, ohne dass Olivia den Spieß umdrehte und wieder behauptete, sie sei diejenige, die dauernd Streit suchte.
Einmal hatte sie sie zum Beispiel angefahren: „Meine Güte, kein Wunder, dass dich deine Eltern nicht wollten, wenn du so bist!“
Tamika hatte nichts gesagt, aber es ging ihr ziemlich nahe, denn ihr Grund dafür, ins Waisenhaus gekommen zu sein, war nämlich ein anderer als der der meisten silberweiler Waisenkinder: Viele Frauen aus Silberweiler starben bei der Geburt; die Väter waren oft nicht bekannt oder wollten das Kind nicht großziehen.
Aber Tamikas biologische Eltern lebten.
Elias und Nadja haben ihr gesagt, dass ihre Eltern sie vor der Tür abgelegt hatten und schnell in ihrem Auto weggefahren seien. Es haben keine Papiere dabei gelegen, kein Schild, nichts, was ihre Identität bewies. Von Rechts wegen war das Waisenhaus verpflichtet, die Polizei zu informieren, damit diese nach den Eltern suchte - selbst mit Speichelproben und so. Ohne Erfolg.
Da diesem Waisenhaus noch nie zuvor so ein Fall untergekommen war, informierten sie erstmal das Jugendamt.
„Wenn so etwas passiert, muss das Familiengericht über den Namen entscheiden. Sobald das geschehen ist, wird eine Geburtsurkunde ausgestellt und das Kind wird in ein Waisenhaus gegeben“, hatte ihnen ein Jugendamtmitarbeiter in der Zentrale erklärt.
Nach zwei Monaten, in denen das Baby namenlos blieb, wurde endlich (auf den Juli geschätzt und zurückdatiert) eine Geburtsurkunde ausgestellt. Nadja hatte den Namen „Tamika“ vorgeschlagen und das Gericht hatte ihn angenommen.
„Tamika, Wahrheit oder Pflicht?“, riss Seth sie gelangweilt aus ihren Erinnerungen.
„Seit wann spielen wir das?“, wunderte sie sich. Die anderen schmunzelten. „Seit einer gute Viertelstunde, Süße“, antwortete Louise freundlich.
Sarkastisch kommentierte Olivia: „Genau, Süße, wie konntest du nicht mitbekommen, wie Adrian für uns getanzt hat? Das war wirklich... schön.“ Grinsend warf sie ihm einen Seitenblick zu und zwinkerte. „Ist er dir schon so egal? Da findet sich bestimmt gute Gesellschaft für ihn...“
Tamika zog die Brauen hoch und sah zu Adrian, der heftig den Kopf schüttelte. Seine Wangen wurden rosig. „Ich hab' nur den Macarena tanzen müssen, nicht... Via, das klang so zweideutig.“ Er fasste sich an die Wange und schüttelte den Kopf.
Tamika lächelte sanft und driftete schon wieder in einen Tagtraum ab.
Ihr war klar, dass sie aufhören musste, so viel zu Tagträumen, sonst würde sie noch wie Finn enden.
Finn...
„Ich hoffe, es geht ihm gut“, dachte sie laut.
Ihre Freunde (und Olivia) sahen verwirrt drein. „Wer?“, fragte Olivia. Adrian korrigierte: „Wem?“ - „Ist das Wahrheit oder Pflicht?“, wollte Seth wissen.
„Finn. Ich mache mir immernoch Sorgen um Finn“, gab sie zu.
Olivia verdrehte die Augen, ehe sie sagte: „Nein, wer hat gefragt? Er mag verschwunden sein, aber er wird nicht vermisst.“
Louise schüttelte lächelnd den Kopf. „Ach, Süße,“, sagte sie, „du hast doch selbst gesagt, dass er höchstwahrscheinlich nur Spazieren ist. Und wenn nicht, dann können wir auch nichts machen. Davon mal abgesehen, musst du es positiv sehen: weniger Waisenkinder bedeutet mehr verfügbares Geld. Vielleicht kannst du dann öfter mit uns Shoppen gehen!“
Tamika verzog das Gesicht. Hatte denn niemand sonst mit ihm Mitleid?
„Hey.“ Adrian legte behutsam seine Hand auf ihre Schulter und sie drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war zwar beruhigend, aber auch unsicher; er wusste nicht, ob sie diese Berührung tolerieren würde. Sie ließ es geschehen.
„Es geht ihm sicherlich gut. Mach' dir keine Sorgen - im Notfall kann er sich sicher verteidigen.“
Im Anschluss spielten sie noch eine Weile Monopoly, aber spätestens jetzt war Tamika nicht mehr ganz bei der Sache. Es war lustig, Olivia und Adrian sich um die Schlossallee streiten, Louise dauernd im Knast und Seth (obwohl er die Bank war) bankrott gehen zu sehen. Trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder ab zu Finn. Wie die von der besten Freundin der Autorin- huch, sorry, fourth wall break. Aber sie ist einfach ein Simp.
Später fuhr Louises Vater sie und Seth netterweise nach Hause.
In der großen Eingangshalle des Waisenhauses brannte Licht. Die zwei Kinder, Naomi und Jonas, die dort spielten, sahen auf, als sie sich die Schuhe von den Füßen kickte und Poncho und Schal auszog.
„Na? Was spielt ihr?“
Normalerweise fragte Tamika sowas nicht, aber sie wollte die Kinder etwas ablenken. Sie hörte aufmerksam zu, während die Kinder ihr Puppenspiel erklärten.
Die Haustür ging auf; drei Köpfe drehten sich nach dem Geräusch um. Beim Anblick der abgetragenen schwarzen Sneaker dachte sie erst, Finn wäre wieder zu Hause. Als ihr Blick höher glitt, erkannte sie aber, dass die Jacke nicht mit Aufnähern gespickt war. Ihr Blick wanderte noch 30 cm höher und sie sah in das junge Gesicht ihres Betreuers.
„Hey, ihr drei. Gibt's was Neues von Finn?“ Seppl kam direkt zum Punkt. Er war bemüht, fröhlich und unbesorgt rüberzukommen, doch wer ihn kannte, wusste, dass er auf der rechten Seite bei einem ehrlichen Lächeln ein Grübchen hatte. Hier war keins.
„Nee, wieso? Und hast du nicht heute frei?“, wollte Jonas wissen.
„Oh, äh-“ Seppls blau-grüne Augen weiteten sich, als er verstand, dass sie offenbar noch nicht Bescheid wussten. „Ich bin einfach schon etwas früher gekommen. Und Finn... Er... Äh...“
Schnell kam ihm Tamika zur Hilfe: „Finn ist vermutlich Spazieren, wir wundern uns bloß, wann er zurückkommt.“ Warm lächelte sie die Kinder an. Ihr fake-Lächeln war definitiv besser als Seppls. Dankbar schenkte dieser ihr ein Lächeln (mit Grübchen).
Ihm schien eine Idee gekommen zu sein, denn sein Lächeln verschwand und seine Stimme klang plötzlich ernst und dringlich. Er sagte: „Tamika, wir müssen übrigens reden, unter vier Augen. Kommst du kurz?“
Sie nickte.
Sie nahm an, es ging um Französisch - die letzte Arbeit fiel schlecht aus, aber sie konnte das glücklicherweise erklären. Innerlich wappnete sie sich für das Gespräch.
Er führte sie vorbei an den spielenden Kindern, bog nach links und noch mal nach links ab. Sie befanden sich nun in Seppls Zimmer; einem Ort, an den die Kinder normalerweise nicht durften.
Sehnsüchtig fiel ihr Blick auf sein großes Bett. Die Etagenbetten, in denen die Waisenkinder schliefen, waren gerade mal halb so groß. Er bemerkte ihren Blick, den er lachend kommentierte: „Jaa, ich hab' unsere alten Betten auch gehasst. Bin da manchmal fast rausgefallen.“ Gemeinsam lachten sie.
Plötzlich wurde Seppl wieder ernst. „Es geht um Finn.“
„Ich weiß, er ist verschwunden.“
Er kratzte sich innig an der Augenbraue. „Haha, lustig, dass du das sagst. Du weißt nicht zufällig... wo er ist... oder ob er wegkann von... wo auch immer er ist?“ Während er sprach, vermied er Augenkontakt.
Tamika verzog skeptisch das Gesicht. „Uhm... nein? Worauf willst du hinaus?“
Seppl seufzte und sah ihr nun in die Augen. Er erklärte: „Die beiden neuen im Dorf, du weißt schon, Alan Fletcher und Kylie Carpenter, haben mich zu Finn befragt, weil er gestern noch als Verdächtiger galt und ich sein... Wie hatten sie es noch gleich genannt? Sein Alibi verifizieren sollte?... Na ja, auf jeden Fall, als die rausgefunden haben, dass er verschwunden ist, wollten die direkt wissen, ob er sich in den letzten Tagen mit wem gestritten-“
Empört fiel Tamika ihm ins Wort: „Hast du mich etwa bei der Polizei angeschwärzt, weil ich mich mit Finn gestritten habe?!“
Seppl hob abwehrend die Hände.„Irgendwas musste ich doch sagen!“, verteidigte er sich.
„Seppl!“
„Ach komm, das wird schon nicht so schlimm gewesen sein“, behauptete er, „selbst wenn sie dich befragen, gibt es doch genügend Gegenbeweise, dass du unschuldig bist.“
Kurz hielt er inne.
„Davon mal abgesehen: hast du wenigstens versucht ihn mal anzuschreiben oder so?“, fragte er dann.
Augenblicklich fühlte sie sich ziemlich dumm. Sie hatten ja sogar dabon gesprochen und doch... Statt einer Antwort zog sie ihr Handy aus ihrer Tasche.
„Was machst-“, begann Seppl und brach direkt wieder ab. „Oh, jetzt rufst du Finn an? Wow, wirklich früh.“
Der Standard-Klingelton von Android ertönte aus dem Wohnzimmer. Testweise legte Tamika auf - eine Sekunde später hörte es auf.
„Toll. Habt ihr wenigstens schon diese Überwachungskameras überprüft, die ihr letztens installiert habt?“ -
„Ja, Elias meinte, da sei nichts zu sehen. Ich kann aber nochmal nachgucken - ich habe eine App dafür auf meinem Handy.“
Er zog es aus der Tasche, entsperrte es und fluchte.
„Was ist?“, wollte Tamika wissen.
Zerknirscht antwortete er: „Mein Handy hat mich eben erst erinnert - gestern war offensichtlich Finns Geburtstag... Hast du ihm gratuliert?“
Sie schüttelte den Kopf. Seppl fluchte erneut.
„In der Schule hat ihm auch niemand gratuliert“, berichtete Tamika.
„Super“, meinte er sarkastisch, „das heißt dann wohl, wir haben alle seinen Geburtstag vergessen?“
„Sieht so aus. Wenn wir Glück haben, wurde er bloß entführt“, meinte Tamika, „wenn wir Pech haben, ist er tot.“
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