21. Dezember

Kylie war außerorts. Morgen war ihr Termin beim Gynäkologen, ein monatliches Check-up wegen des Babys. Bei der Gelegenheit hatte sie sich entschieden, direkt Sky und Daniel zu besuchen, da sie in der Nähe wohnten und Kylie so nicht allein war oder hin und her fahren musste. Morgen, nach ihrem Termin, würde sie zurückkommen.

„Sei vorsichtig. Besonders, wenn du am Fall arbeitest", hatte sie ihn noch gewarnt, ehe sie ins Taxi eingestiegen war.

Sei vorsichtig.
Als würde er dem Entführer eine Falle stellen, niemandem bescheid sagen und eigenhändig versuchen, an einem abgelegenen Ort mit ihm zu kämpfen. Er war doch kein Kind mehr!

Stattdessen tat er dasselbe wie eigentlich immer: er arbeitete daran, in seiner Minecraft Welt den Todesstern nachzubauen.
Es war ein Projekt, an dem er schon lange saß, so lange, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, vermutlich war es schon mehr als zwei Jahre am laufen. Beinahe jeden Tag tat er ein bisschen etwas daran. Manche Sessions waren fünf Minuten lang andere 50 (oder mehrere Stunden, dann aber nicht ohne Pinkelpause und definitiv seltener).

Erst vor ein paar Minuten hatte er sich wieder mit seiner Welt verbunden und ging jetzt noch mal jeden Winkel ab. Zu seinem Erstaunen stellte er allerdings fest, dass er fertig war.
Es hatte ihm wohl so viel Spaß gemacht, dass er seinen Fortschritt kaum realisiert hatte. Jedes Detail, das er hatte einbauen wollen, war fertig.

Unschlüssig beendete er das Spiel und klappte seinen Laptop zu. Was mache ich jetzt?, fragte er sich und ließ seinen Blick durch durchs Zimmer schweifen.

Da lag ein kleiner Haufen Wäsche, um den er sich kümmern könnte... aber nicht nur die Macht war in ihm stark, sondern auch die Faulheit. Und soo dringend war es noch nicht.

Daneben stand das ungemachte Bett. Das könnte er theoretisch erledigen... allerdings hatte er mal gelesen, dass sich Bettwanzen in einem gemachten Bett wohler fühlten als in einem ungemachten - genau wie Menschen. Daher vielleicht keine gute Idee.

Zuletzt blieben seine Augen an der Falltafel hängen, die Kylie vor einer Weile aufgestellt hatte. In dem eher schlicht eingerichteten Zimmer stach sie heraus wie der Weihnachtsmann im Urlaub. Alan stand auf, stellte sich davir und las nochmal gründlich jedes Wort. Es passte natürlich noch nicht alles zusammen, doch die meisten Fäden führten klar zu Jonathan Hauer.

Alan hätte gerne die Falltafel um ein paar Verbindungen mit Elias Hoffmann ergänzt, wusste aber leider nicht, wo die rote Wolle war, ebenso wie die Pinnadeln. Er setzte es auf seine geistige To-Do-Liste und würde später seine Mutter oder Kylie danach fragen.

Er fixierte das Bild des Hauptverdächtigen.
Jonathan... könnte er es denn wirklich sein?, überlegte er, immerhin kenne ich ihn schon seit der ersten Klasse. Könnte derselbe Typ, der sich bis zur fünften Klasse jedes Jahr zu Halloween als Dino verkleidet hat, sowas tun?

„Natürlich!", hörte er Kylie förmlich antworten. „Korrelation heißt nicht Kausalität!", das sagte sie dauernd. Daraufhin zuckte er meist nur mit den Schultern und antwortete: „In dubio pro reo."

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Kylie kaum eine Stunde weg war und doch vermisste er sie bereits. Was sollte er denn jetzt bloß tun? Sein Blick fiel zurück auf die Falltafel.
Ja, das würde er machen: er würde einfach den Fall herantreiben! Er wusste, Kylie hätte das auch getan.

Und plötzlich hatte er eine Idee.

Es war eine Schnapsidee, womöglich die schlimmste, die er je gehabt hatte, aber Kylie war nicht da, um ihm die endlosen kontra Argumente zu nennen.

Nicht, dass er nicht wusste, wie gefährlich und dumm das war - die Vorteile wogen für ihn einfach schwerer.

Heute war eine Gemeindeversammlung, bei der sie Freiwillige suchten, um endlich eine Nachbarschaftswache aufzustellen. Nach bereits sechs entführten Kindern wurde das ja auch so langsam mal Zeit.
Für Alan war das perfekt: die Sitzung würde mindestens eine halbe Stunde dauern und gleich würde es losgehen. Er dürfte also jede Menge Zeit haben.

Und wenn er nicht bei der Versammlung, sondern zu Hause ist?, fragte die Stimme der Vernunft in seinem Kopf.

Als wäre es Kylie, antwortete er: „Dann improvisiere ich. Aber erstmal wird das geprüft."
Er trat an die Tür und klopfte. Eine Minute verstrich, in der nichts passierte. Unauffällig checkte er die Umgebung, hörte aber nichts als Vögel und sah nichts Dynamisches, mit Ausnahme der Blätter im Wind und so mancher blinkender Weihnachtsdeko. Alles war still und das auch im Haus; das war seine Chance.

Er schlich ums Haus herum und fand ein offenes Fenster sowie ein paar fein säuberlich gestapelte Holzscheite daneben. Mit ihnen baute Alan sich kurzerhand eine Art Treppe, um leichter ranzukommen. Wenn man es nicht wusste, konnte man fast denken, es war absichtlich so gestapelt.

Kaum eine Minute später war er drin, es hatte mühelos geklappt.
Hatte Jonathan früher Haustiere?, fragte er sich, vielleicht ein bisschen spät. Aber er hatte Glück; kein Tier kam auch nur in die Nähe, vermutlich war er allein.

Alan sah sich um. Draußen war es bewölkt und im Zimmer gab es keinerlei Lichtquellen, trotzdem erkannte er, dass das hier wohl die Küche war. Zumindest gab es einen Kühlschrank, große Arbeitsflächen, eine Spüle, eine Menge Schränke und direkt neben dem Kühlschrank eine Kühltruhe. Eigentlich wollte er Licht machen, wagte sich aber nicht. Er durfte hier drin so wenig wie möglich anfassen und musste sicherheitshalber leise sein. Zum einen wollte er hier möglichst wenig DNA hinterlassen, zum anderen war es möglich, dass die Nachbarn nicht zur Versammlung gegangen waren. Würden sie auch nur einen verdächtigen Mucks hören, würden sie sicher Denker informieren, was Alan sich nicht leisten konnte. Er könnte es zwar erklären, das würde ihn aber nicht vor einer Strafe schützen.

In der Kühltruhe sah er als erstes nach. Dort erwartete er am ehesten Kinder in Jonathans Haus - immerhin hasste er Kinder, warum sollte er sie am Leben lassen?

Als Alan sie öffnete, war er erstmal baff, wie viel Fleisch darin war. Es gab teilweise noch ganze Tiere, wie Hasen, der Großteil war aber glücklicherweise bereits verarbeitet. Trotzdem waren manche Stellen ziemlich blutig, als wäre das Tier gerade frisch gehäutet worden.

Er ekelte sich schaudernd: „Wie kann ein Mensch so viel Fleisch essen?"

Angewidert schloss er die Truhe und wandte sich stattdessen dem Kühlschrank zu. Welche Gräuel könnten hier wohl lauern? Er hob seine Hand zum Kühlschranktürgriff, hielt aber inne, als sein Blick auf eine Visitenkarte fiel, die mit einem Magnet daran gepinnt war. Da er sie nicht direkt lesen konnte, holte er sein Handy heraus und leuchtete es mit seiner Taschenlampe an.

„Metzgerei und Schlachthof Hauer
humane Schlachtung von Tieren
Verarbeitung von Hand
Kontakt:
- Tel.: 049 8357412
- E-mail: [email protected]", stand darauf.

Okay, das hatte er vergessen. So ergab das viele Fleisch auch wieder Sinn: vermutlich lagerte er es hier bloß. Aber welcher normale Mensch würde seine eigene Visitenkarte an den Kühlschrank hängen?

Er verzog das Gesicht darüber, dann über sich selbst.

Er selbst würde.

Alan trieb sich selbst an, sich zu beeilen. Da Jonathan jederzeit zurückkehren könnte, zog er jetzt den Kühlschrank auf. Das weiße Licht erhellte Eier, eine Menge Gemüse und vereinzelt Milchprodukte. Glücklicherweise keine Spur von Kinderleichen.

Alan beschloss, es sei wohl nichts in der Küche, schlich zur Tür und trat in den Flur. Die Dielen knarzten unangenehm laut in der Stille.

„Gesa? Elaisaaa? Ti-im! Tamika? Kann mich irgendjemand hören?", rief er leise ins Haus. Da keine Antwort ertönte, zwang er sich, wieder still zu sein. Der Ruf eben war schon riskant genug gewesen und schon jetzt war das Risiko hoch, dass die Nachbarn die Polizei riefen. Außerdem hatte er keine Zeit zu verlieren.

Es gab insgesamt sieben Türen: drei auf jeder Längsseite und zu seiner Linken die Haustür. Die mittlere Tür auf der, von der Tür aus, rechten Seite war die, aus der er kam.

Alan war klar dass er unmöglich Zeit hatte, jedes Zimmer gründlich zu durchsuchen, also, da es keinen Keller oder ein zweites Stockwerk zu geben schien, war sein nächster Anlaufspunkt die Abstellkammer, das Schlaf- oder Gästezimmer. Alle drei waren häufige Aufenthaltsräume für Entführungsopfer.

Auf gut Glück ging Alan durch die Tür, die ihm schräg gegenüber lag.

Dieser Raum war deutlich heller, nicht zuletzt wegen der angeschalteten Weihnachtsdekorationen. Es gab eine einladende Couch, einen Fernseher, eine Menge Bücher und Spiele in offenen Regalen sowie hier und da eine Pflanze.

Es war regelrecht merkwürdig, wie gemütlich und normal es hier drin aussah. In jeder Doku über Kindesentführer waren die Häuser dunkel, ausladend und dreckig.

Alan trat weiter in den Raum hinein und strich über ein Regal. Nicht ein Staubkörnchen blieb an seinem Finger hängen.

Man könnte fast glauben, Jonathan sei unschuldig. Aber warum sonst verhielt er sich Kindern gegenüber so komisch? Warum sonst hatte er sie nie reingelassen?
Er drehte sich um seine eigene Achse.

Es war so schön hier - was hatte er zu verbergen?

Verwundert verließ er das Wohnzimmer und schloss die Tür wieder hinter sich.

Anschließend betrat er das Zimmer daneben, welches stockfinster war. Erst, als er mit dem Ellenbogen das Licht anschaltete, konnte er den kleinen, fensterlosen Raum als Abstellkammer identifizieren. Sie war genauso menschenleer wie das Wohnzimmer.

Drei Zimmer verblieben und Alan hatte noch rein gar nichts gefunden. Sollte er abbrechen?

In genau dem Moment, als er die Klinke des nächsten Raumes berührte, hörte er Schlüssel, die die Haustür aufschlossen. Instinktiv flüchtete sich Alan in jenes Zimmer, zwang sich durch den Spalt. Mit dem Rücken presste er die Tür ins Schloss. Dann lauschte er.

Keine Sekunde zu früh war er reingegangen, denn gerade öffnete sich die Haustür knackend, ehe sie krachend wieder ins Schloss fiel.

Vor Angst schloss Alan die Augen. Bitte komm nicht her, bitte komm hier nicht her!

Die Dielen knarzten unter den Schritten Jonathans, verstummten aber abrupt.
Alan hielt die Luft an. Hatte er irgendetwas anders hinterlassen? Wusste er jetzt, dass jemand hier war?

Siedend heiß fiel es ihm ein: die Tür zur Kammer.
Er hatte sie offen gelassen.

Es knarzte eine Diele, dieses Mal näher. Er war geliefert.

Dachte Alan zumindest, aber die Schritte entfernten sich, bis sie letztlich ganz verstummten.
Er wartete noch, zählte bis zehn, dann ließ er sich geschafft an der Tür herabrutschen.

Das war knapp.

Erstmalig hatte er Zeit, sich das Zimmer anzusehen. Es war ein Raum, wie die meisten, also mit wenigen Fenster und keinen angeschalteten Lampen.
Zentral stand ein großer Tisch und sechs Stühle, offensichtlich war es das Esszimmer.

Alan stand auf und ging zu den Fenstern. Sie waren viel zu klein und hoch, alsdass er ohne Probleme daraus fliehen könnte.
Selbst wenn er einen Stuhl nehmen würde, könnte er sich nur schwer dadurch quetschen. Davon mal abgesehen: eine offene Tür mochte Jonathan nicht für voll nehmen; einen Stuhl, der genau neben einem offenen Fenster stand, würde er jedoch definitiv bemerken.

Alan lief verzweifelt hin und her. Er konnte sich unmöglich erwischen lassen, das würde seine Karriere ruinieren. Er zwang sich selbst zu einem Lächeln. Positiv denken!, das war sein Motto.

Um das Problem aus einem anderen Winkel betrachten zu können, trat er ein paar Schritte zurück.
Nach etwa drei Schritten piekte ihn etwas in den Rücken, woraufhin er einen hohen Ton ausstieß, sprang und sich in der Luft drehte. Er hatte mit Jonathan gerechnet - vielleicht mit einem blutigen Messer in der Hand, wie das eine Mal in der Metzgerei, von dem Kylie erzählt hatte.

Was ihn aber wirklich am Rücken berührt hatte, war bloß die Türklinke.

Moment, diese Tür hatte er eben gar nicht bemerkt. Abschätzend sah er sich im Raum um und ging geistig noch mal durch, wo er lang gegangen war. Sofern er sich nicht irrte, müsste diese Tür in die Küche führen. Gut, welcher andere Raum sollte mit dem Esszimmer verbunden sein?

Würde er durch diese Tür gehen könnte er ganz einfach fliehen! Er müsste nur denselben Weg raus wie rein nehmen.

Tief atmete er ein und aus, sein Puls war erhöht. Alles, was er jetzt tun musste, war still sein.

Genau wie damals, als ich vor Joe weggelaufen bin...
Wie ironisch, dass er jetzt auch vor einem Entführer fliehen musste.
Alan wurde schwindelig und übel bei der Erinnerung daran.

„Wo ist der Koffer, Alan?"

Er hatte nicht geantwortet. Joe hatte ihn dafür erst nur geschlagen, bis er irgendwann zu härteren Mitteln gegriffen hatte. Laut ihm war er damit noch ziemlich gut dran, was er später ja auch zu spüren bekommen hatte...

Alans Brust fühlte sich eng an, weshalb er hektisch den obersten Knopf seines Hemdes öffnete. Es war, als würde jemand ihn so stark umarmen, dass er nicht atmen konnte. Er atmtete schneller zum Ausgleich.

„Hey, ruhig bleiben!", hallte Kylies Stimme in seinem Kopf wider, „alles ist gut, du bist in Sicherheit. Atme jetzt langsam ein - langsamer, ja, so ist's gut - und jetzt wieder aus. Ein. Aus. Sehr gut."
Alan folgte ihrer Anweisung:
Ein, aus, ein, aus, ein, ein, aus, ein,- wo war ich?

Es hatte nicht wirklich viel gebracht, und so langsam ging sein Atmen in Hyperventilieren über, was das Zimmer sich drehen ließ.

„Na", säuselte Joe, als wäre er wieder hier, „geht es dir noch gut, ja? Dann wird's Zeit für die nächste Stufe, oder, Partner?"

Seine Finger krampften sich in die Seiten seiner Jeans, nur so konnte er seine Hände vom Zittern abhalten.
Von seinen Beinen konnte er das leider nicht sagen, sie schlotterten kraftlos, während sein Atem immer schneller wurde. Nur mit äußerster Mühe hielt er sich auf den Beinen.

Du musst dich beruhigen, sagte er sich selbst, während er sich wie mit Krallen durch die Haare fuhr. Los, schnell, trieb er sich an, bevor dich Jonathan entdeckt! Tür auf, durchs Fenster raus und weg hier!

Zitternd wie Espenlaub und schnaufend wie eine Dampflok zwang er sich zu einem Schritt auf die Tür zu. Dann noch einer.

Beeil dich!

In einer roboterartigen Bewegung hob er die Hand, streckte sie nach der Klinke aus und drückte sie runter. Laut sprang die Tür auf.

Es kam Alan vor wie damals, als Joe ihn gefunden hatte. Sein Herz schlug genauso schnell und sind Adrenalin war ungefähr so hoch wie der Wasserpegel im Keller nachdem es einen Tag lang durchgeregnet hatte. Auch damals hatte er einen Fehler gemacht und prompt hatte er ihn erwischt.

„Oh, Alan", hatte er gesagt, „du willst doch nicht schon gehen? Der Spaß fängt doch gerade erst an!"

Das war's; er konnte die Bilder, die schon die ganze Zeit von seinem inneren Auge abzuspielen drohten, nicht mehr zurückhalten. Das schadenfrohe Lachen hallte in seinen Ohren wider, die Pistole erschien erneut vor seinen Augen und vor allem war es, als nehme er wieder den metallischen Geruch von Blut wahr...

Nein, Alan konnte es nicht weiter ertragen:
er wurde ohnmächtig im Haus des Feindes.

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